Im Gespräch – Kinder- und Jugendhilfe nach Corona

Pandemie als Katalysator: Die rasche Digitalisierung der Jugendhilfe

Im Interview mit Anna Erpenbach und Rebecca Frasch, zwei Sozialarbeiterinnen von IN VIA in der Diözese Rottenburg-Stuttgart, diskutieren wir die tiefgreifenden Veränderungen, die die Pandemie auf ihre Arbeit hatte. Franziska Duarte dos Santos von IN VIA Deutschland ergänzt ihre bundesweite Perspektive.

11.09.2024

In unserer fünfteiligen Interviewreihe sprechen wir mit Fachkräften aus der Kinder- und Jugendhilfe, die in ihren verschiedenen Arbeitsfeldern täglich mit den Folgen der Corona-Pandemie konfrontiert sind. Es geht darum, sichtbar zu machen, wie sich Lock Downs und Social Distancing noch heute auf die tägliche Arbeit auswirken und welche Lösungsansätze es geben kann. Im negativen oder eventuell auch positiven Sinne.

Interview 2/5 – Anna Erpenbach und Rebecca Frasch, Sozialarbeiterinnen und Franziska Duarte dos Santos, Projektleiterin 

Die COVID-19-Pandemie hat die Digitalisierung in der Kinder- und Jugendhilfe stark beschleunigt und dabei immense Herausforderungen, aber auch neue Möglichkeiten aufgezeigt. Die plötzliche Notwendigkeit, auf digitale Formate umzusteigen, hat sowohl die Potenziale als auch die bestehenden Defizite in der digitalen Infrastruktur und Kompetenz offengelegt. Dies machte deutlich, wie entscheidend die Förderung digitaler Teilhabe für die Zukunft der Kinder- und Jugendhilfe ist.

Die Perspektiven und Anliegen der Kinder- und Jugendhilfe wurden wiederholt in die Öffentlichkeit und Politik getragen. Schon 2021 forderten verschiedene Organisationen einen „Digitalpakt Kinder- und Jugendarbeit“. Denn anders als im Schulbereich fehlt der Kinder- und Jugendhilfe der unmittelbare Zugang zu den Mitteln aus dem DigitalPakt Schule. Erst kürzlich lud die Arbeitsstelle Eigenständige Jugendpolitik – jugendgerecht.de Expert*innen aus Jugend- und Digitalpolitik ein, um gemeinsam zu beraten, wie eine jugendgerechte Entwicklung in der Digitalpolitik aussehen sollte. In diesem Rahmen entwickelte die Denkwerkstatt, unter Mitwirkung von IN VIA Deutschland, ein Papier, das zehn zentrale Handlungsbedarfe für eine ressortübergreifende Digitalpolitik im Übergangsbereich Schule – Beruf identifiziert. Diese Eckpunkte sind nicht nur für die zunehmend digitalisierte Arbeitswelt relevant, sondern auch für die Förderung der digitalen Teilhabe in der Jugendsozialarbeit insgesamt.

Um die Potenziale der Digitalisierung besser zu nutzen, hat IN VIA Deutschland eine Online-Pinnwand erstellt, die Tools und medienpädagogische Methoden enthält, die sich mit wenig Aufwand online oder in Präsenz umsetzen lassen. Zudem plant IN VIA Deutschland, im Herbst eine Handreichung zu veröffentlichen, die die Potenziale und Herausforderungen der Online-Beratung in der Jugendhilfe beleuchtet.

Wir sprechen mit drei Expertinnen von IN VIA, die ihre Erfahrungen und Perspektiven zur Digitalisierung in der Kinder- und Jugendhilfe teilen: Anna Erpenbach und Rebecca Frasch – Sozialarbeiterinnen bei IN VIA in der Diözese Rottenburg-Stuttgart sowie Franziska Duarte dos Santos – Projektleiterin des von der Glücksspirale geförderte Projekts „Di.Ko. Digitale Konzepte in der Jugendsozialarbeit“ bei IN VIA Deutschland. Sie geben Einblicke in die Herausforderungen und Erfolge der digitalen Transformation und diskutieren die langfristigen Auswirkungen der Pandemie auf ihre Arbeit.

