Schüler*innenperspektiven

„Über aktuellen Antisemitismus haben wir eigentlich nie groß geredet…“.

Zunehmender Antisemitismus und Verschwörungsdenken in vielen Bereichen der Gesellschaft stellen politische Bildungsarbeit vor neue Herausforderungen. Damit stellen sich auch die Fragen, inwiefern antisemitische Verschwörungserzählungen im Handlungsfeld Schule auftauchen und welche Schlussfolgerungen sich daraus für die politische Bildungspraxis ableiten lassen.

12.09.2024

Bei der Durchführung und qualitativen Auswertung von 17 Gruppendiskussionen mit Schüler*innen an weiterführenden Schulen im Köln-Bonner Raum kam das Forscher*innenteam im Rahmen einer Kooperation der Universität zu Köln, der TH Köln sowie der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit e.V. zu dem Ergebnis, dass es sehr heterogene Begriffsverständnisse von Verschwörungserzählungen bzw. Verschwörungsdenken und Antisemitismus unter den Schüller*innen gibt und dass deren Umgang mit diesen Themen stark von Prozessen der Entpolitisierung, Individualisierung und Historisierung geprägt ist.

Schüler*innenperspektiven auf Antisemitismus und Verschwörungstheorien

Infolge des Terrorangriffs der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und die daran anschließende Bodenoffensive des israelischen Militärs im Gazastreifen, kam es national und international zu starken Reaktionen und kontroversen Debatten in den Zivilgesellschaften und im Bildungssystem. Auch im Bundesgebiet ist es seit dem 7. Oktober zu einer starken Zunahme von Antisemitismus sowie einer erneuten Konjunktur von Verschwörungsdenken gekommen (Kirchhof / Kroll / Hentges 2024: 79). Auch wenn die Erhebung und Auswertung der Daten im Jahr 2022 vor einem anderen Hintergrund erfolgte, lassen sich so auch entsprechende Schlussfolgerungen für diesen aktuellen Kontext ableiten.

Forschungsinteresse

Das Forschungsvorhaben ist eingebettet in das Theorie-Praxis-Projekt „Digitale Politische Bildung als Konsequenz aus der Corona-Krise“ (DiPolBAs), das sich schwerpunktmäßig mit diesen Entwicklungen auseinandersetzt. „Anknüpfend daran beschäftigt sich das gemeinsame Theorie-Praxis-Projekt mit der Entwicklung digitaler politischer Bildungsmaterialien, welche (antisemitische) Verschwörungsideologien und den Umgang mit diesen thematisieren. Diese Materialien werden für die formale und non-formale Bildung entwickelt“ (siehe Kirchhof / Kroll / Loske / Holzmüller 2024). Aus diesem Anlass ging das Verbundprojekt, unter der Leitung von Prof.in Dr.in Gudrun Hentges und Prof.in Dr.in Birgit Jagusch, der Frage nach, „inwiefern sich (antisemitische) Verschwörungserzählungen im Handlungsfeld Schule finden lassen und welche Erkenntnisse sich daraus für die politische Bildung gegen Verschwörungsdenken und die antisemitismuskritische Bildungsarbeit ableiten lassen“ (Kirchhof / Kroll / Hentges 2024: 79). Durch die enge Kooperation zwischen den beiden Hochschulen und der Kölnischen Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit erhofft man sich, sowohl die Kontexte der schulischen als auch der außerschulischen Bildung zu berücksichtigen und miteinander zu verknüpfen. Gefördert wird das Verbundprojekt durch die RheinEnergieStiftung Jugend/Beruf, Wissenschaft und die Bundeszentrale für politische Bildung (Laufzeit vom 1. Mai 2022 bis zum 30. April 2024).

Studiendesign und Teilnehmende

Laut Autor*innen ist das Themenfeld rund um Schüler*innenperspektiven auf Antisemitismus und Verschwörungstheorien bislang wenig erforscht. Die Notwendigkeit einer entsprechenden Beforschung sowie die Darstellung ihrer Forschungsergebnisse basieren auf der Bedarfsanalyse des DiPolBAs) Verbundprojekts. Mitwirkende des DiPolBAs Projekts sind die Universität zu Köln, die Technische Hochschule zu Köln sowie die Kölnische Gesellschaft für Christlich-Jüdische-Zusammenarbeit e.V. Im Rahmen von DiPolBAs wurden im Herbst und Winter 2022 unter anderem 17 Gruppendiskussionen mit Schüler*innen an weiterführenden Schulen (Gesamt-, Haupt-, Realschulen, Gymnasien und Berufskollegs) in westdeutschen Großstädten durchgeführt (a.a.O.: 79). Die Diskussionen wurden mithilfe eines Leitfadens geführt, um gezielt die „Wahrnehmung von Verschwörungstheorien und Antisemitismus im Alltag, das je individuelle Verständnis der Schüler*innen sowie die Behandlung der Phänomene im Unterricht“ (a.a.O.: 79) erheben zu können. Die Auswertung erfolgte mittels einer qualitativen Inhaltsanalyse. Das Forschungsprojekt wurde von der Rhein Energie Stiftung und der Bundeszentrale für politische Bildung gefördert. 

