Im Gespräch – Kinder- und Jugendhilfe nach Corona

Zwischen Isolation und Unterstützung: Schulsozialarbeit in Krisenzeiten

Eine Schulsozialpädagogin aus NRW berichtet im Interview über die Herausforderungen und Veränderungen ihrer Arbeit während der Corona-Pandemie. Sie spricht über Notbetreuung, digitale Kommunikationswege und die langfristigen Auswirkungen auf Schüler*innen.

18.09.2024

In unserer fünfteiligen Interviewreihe sprechen wir mit Fachkräften aus der Kinder- und Jugendhilfe, die in ihren verschiedenen Arbeitsfeldern täglich mit den Folgen der Corona-Pandemie konfrontiert sind. Es geht darum, sichtbar zu machen, wie sich Lock Downs und Social Distancing noch heute auf die tägliche Arbeit auswirken und welche Lösungsansätze es geben kann. Im negativen oder eventuell auch positiven Sinne.

Interview 3/5 – Annette G., Schulsozialpädagogin an einer Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen

Die Corona-Pandemie hat das Leben vieler Menschen auf den Kopf gestellt, besonders aber das der Schüler*innen, Eltern und Lehrkräfte. Schulschließungen, Wechselunterricht und digitale Lernplattformen wurden plötzlich Teil des Alltags. Viele Kinder und Jugendliche litten unter der Isolation, dem Mangel an sozialen Kontakten und der Unsicherheit der Situation. Psychische Belastungen nahmen zu, ebenso wie die Bildungsungleichheit, da nicht alle Familien gleichermaßen Zugang zu digitalen Möglichkeiten hatten. Die Schulen wurden zu einem zentralen Ort, an dem sich zeigte, wie wichtig soziale Interaktionen und ein stabiles Umfeld für die Entwicklung und das Wohlbefinden der Kinder sind.
Im Zentrum dieser Herausforderungen stand auch Annette G., eine erfahrene Schulsozialpädagogin an einer Gesamtschule, die in einem ausführlichen Gespräch schildert, wie sich ihre tägliche Arbeit in dieser außergewöhnlichen Zeit verändert hat. Dieses Interview gibt Einblick in die dynamische Anpassungsfähigkeit, die entscheidende Rolle der Schulsozialarbeit unter außergewöhnlichen Umständen und all die noch ausstehenden Notwendigkeiten für die Jugendhilfe. 

Frau G., vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen, um mit uns über Ihre Erfahrungen während der Corona-Pandemie zu sprechen. Welche unmittelbaren Herausforderungen mussten Sie in Ihrer Rolle als Schulsozialpädagogin bewältigen?

„Es war nicht leicht, die gesetzlichen Bestimmungen und die Bedürfnisse der Schüler*innen, Eltern und Lehrerschaft unter einen Hut zu bekommen. Gleichzeitig musste ich auch darauf achten, mich selbst zu schützen. Glücklicherweise durfte ich vor Ort in der Schule arbeiten.“

Arbeitsalltag im Wandel: Büro statt Klassenzimmer

Das klingt nach einer intensiven Zeit. Wie sah Ihr Arbeitsalltag konkret aus?

„Meine Arbeitszeit verlagerte sich stark ins Büro, und ich verbrachte viel Zeit am Telefon und am Computer. Zudem musste ich mich in digitale Arbeitsweisen einarbeiten. Konnte aber lange liegengebliebene Aufgaben, wie umfassende Konzeptarbeit, angehen. Unser Team der Schulsozialarbeit hat sehr unterschiedlich auf die Auflagen und Anforderungen reagiert. Einige Kolleg*innen haben gerne die Möglichkeit des Homeoffice genutzt; einerseits aus gesundheitlichen Gründen, andererseits wegen der Ersparnis langer Wege zur Arbeit. Die Entscheidung, ob man Kontakt mit anderen haben wollte oder nicht, fiel nicht leicht. Die Pandemie und ihre gesundheitlichen Folgen für den Einzelnen waren schwierig einzuschätzen. An anderen Schulen wurden die Schulsozialarbeitenden grundsätzlich nach Hause geschickt – unsere Schulleitung war da anders. Ich war froh drum. Ich bin so gar nicht für Homeoffice gemacht.“

Was haben Sie getan, um den Bedürfnissen der Schüler*innen und Familien während dieser ungewöhnlichen Zeit gerecht zu werden?

