Im Gespräch – Kinder- und Jugendhilfe nach Corona

Innovative Hochschulbildung: Herausforderungen der Pandemie wurden zu Chancen

Davina Höblich, Professorin für Soziale Arbeit, spricht in diesem Interview über die Herausforderungen und Chancen der Ausbildung von Fachkräften während der Pandemie.

05.09.2024

In unserer fünfteiligen Interviewreihe sprechen wir mit Fachkräften aus der Kinder- und Jugendhilfe, die in ihren verschiedenen Arbeitsfeldern täglich mit den Folgen der Corona-Pandemie konfrontiert sind. Es geht darum, sichtbar zu machen, wie sich Lock Downs und Social Distancing noch heute auf die tägliche Arbeit auswirken und welche Lösungsansätze es geben kann. Im negativen oder eventuell auch positiven Sinne.

Interview 1/5 – Davina Höblich, Professorin für Soziale Arbeit an der Hochschule RheinMain

Die Pandemie hat das Bildungssystem weltweit vor große Herausforderungen gestellt. Studien zeigen, dass die Mehrheit der Hochschulen im Sommersemester 2020 den Lehrbetrieb auf digitale Formate umstellen musste. Dies brachte erhebliche Herausforderungen und Veränderungen mit sich. Es kam zu kreativen Lösungen und neuen Kompetenzen, die Lehrende und Studierende in dieser Zeit entwickelten. Die Umstellung auf digitale Lehrmethoden bot sowohl Chancen als auch Schwierigkeiten, die langfristige Auswirkungen auf die Hochschulbildung haben werden. Davina Höblich, Professorin für Soziale Arbeit an der Hochschule RheinMain, war bereits vor der Krise im Bereich der Online-Lehre aktiv. In einem ausführlichen Interview berichtet sie über die Transformation der Lehre während der Pandemie, die Herausforderungen und Chancen der digitalen Lehrformate und die langfristigen Auswirkungen auf die Ausbildung von Fachkräften.

Frau Höblich, bitte stellen Sie sich kurz vor und erzählen Sie uns, welche Rolle Sie während der Pandemie hatten und welche Aufgaben Sie heute haben. 

„Gerne, ich bin seit 2011 Professorin für Soziale Arbeit an der Hochschule Rhein-Main in Wiesbaden. Ich habe mich damals auf diese Professur beworben, ohne zu wissen, dass es sich um einen berufsbegleitenden Studiengang handelt, in dem 75 Prozent der Module online angeboten werden und 25 Prozent als klassische Präsenzveranstaltungen stattfinden. Anfangs konnte ich mir das überhaupt nicht vorstellen. Lehre, ohne die Studierenden jemals zu sehen, schien mir unmöglich. Aber ich stellte schnell fest, dass asynchrone Online-Lehre ein sinnvolles Lehrformat darstellt und mir großen Spaß macht. Am Ende musste ich meine anfängliche Skepsis gegenüber Online-Lehre zurücknehmen. Das war mein Weg in eine Lehrform, die während der Pandemie besonders wertvoll war, da ich und meine Kolleginnen bereits viel Vorerfahrung hatten.“

Digitale Transformation der Lehre: Herausforderungen und Lösungen

Wie hat die Pandemie in Ihrem Fall die Ausbildung von Fachkräften beeinflusst?

„In unserem Studiengang waren zwar drei Viertel der Lehre online und asynchron. Doch die Präsenzwochenenden, die eine wichtige Rolle spielten, fielen aus. Diese Wochenenden sind entscheidend für den Zusammenhalt und die Gemeinschaft der Studierenden, die oft aus ganz Deutschland anreisen. Das war nicht mehr möglich, und wir mussten auf ganztägige synchrone Online-Lehre über Video-Konferenz-Tools umsteigen. Das war sehr anstrengend und hat den Studierenden stark zugesetzt. Wir haben versucht, informelle Räume zu schaffen, wie gemeinsame Mittagspausen in Breakout-Räumen und abendliche Treffen über Zoom oder Webex, um den sozialen Austausch zu fördern.“

Welche Anpassungen waren notwendig, um ganztägige Online-Lehre sinnvoll zu gestalten?