Ergebnisse

Verschwörungstheorien und politische Bildung
Kirchhof, Kroll und Hentges stellen zunächst fest, dass es den Jugendlichen schwerfällt, den Begriff der „Verschwörungstheorie“ genau zu definieren, dass dieser aber eindeutig negativ konnotiert ist. So verbindet ein Großteil der Jugendlichen mit Verschwörungstheorien etwa „Prominente und Fantasiewelten“ (a.a.O.: 79) und „eher selten Beispiele, die einen explizit antisemitischen, rassistischen, antifeministischen oder rechtsextremen Inhalt aufweisen“ (a.a.O.: 79).

Laut Autor*innen deuten die Ergebnisse insgesamt darauf hin, „dass gesellschaftliche und politische Ursachen kaum gesehen werden“ (a.a.O.: 80). Das skizzierte Verständnis von Verschwörungstheorien könne als Tendenz zur Entpolitisierung des Verschwörungsdenkens sowie als Individualisierung und Psychologisierung des Phänomens begriffen werden. In den Gruppendiskussionen stellte sich zudem heraus, dass die Konfrontation mit Verschwörungstheorien für viele Jugendliche zum Alltag gehöre, dabei Verschwörungstheorien als Lerngegenstand jedoch nicht im Curriculum verankert seien. Dementsprechend habe bei den meisten Schüler*innen bislang keine explizite Behandlung des Themas im Unterricht stattgefunden. Mögliche Anknüpfungspunkte für Unterrichtsfächer wie Politik, Gesellschaftslehre oder Sozialwissenschaften würden sich etwa im Kontext von Themenfeldern wie „Rechtsextremismus“ oder unter dem Kernlehrplan-Inhaltsfeld „Sicherung und Weitentwicklung der Demokratie“ eröffnen (a.a.O.: 80). Die Auswertung der Gruppendiskussionen zeige dabei deutlich, dass der Unterricht zwar stellenweise die Gelegenheit zur Thematisierung von Verschwörungstheorien bietet, die Schüler*innen aber nicht den Eindruck haben, eigene Themen in den Unterricht einbringen zu können – der Alltag in der Schule werde als fremdbestimmt und undemokratisch wahrgenommen (a.a.O.: 80). Aus der Perspektive von Kirchhof, Kroll und Hentges „konterkariert bereits die Erfahrung mangelnder demokratischer Mitsprache die Vermittlung demokratischer Ideale und entsprechender Bildungsinhalte“ (a.a.O.: 80). Diese Situation sei für die politische Bildung gegen Verschwörungsdenken umso problematischer, da „das Gefühl mangelnder Wirkungsmacht und Erfahrungen fehlender Partizipation in gesellschaftlichen Institutionen wie der Schule auch durch den Glauben an Verschwörungstheorien kompensiert werden können“ (a.a.O.: 80).

Kirchhof, Kroll und Hentges formulieren auf Grundlage dieser Befunde verschiedene didaktische Konzeptionen und Handlungsempfehlungen, welche die von den Autor*innen attestierten Gefahren der Psychologisierung und der Individualisierung antizipieren und auch selbstreflexive Perspektiven einschließen sollten.

Perspektiven auf Antisemitismus und didaktische Implikationen
Die Forscher*innen konnten im Rahmen der Gruppendiskussionen herausfinden, dass die Teilnehmer*innen „äußerst heterogene Vorstellungen von Antisemitismus zeigten“ (a.a.O.: 81), wobei „psychische Krisen und Strategien der Selbsterhöhung als mögliche Gründe herangezogen werden“ (a.a.O.: 81). Zentrale Elemente von Antisemitismus als umfassende Ideologie (Salzborn, 2010) würden allerdings nicht genannt. In einer beispielhaften Aussage aus den Gruppendiskussionen zeigt sich, dass das Thema Antisemitismus von den Befragten vielmehr mit Irrationalität und diffusen Vorstellungen verbunden wird: „Das ganze Konstrukt von Diskriminierung, Rassismus und auch eben Antisemitismus [hat] ja eigentlich auch nicht den Ansatz […] irgendwie Sinn zu machen. Man sieht sich selbst in einer privilegierteren Position und macht dann andere irgendwie runter“ (a.a.O.: 81).