„Während der ersten und zweiten Phase der Pandemie haben wir uns schwerpunktmäßig um die Notbetreuung gekümmert. Zusammen mit dem Personal der Ganztagsbetreuung und einigen Lehrkräften versorgten wir bis zu 120 Schüler*innen vor Ort mit Unterricht und Pausengestaltung.“

Das alles klingt nach einer enormen logistischen Aufgabe. Hat sich während der Zeit der Kontakt zu den Lehrkräften und Eltern verändert?

„Ich habe viel mit den Eltern unserer Schüler*innen telefoniert, die Rat und Unterstützung brauchten. Es ging vor allem um die Notbetreuung, aber auch um Lerntipps, oder wenn es zuhause problematisch wurde. Der Kontakt zu den Lehrkräften war eher gering. Und als die Lehrkräfte wieder vor Ort waren, waren wir alle vorsichtig in Bezug auf Kontakte. Da war theoretisch auch wieder das persönliche Gespräch möglich, aber durch den Wegfall aller Sonderaktionen, Projekte etc. waren viele Themen, die es sonst zu besprechen gab, nicht akut.“

Vielfältige Hintergründe der Notbetreuung und psychische Belastungen während der Pandemie

Welche Schüler*innen nahmen an der Notbetreuung teil?

„Wir hatten Kinder, deren Eltern in systemrelevanten Berufen arbeiteten und keine Versorgung leisten konnten. Zudem betreuten wir Kinder, die zuhause keine Ruhe für den Online-Unterricht fanden. Auch Kinder ohne Internetzugang fanden bei uns Platz. Außerdem kümmerten wir uns um Schüler*innen höherer Jahrgänge, die zuhause nicht versorgt wurden oder alleine nicht gut lernen konnten. Einige Kinder, die es psychisch nicht aushielten, ständig zuhause zu sein, entwickelten Probleme und wurden deshalb ebenfalls von uns betreut.“

Wie haben Sie die Schüler*innen mit psychischen Problemen betreut?

„Da waren vor allem meine Kolleg*innen im Homeoffice gefordert. Es gab regelmäßige Telefonkontakte, Videotreffen, auch kurze Hausbesuche, vor allem zur Aufmunterung. Bei einigen Kids reichte es, dass sie einfach ein oder zwei Tage in der Woche in die Schule kommen konnten.“

Hausbesuche und persönlicher Kontakt: Kinder im Fokus

Wenn die Kinder nicht in den Unterricht kamen, was blieb Ihnen da noch, um Kontakt aufzunehmen?

„Wir haben Hausbesuche durchgeführt, um Kinder zu erreichen, die im Online-Unterricht nicht auftauchten. Erst versuchten die Lehrkräfte sie telefonisch zu erreichen. Wenn das nicht möglich war, dann haben wir sie zuhause besucht – das fand dann im Freien oder im Treppenhaus statt.“

Und was passierte dann bei so einem Besuch? 

„Wenn uns geöffnet wurde, haben wir versucht uns einen Einblick zu verschaffen. Wir haben uns erkundigt, ob es den Kids gut geht und den Eltern das Angebot gemacht, dass ihre Kinder in die Schule kommen können. In schweren Fällen, wenn wir den Kontakt zu den Kindern verloren haben, haben wir das Jugendamt informiert.“

Verborgene häusliche Probleme und die Schwierigkeiten der Erreichbarkeit

Gab es besondere Herausforderungen in der Zusammenarbeit mit Jugendämtern?

„Es gab weniger persönlichen Austausch und viele Netzwerkkontakte sind weggebrochen. Überhaupt gab es weniger Kontakt, weil es in der Schule kaum Probleme gab – entweder weil keine Schüler*innen da waren oder nur so wenig, dass kaum mehr Konfliktpotential gegeben war. Die meisten Kids fanden die kleinen, halbierten Klassen auch viel besser – definitiv gaben sie weniger Anlass zu Streit und die häuslichen Probleme haben wir auch seltener mitbekommen.“

Es gibt Studien, die zeigen, dass häusliche Probleme in der Corona Pandemie zugenommen haben. Worauf führen Sie es zurück, dass Sie weniger davon mitbekommen haben?