„Die Herausforderung war, dass ein achtstündiger Online-Block anders geplant werden muss. Gemeinsame Dokumenterstellung und Ähnliches ist online einfacher, doch das haptische Erlebnis fehlt. Wir haben auch gelernt, dass die Studierenden und wir als Lehrende uns an diese neue Lehrform anpassen mussten. Als wir versucht haben, unsere Vorerfahrung eins zu eins auf andere Studiengänge zu transferieren, war das gar nicht so einfach. Ich habe das auch unterschätzt. Wir haben an unserer Hochschule eine kleine Taskforce gegründet und mussten oft sehr spontan reagieren – wenn z. B. ein neuer Lockdown angekündigt wurden – dann haben wir bis in die Nacht Seminarpläne entwickelt, Videokonferenztools ausprobiert usw. Viele Kolleginnen hatten keine Erfahrung mit Online-Lehre oder waren sehr skeptisch und mussten erst Vertrauen entwickeln und sich Kenntnisse aneignen. Wir haben versucht, sie mit Anleitungen und To-Do-Listen zu unterstützen. Die Umarbeitung von Präsenzkursen zu Online-Angeboten war oft sehr aufwendig. Ein Seminarplan, der vorher zwei DIN-A4-Seiten umfasste, war dann auch mal 10 Seiten lang, um die wöchentlichen Lernziele, Aufgaben und Kommunikationswege klar zu definieren.“

Wie haben Online-Tools die Zusammenarbeit an der Hochschule verändert?

„Wir haben festgestellt, dass die Nutzung von Online-Tools und Plattformen die Kommunikation und Zusammenarbeit größtenteils erleichtert. Meetings und Besprechungen können effizienter durchgeführt werden, und die Studierenden haben mehr Möglichkeiten, sich untereinander zu vernetzen und zusammenzuarbeiten. Es kommt immer auf den Kontext an – es gibt natürlich auch Prozesse, die in Präsenz effizienter sind. Wenn wir z. B. Inhalte eines Studiengangs entwickeln, dann geht das besser, wenn man vier, fünf Professor*innen für ein paar Stunden in einen Raum mit Metaplanwänden setzt.“

Gab es Studierende, die ihr Studium wegen der Umstellung auf digitale Formate abgebrochen haben?

„Ja, einige Studierende haben das Studium abgebrochen, weil sie sich alleingelassen fühlten. Auch Kolleg*innen waren unzufrieden, weil sie keine Erfahrung mit Online-Lehre hatten und nicht wussten, wie sie damit umgehen sollten. Es fehlte teilweise an aktiver Betreuung in digitalen Formaten. Wir mussten viel umdenken und uns gegenseitig unterstützen, damit die Lehre weiterhin qualitativ hochwertig blieb.“

Neue Kompetenzen: Fähigkeiten der Studierenden und Lehrenden

Welche positiven Effekte haben sich aus der Corona-Zeit ergeben?

„Wir haben gelernt, wie wir Online-Tools effizient nutzen können. Die Pandemie hat uns gezeigt, dass wir flexibel und anpassungsfähig sein müssen. Und Studierende, die berufsbegleitend studieren oder Care-Verantwortung haben, profitieren von der zunehmenden Flexibilität durch digitale Formate.“

Welche Kompetenzen haben die Studierenden in dieser Zeit erworben?