Können Sie beschreiben, wie „digitalisiert“ Ihre Arbeit vor der Pandemie war?

Anna Erpenbach: „Vor der Pandemie hatten wir nur einen Laptop ohne VPN-Zugang und ein Diensthandy, das kaum genutzt wurde. Der Kontakt mit der Zielgruppe war hauptsächlich persönlich.“

Digitaler Wandel durch die Pandemie: Unterschiedliche Ausstattung und Defizite

Wie würden Sie heute den aktuellen Stand der Digitalisierung bei Ihrem Träger beschreiben?

Rebecca Frasch: „Es hat sich viel getan. Seit der Pandemie haben wir Smartphones für jede Schule und eine interne Arbeitshilfe für digitale Kommunikationstools. Wir nutzen Messenger-Dienste, um mit der Zielgruppe in Kontakt zu bleiben. Alle Kolleg*innen haben Dienstlaptops erhalten und Homeoffice-Vereinbarungen getroffen. Meetings werden teilweise online abgehalten und wir nutzen Online-Share Points. Zudem nehmen wir regelmäßig an Online-Tagungen teil und verwenden die Kommunikationstools der Schulen.“

Franziska Duarte dos Santos: „Dieses Beispiel zeigt, IN VIA Stuttgart hat schnell reagiert. Allerdings unterscheiden sich die Möglichkeiten, in die technische Ausstattung zu investieren, von Träger zu Träger. Viele Fachkräfte haben trotz mangelnder Infrastruktur flexibel und kreativ Wege gefunden, den Kontakt zu ihren Zielgruppen aufrechtzuerhalten.“

Sind Ihnen durch diese Veränderungen Auswirkungen auf die Zielgruppe aufgefallen?

Duarte dos Santos: „Aus der Praxis wurde uns berichtet, dass einige der Angebote – die aus der Not entstanden sind – eher zu den Bedarfen der Jugendlichen passten. Es gab neue digitale Kommunikationskanäle, aber auch die zeitliche Verfügbarkeit gestaltete sich flexibler.“

Was denken Sie, wie sieht die ideale technische Ausstattung für die Kinder- und Jugendhilfe aus?

Frasch: „Neben einem festen Arbeitsplatz ist ein Laptop hilfreich, um möglichst viel Flexibilität zu erhalten. Zudem ermöglicht ein Diensthandy mit Messenger-Dienst einen niederschwelligen Kontakt zu Klient*innen.“

Duarte dos Santos: „Wünschenswert wäre zudem, dass alle Einrichtungen digitale Lernwerkstätten oder Makerspaces besuchen können, um kreativ mit Technik zu arbeiten. Diese fördern die Selbstwirksamkeit und Technikkompetenz von Jugendlichen und Fachkräften.“

Grenzen der digitalen Ansätze: Balance zwischen on- und offline

Welche Vor- und Nachteile sehen Sie insgesamt in der beschleunigten Digitalisierung?

Frasch: „Die Digitalisierung bietet viele Vorteile: Homeoffice, Zeit- und Kostenersparnis bei Fortbildungen, leichterer Austausch im Team, schnellere Rückmeldungen von Klient*innen und Lehrkräften. Nachteile sind weniger persönlicher Kontakt und die ständige Verfügbarkeit mit der Erwartung, sofort zu reagieren. Bei Jugendlichen sehen wir Nachteile in der Vereinsamung und dem exzessiven Konsum sozialer Medien, aber auch Vorteile, da manche Schüler*innen durch die Kommunikationstools leichter erreichbar sind.“

Gibt es Beispiele, wo digitale Ansätze nicht den gewünschten Nutzen gebracht haben?

Frasch: „Die Online-Sprechstunde während der Pandemie wurde nicht gut angenommen. Zudem waren die Online-Workshops zwar methodisch besser umsetzbar, als wir zu Beginn selbst dachten, aber die Interaktion mit den Schüler*innen war schwieriger, da viele ihre Kameras nicht einschalteten. Man wusste oft nicht, wer wirklich da war.“

Würden Sie sagen, hier sind traditionelle Ansätze effektiver als digitale?