„Definitiv haben die Probleme zugenommen, aber wenn die Kids keinen schnellen Weg zu mir haben und die Eltern sich nicht melden, die Lehrer*innen die Kinder nicht live erleben, ist eine Einschätzung der Lage schwierig. Und als es wieder mit Unterricht losging, waren wir alle erstmal froh, dass es sich wieder normalisierte. Mal abgesehen von den vielen Vorschriften, die wir zu beachten hatten. Als wieder halbwegs normaler Unterricht stattfand, explodierte bei uns die Anzahl der Beratungsfälle. Nicht wenige sind aber leider auf der Strecke geblieben. Mit den Folgen der Pandemie kämpfen wir bzw. unsere Kids und Familien aber noch bis heute.“

Digital und online: Neue Wege, neue Möglichkeiten

Ich gehe davon aus, dass sich auch ihn Ihrer Schule, digitale Kommunikationswege etablieren mussten. Wie haben sich diese Veränderungen auf Ihre tägliche Arbeit ausgewirkt?

„Der Datenschutz wurde zu einem zentralen Thema. Es war chaotisch und oft unklar, über welche Kanäle Kommunikation erlaubt war. Insgesamt fand und findet viel mehr digital statt, auch die Anzahl der Online-Fortbildungen hat zugenommen. Ich nehme das zwar auch wahr, aber muss zugeben, dass man sich in unserem Beruf lieber von Angesicht zu Angesicht gegenübersitzt.“

Welche digitalen Systeme sind Ihnen erhalten geblieben? 

„Für Schüler*innen, die kein eigenes Gerät besaßen, stießen wir damals schnell an die Kapazitätsgrenze der schuleigenen Mittel. Inzwischen haben wir eine komplette Eins-zu-eins-Ausstattung. Außerdem haben wir ein Lernmanagementsystem eingeführt. Es wird immer noch genutzt und in seinen Funktionen stetig erweitert. Mir ist aufgefallen, dass sich Online-Beratungsangebote für junge Menschen vervielfacht haben.“ 

Was halten Sie vom Ausbau der Beratungsangebote?

„Online-Beratung finde ich ein gutes Angebot ergänzend zu Telefonberatung und dem persönlichen Gespräch. Da viele Kids aber so schon zu viel Zeit in der digitalen Welt verbringen, sollte es bei Zusatzangeboten bleiben – sie können das persönliche Gespräch nicht ersetzen.“

Haben sich während der Pandemie im Zusammenhang mit digitalen Anforderungen strukturelle Schwächen offenbart?

„Viele Schulen und Lehrkräfte waren digital auf dem Weg, aber noch lange nicht bereit für flächendeckenden Online-Unterricht. Das Unterrichtsmaterial hinkt hinterher, ist auch jetzt noch nicht komplett ausgereift. Die Anordnungen von oben kamen immer auf die letzte Minute – insgesamt war das ganze Land sehr verunsichert.“

Zukunft der Jugendhilfe: Prävention und Ressourcenbedarf

Welche wichtigen Lehren nehmen Sie für Ihre Arbeit aus der Corona-Krise mit?

„Die Wichtigkeit von Schule für die Entwicklung der Kinder ist insgesamt deutlicher geworden. Ich habe das Gefühl, dass vor allem die Eltern jetzt mehr Wertschätzung für das System Schule entwickelt haben. Außerdem hat die Krise gezeigt, wie stark, aber gleichzeitig labil unsere Kinder sind. Ich beobachte eine deutliche Zunahme von Ängsten bei den Kids. Ich denke, was wir wirklich brauchen, sind mehr Kinderpsychologen und Beratungsstellen, einfach insgesamt mehr Hilfsangebote für Familien. Das schließt natürlich auch meine Profession mit ein. Jede Schule sollte eine ausreichende Zahl an Schulsozialarbeitenden haben. Wir sollten auch präventiv viel mehr tun – die Hilfen nach Corona waren nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Solche Maßnahmen müssen einfach dauerhaft gefördert werden. Insgesamt brauchen wir mehr finanzielle Mittel und zusätzliches Personal in der Jugendhilfe. Das war vor und ist nach Corona so.“

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Nadine Salihi.

Link zu unserer fünfteiligen Interviewreihe

In den kommenden Wochen werden wir weitere spannende Einblicke in die Folgen der Corona-Pandemie für die Kinder- und Jugendhilfe geben. Die Interviews werden verschiedene Perspektiven umfassen und sollen einen Beitrag zur aktiven Aufarbeitung dieser kritischen Zeit leisten.

Link zur Magazinseite „Auswirkungen der Corona-Pandemie“

  • Mit einem Dossier zum Thema Mentale Gesundheit 
  • Mit aktuellen Nachrichten
  • Mit weiteren Interviews aus der Akutphase der Pandemie.

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Redaktion: Sofia Sandmann

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