„Die Studierenden haben gelernt, wie sie auch unabhängig von der Hochschule soziale Medien und Online-Tools nutzen können. Sie arbeiten eigenständiger und selbstorganisierter. Die Studierenden der Präsenzstudiengänge haben sich Skills angeeignet, die vorher den Blended Learning  Studiengänge vorbehalten waren. Sie mussten sich an neue Lernformate gewöhnen und haben dabei wichtige Fähigkeiten entwickelt, die ihnen auch in ihrer beruflichen Zukunft zugutekommen werden und die auch in der Sozialen Arbeit, in den Angeboten und der Zusammenarbeit mir den Adressat*innen ein zunehmende Rolle spielen.“ 

Und wie sieht es bei Ihren Kolleg*innen aus?

„Vor der Pandemie haben nicht alle Kolleg: innen in Online- oder Blended-Learning-Formaten gerabeitet. Ich würde schon sagen, dass wir im Kollegium insgesamt mehr Kompetenzen in der Online-Lehre aufgebaut haben und auch die Skepsis gegenüber digitalen Formaten ein bisschen gesunken ist.“

Praxisorientierte Ausbildung in der Pandemie: Innovative Lösungen

Gab es besondere Herausforderungen bei der praktischen Ausbildung der Studierenden während der Pandemie?

„Ja, das war tatsächlich sehr schwierig. In der Sozialen Arbeit sind die Praxisentwicklungsprojekte ein wichtiger Bestandteil der Ausbildung. Normalerweise führen wir Veranstaltungen und Projekte in der Praxis durch, was während der Pandemie nicht möglich war.“ 

Haben Sie hierfür ein Beispiel? 

„Ein Beispiel ist ein Forschungsprojekt namens "Urban Hacking". Dabei gestalten wir sozialräumliche Interventionen im urbanen Raum durch künstlerische und ästhetische Praktiken, wie Walking Acts oder öffentliche Plakataktionen. Die Studierenden hatten tolle Ideen, aber dann kam der Lockdown. Deshalb verlagerten sie ihre Projekte ins Internet und starteten Kampagnen auf Plattformen wie Instagram, um auf Rassismus aufmerksam zu machen. Ich habe gedacht, wow, Krisen schaffen auch wirklich nochmal neue Ideen. Ich denke, das sind auch Skills, die sie später auch als Fachkräfte in der Praxis benötigen, wenn sie Angebote bekannt machen wollen, zum Beispiel.“

Steigende Qualität der Lehre: Normalität 2.0

Wie beurteilen Sie die Qualität der Lehre nach diesen Veränderungen?

„Ich glaube, dass die Qualität insgesamt gestiegen ist. Nur nicht am Anfang, weil wir eher in der Bewältigung waren und einfach nur funktionieren mussten. Während der Pandemie waren wir gezwungen, schnell zu reagieren und neue Wege zu finden. Das war nicht immer einfach, aber wir haben viel gelernt. Einige Lehrende und Studierende waren frustriert. Also ich glaube, dieses Lebensgefühl, Studierende zu sein, das hat sich bei einigen so nicht eingestellt. Und das gehört ja auch zur Post-Adoleszenz dazu. Aber viele haben auch erkannt, dass eine Mischung aus Online- und Präsenzlehre Vorteile bietet. Wir haben neue Kompetenzen entwickelt und die Tools, die wir während der Pandemie genutzt haben, bleiben uns erhalten. Für viele Studierende hat sich die Vereinbarkeit von Studium und Alltag verbessert.“

Haben Sie das Gefühl, dass Ihre Hochschule wieder zur Normalität zurückgekehrt ist?

„Ich würde sagen, wir sind in der Normalität 2.0 angekommen. Die Pandemie hat uns gelehrt, dass solche Situationen jederzeit wieder auftreten können. Auch wenn einige Lehrende und Studierende froh sind, wieder zur Präsenzlehre zurückkehren zu können, nutzen wir weiterhin die Vorteile der Online-Tools. Wir sollten auch die Chancen nutzen, die sich durch neue Technologien und Methoden bieten. Künstliche Intelligenz, virtuelle Realität und andere Technologien können die Lehre und Forschung bereichern und neue Möglichkeiten eröffnen. Es ist wichtig, dass wir diese Technologien sinnvoll und effektiv einsetzen, um den Lernerfolg unserer Studierenden zu fördern. Wir versuchen, das Beste aus den Erfahrungen während der Pandemie zusammenzupacken mit dem, was wir vorher auch schon gut fanden.“

Strukturelle Schwächen und zukünftige Herausforderungen: IT-Ausstattung und Personal

Welche strukturellen Schwächen wurden durch die Pandemie sichtbar?