Die Ergebnisse der Autor*innen machen jedoch auch deutlich, dass sich alle Teilnehmer*innen der Gruppendiskussionen in der klar negativen Bewertung und Sanktionierung von Antisemitismus einig sind. Antisemitismus werde dabei „häufig in der Vergangenheit verortet […], mit Verweis auf die deutsche Geschichte begründet […] damit historisiert oder aber auf Dritte […] verlagert“ (a.a.O.: 81 f.) Alltägliche Erscheinungsformen von Antisemitismus und israelbezogener Antisemitismus würden in den Hintergrund treten, „da eine systematische Behandlung aktueller Erscheinungsformen im Unterricht kaum stattfindet“ (a.a.O.: 82). Die meisten Schüler*innen gaben an, Antisemitismus ausschließlich im Geschichtsunterricht im Kontext des Nationalsozialismus behandelt zu haben, wobei der Schwerpunkt auf der historischen Dimension von Antisemitismus gelegen habe (a.a.O.: 82).

Als Aufgabe für die politische Bildungspraxis formulieren Kirchhof, Kroll und Hentges die Notwendigkeit, das Prinzip der Subjektorientierung ernst zu nehmen, dabei „emotionale Dynamiken zu berücksichtigen und über die Struktur und Funktion antisemitischer Ideologeme aufzuklären“ (a.a.O.: 82).

Fazit und Ausblick

Auf der Grundlage ihrer Forschungsergebnisse verweisen die Autor*innen auf einige zukünftige Aufgaben für antisemitismuskritische Bildungsarbeit. So müsse für die Bildungsarbeit gegen Verschwörungsdenken eine eigenständige Diskussion und Verständigung über (spezifische) Gelingensbedingungen, Qualitätsmerkmale, Leitlinien und didaktische Zugänge erfolgen (a.a.O.: 82). Zudem sei der Forschungsstand rund um das didaktische Prinzip der Subjektorientierung weiter auszubauen. Die vorliegende Studie könne hier erste Hinweise für eine subjektorientierte Bildungsarbeit liefern, „die von den (alltäglichen) Erfahrungen, Perspektiven und Vorstellungen der Lernenden ausgeht, diese als Anknüpfungspunkt nutzt, aber auch kritisch hinterfragt und die Möglichkeiten der Selbstreflexion eröffnet“ (a.a.O.: 82). Kirchhof, Kroll und Hentges weisen zudem darauf hin, dass selbstreflexive und biographische Zugänge mit einer Wissensvermittlung über die verschiedenen Erscheinungsformen des Antisemitismus verbunden werden sollten, um den Tendenzen einer Historisierung und einer Reproduktion von „Pseudoerklärungen des Antisemitismus“ (a.a.O.: 82 f.) etwas entgegenzusetzen.

Anmerkungen der Fachstelle politische Bildung 

Die Studie liefert wichtige Daten zur Beschreibung der antisemitismuskritischen Bildungsarbeit im Praxisfeld Schule. Sie ermöglicht nicht nur Aussagen über die Existenz und die Formen antisemitischer Verschwörungserzählungen im Handlungsfeld Schule, sondern auch Einblicke in Chancen und bislang vernachlässigte Ansatzpunkte für die schuldidaktische Aufbereitung von Antisemitismus und Verschwörungstheorien und stellt darauf basierende Handlungsempfehlungen für eine mögliche Weiterentwicklung des Feldes bereit. Den Autor*innen ist dringend zuzustimmen, wenn sie eine langfristig angelegte Beforschung weiterer Entwicklungen der Bildungsarbeit gegen Verschwörungsdenken sowie antisemitismuskritischer Bildungsarbeit anregen.

Das im Rahmen des Projekts „Digitale Politische Bildung als Konsequenz aus der Corona-Krise“ (DiPolBAs) entstandene Bildungs- und Unterrichtsmaterial zur kritischen Thematisierung von Verschwörungsideologien und Antisemitismus gibt es als Download.

Bibliografische Angaben

Kirchhof, Felix / Kroll, Dario / Hentges, Gudrun (2024): „Über aktuellen Antisemitismus haben wir eigentlich nie groß geredet…“. Schüler*innenperspektiven auf Antisemitismus und Verschwörungstheorien. In: Politikum, 2/2024, S. 78-83

Zum Weiterlesen

  • Hentges, Gudrun / Kirchhof, Felix (2023): Verschwörungstheorien und Antisemitismus. In: Migration und Soziale Arbeit, 1/2023, S. 28-34
  • Pohl, Kerstin / Schreiber, Lars / Straßner, Veit (2021): Politikunterricht während der Corona-Pandemie. Ergebnisse einer Fragebogen-Studie. In: Polis, Heft 4/2021, S. 7-10

Quelle: Transfer für Bildung e.V. (TfB e.V.) vom 04.09.2024

Redaktion: Sofia Sandmann

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