Erpenbach: „Ja, direkte Beratungskontakte und Präsenz-Workshops waren effektiver als Videoberatungen und Online-Workshops, besonders bei geringen Sprachkenntnissen und bei der Hilfe beim Ausfüllen von Dokumenten. Uns ist außerdem aufgefallen, dass die Interaktion in Präsenz-Workshops deutlich leichter fällt.“

Wie könnte eine ausgewogene Nutzung von digitalen und nicht-digitalen Ansätzen aussehen?

Erpenbach: „Es braucht für die Zielgruppe mehrere Kontaktmöglichkeiten zu uns Fachkräften, sowohl digital als auch persönlich. Jugendliche, die lieber schreiben, können über die schulischen Kommunikationstools Kontakt aufnehmen, während andere persönliche Beratungsgespräche in unseren Büros wahrnehmen können. Und diese Angebote sollten sowohl online als auch offline beworben werden.“

Überwindung digitaler Ungleichheit: Kompetenzen für die Zukunft

Bei der radikalen Umstellung auf digitale Angebote: wie medienkompetent haben Sie die Jugendlichen wahrgenommen?

Duarte dos Santos: „Technische Ausstattung ist entscheidend für den Ausbau digitaler Kompetenzen. Viele Jugendliche haben vielleicht ein Smartphone, aber keinen PC oder eine stabile Internetverbindung. Was digitale Ungleichheit bedeutet, ist durch die Erfahrungen in der Pandemie ins öffentliche Bewusstsein gerückt.“

Frasch: „Viele Jugendliche waren zwar sehr fit in der Nutzung von WhatsApp, Tiktok, Snapchat oder Instagram am Handy, hatten aber große Lücken bei der Nutzung von Laptops und wenig Erfahrung mit Programmen wie z. B. Word. Aus meiner Sicht wurden die Jugendlichen überschätzt, weil man davon ausgegangen ist, dass diese digitalisierte Generation medienkompetent ist. Ihre digitalen Kompetenzen beschränkten sich jedoch häufig auf die Nutzung sozialer Medien und bestimmter Apps. Deshalb ist die Förderung der Medienkompetenz und der richtige Umgang mit digitalen Medien essenziell.“

Duarte dos Santos: „Sozialarbeiter*innen sind wichtig, um junge Menschen hier zu unterstützen. Darüber hinaus können Peer-to-Peer-Ansätze oder generationsübergreifende Konzepte helfen. Diese Begegnungen sind für alle Seiten bereichernd.“

Kinder und Jugendliche sind seit der Pandemie stark belastet. Kann noch etwas getan werden, um das Wohlbefinden junger Menschen auf digitalem Wege zu stärken?

Frasch: „Viele Kinder und Jugendliche fühlen sich seit der Pandemie und den weiteren aktuellen Krisen sehr belastet. Es ist wichtig, sie darin zu unterstützen, ihre eigenen Emotionen besser zu verstehen. Es braucht niederschwellige Hilfen bei Belastungen, an die sich Kinder und Jugendliche wenden können, etwa die Hilfe-App „Between the Lines“. Mit der kostenlosen App finden junge Menschen z. B. auch Hilfsangebote in der Nähe. Die Isolation während der Pandemie hat dazu geführt, dass sozialen Beziehungen gelitten haben. Kinder und Jugendliche haben teilweise verlernt, wie man soziale Beziehungen aufbaut und pflegt. Die Jugendhilfe sollte deshalb auch Angebote fördern, in denen junge Menschen mit Peers in Kontakt kommen können.“

Stärkung der Fachkräfte: Weiterbildungen als Schlüssel

Sollten Fachkräfte Ihre digitalen Kompetenzen erweitern? Und wenn ja, wie können diese gestärkt werden?

Erpenbach: „Mitarbeitende sollten regelmäßige entsprechende Schulungen besuchen und Studierende sollten mehr Medienkompetenz-Angebote erhalten. Digitale Teilhabe ist in einer zunehmend digitalisierten Welt eine wichtige Kompetenz für gesellschaftliche Teilhabe und somit auch eine zentrale Aufgabe der Sozialen Arbeit.“