„Ein wichtiger Punkt ist die IT-Ausstattung an Hochschulen. Die Pandemie hat deutlich gemacht, dass wir in diesem Bereich besser aufgestellt sein müssen. Es braucht sichere Cloud-Systeme, gute Software und Support. Wir dürfen nicht wieder zu kostenfreien, aber unzureichenden Lösungen zurückkehren. IT ist genauso wichtig wie die Raumausstattung und sollte professionell und zuverlässig sein. Das ist entscheidend für die Qualität der Lehre und Forschung. Die Hochschulen müssen hier investieren und sicherstellen, dass die nötige Infrastruktur vorhanden ist. Dies ist besonders wichtig, da wir in ein neues Zeitalter mit Künstlicher Intelligenz eintreten. Wir dürfen nicht zurückfallen, sondern müssen uns kontinuierlich verbessern.“

Sehen Sie weitere Handlungsbedarfe für die Zukunft?

„Ein weiteres wichtiges Thema ist die hybride Lehre . Wir haben nun mehrere Räume eingerichtet, die für hybride Lehrformate geeignet sind. Dieses Format ist äußerst anspruchsvoll und erfordert meiner Meinung nach Teamteaching mit zwei Lehrenden. Man dachte, es sei problemlos möglich, einfach Teilnehmer*innen online zuzuschalten. Aber es braucht dafür eine zusätzliche Lehrkraft, die den Chat moderiert und die Online-Gruppe im Blick hat. Bei weniger interaktiven Vorlesungen mag das anders sein, aber in seminaristischen Formaten ist es äußerst anspruchsvoll. Daher sind die Ressourcenfragen – finanziell, personell und materiell – am Ende für mich entscheidend, um digitale oder hybride Formate erfolgreich umzusetzen.“

Langfristige Effekte: Teamarbeit und Innovationsgeist nutzen

Denken Sie, dass die positiven Effekte langfristig Bestand haben werden?

„Es war eine herausfordernde Zeit, aber wir haben gemeinsam viel erreicht. Ich bin stolz auf die Kreativität und den Einsatz, den alle gezeigt haben. Ich ermutige alle, die positiven Erfahrungen und Erkenntnisse, die wir gewonnen haben, weiter zu nutzen und sich auch in Zukunft offen für neue Ideen und Methoden zu sein. Gemeinsam können wir die Lehre und Forschung an unserer Hochschule weiter voranbringen. Während der Pandemie haben wir eng zusammengearbeitet, um Lösungen zu finden und uns gegenseitig zu unterstützen. Diese Zusammenarbeit hat uns als Team gestärkt und wird uns auch in zukünftigen Herausforderungen helfen.“

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Nadine Salihi.

Link zu unserer fünfteiligen Interviewreihe

In den kommenden Wochen werden wir weitere spannende Einblicke in die Folgen der Corona-Pandemie für die Kinder- und Jugendhilfe geben. Die Interviews werden verschiedene Perspektiven umfassen und sollen einen Beitrag zur aktiven Aufarbeitung dieser kritischen Zeit leisten.

Link zur Magazinseite „Auswirkungen der Corona-Pandemie“

  • Mit einem Dossier zum Thema Mentale Gesundheit 
  • Mit aktuellen Nachrichten
  • Mit weiteren Interviews aus der Akutphase der Pandemie.

Abonnieren Sie unseren Newsletter und folgen Sie uns auf Instagram, um keine Nachrichten zu Entwicklungen und Aktivitäten im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe zu verpassen.

Redaktion: Sofia Sandmann

Back to Top