Duarte dos Santos: „Ja, das sehe ich auch so. Einrichtungen sollten zwei Strategien verfolgen: kurze, selbstorganisierte Fortbildungseinheiten für den niedrigschwelligen Austausch und externe formale Weiterbildungsangebote und Kooperationen mit Hochschuleinrichtungen. Im Netzwerk der BAG KJS gibt es beispielsweise eine Kooperation zwischen der TH Köln, dem Kolpingwerk Deutschland und der IN VIA Akademie, bei der Studierende in Einrichtungen der Jugendsozialarbeit Digitalisierungsprojekte erarbeiten. Fachkräfte erhalten so Impulse von außen und erproben wissenschaftlich gestützte, digitale Ansätze – und das individuell auf ihre Bedarfe zugeschnitten.“

Erpenbach: „Wir haben an der Kooperation mit der TH Köln teilgenommen und mit zwei Studierenden einen Workshop mit medienpädagogischem Baustein geplant und durchgeführt - das Thema des Workshops war „Resilienz“.“

Zusammenarbeit mit Hochschulen: Externe Impulse für die Praxis

Was sind die Hauptbarrieren für die Digitalisierung in der Kinder- und Jugendhilfe?

Erpenbach: „Eine Hauptbarriere bei Mitarbeitenden ist die oft mangelnde Offenheit, neue Apps kennenzulernen. Zusätzlich werden die Träger von komplizierten Datenschutzbestimmungen ausgebremst. Die Ressourcen sind knapp und es besteht die Sorge, Fehler zu machen. Dann wird lieber „nichts“ getan. Mehr Austausch zur Nutzung digitaler Medien könnte Ressourcen sparen. Digitalisierung muss auch von der Leitung gewünscht werden, um nachhaltige Schritte zu gehen.“

Duarte dos Santos: „Es fehlt eine langfristig orientierte Förderstruktur. Einmalige Modellprojekte bieten Potenziale, aber nachhaltige Umsetzungen erfordern deutlich mehr. Fachkräfte sollten sich fortlaufend zu bestimmten Tools und medienpädagogischen Methoden weiterbilden. Es braucht eine gute Ausstattung – materiell, finanziell und zeitlich. Und: eine konstruktive Fehlerkultur in Einrichtungen ist ebenso wichtig.“

Kooperation zwischen Systemen: Jugendhilfe und Schule gemeinsam stark

Auf welche Weise können die Erkenntnisse aus der Pandemie genutzt werden?

Duarte dos Santos: „In der Pandemie konnten wir Fortschritte in der Zusammenarbeit zwischen Jugendhilfe- und Schulsystem beobachten. Ich hoffe, dass daraus wichtige Lehren für träger- und ressortübergreifende Zusammenarbeit gezogen werden. Die Erfahrungen in der Pandemie haben in der Jugendsozialarbeit Reflexionsprozesse angeregt, die dazu führen, dass Fachkräfte ihre Methodiken und Rollen hinterfragen und flexibel bleiben, was in Krisen wichtig ist.“

Politische Unterstützung: Für eine krisenfeste und zukunftsorientierte Jugendhilfe

Wenn Sie in die Zukunft blicken, was sind die dringendsten Maßnahmen, die ergriffen werden müssen, um die Jugendhilfe langfristig zu stärken?

Duarte dos Santos: „Die Erfahrungen während der Pandemie haben gezeigt, dass es einer besseren Förderung digitaler Teilhabe und einer langfristig orientierten Digitalpolitik bedarf, um die Jugendhilfe krisenfest und zukunftsorientiert zu gestalten. Durch gezielte Maßnahmen und eine verstärkte Zusammenarbeit auf politischer Ebene kann so dauerhaft die Resilienz der Jugendhilfe gestärkt werden.“

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Nadine Salihi.

Link zu unserer fünfteiligen Interviewreihe

In den kommenden Wochen werden wir weitere spannende Einblicke in die Folgen der Corona-Pandemie für die Kinder- und Jugendhilfe geben. Die Interviews werden verschiedene Perspektiven umfassen und sollen einen Beitrag zur aktiven Aufarbeitung dieser kritischen Zeit leisten.

Link zur Magazinseite „Auswirkungen der Corona-Pandemie“

  • Mit einem Dossier zum Thema Mentale Gesundheit 
  • Mit aktuellen Nachrichten
  • Mit weiteren Interviews aus der Akutphase der Pandemie.

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Redaktion: Sofia Sandmann

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