İMECE.Lab
Die Pandemie lastet auf der Psyche junger Menschen


Die deutsch-türkische Zusammenarbeit im Jugendbereich erweist sich trotz widriger Bedingungen als stabil. Am 27. Januar fand der erste Teil der diesjährigen Veranstaltungsreihe İMECE.Lab online statt. Die Nationalen Agenturen beider Länder, die Deutsch-Türkische Jugendbrücke und IJAB hatten dazu eingeladen. Im Vordergrund stand die geistige Gesundheit junger Menschen in der Pandemie.
09.02.2022
Es ist weniger das Virus selbst und die Angst vor einer Infektion, die die seelische Balance junger Menschen in der Türkei beeinträchtigt, es ist die durch die Pandemie bedingte Verschlechterung ihrer materiellen Lage. Zu dieser Einschätzung kommt Prof. Emre Erdoğan von der Abteilung für Internationale Beziehungen an der Universität Istanbul. Er hat einen „Subjektiven Wohlfühl-Index“ erstellt, an dem sich die Folgen der Pandemie deutlich ablesen lassen. Das Wohlbefinden junger Menschen hat sich seit 2017 bis heute kontinuierlich verschlechtert. „Viele fühlen sich heute hoffnungslos“, sagte Erdoğan.
Das Infektionsgeschehen hat zu einem Einbruch auf dem Arbeitsmarkt geführt. Viele haben ihre Arbeit verloren oder mussten Gehaltseinbußen hinnehmen. Besonders junge Menschen, Frauen und diejenigen, die ohnehin nur geringe Gehälter beziehen, sind davon besonders betroffen. Oft können sie die Mieten oder die Stromrechnung nicht mehr bezahlen und versuchen sich mit Krediten über Wasser zu halten.
Aber nicht nur die materiellen Bedingungen haben sich verschlechtert, auch die sozialen Beziehungen haben gelitten. Viele waren auf sich selbst zurückgeworfen, konnten nicht am Online-Unterricht teilnehmen, haben die eigene Wohnung aufgegeben und sind zu den Eltern zurückgezogen. Der Wunsch nach Auswanderung nimmt zu.
Der psychische Druck steigt
Über ähnliche Erfahrungen konnte die Psychologin Ela Evliyaoğlu von GoFor berichten. Überall, wo ihr Netzwerk von Jugendorganisationen aktiv ist, hat es junge Menschen nach ihrer Lebenssituation befragt. Daraus ist eine Karte von Rechteverletzungen als Folge der Pandemie entstanden. Auch GoFor hat den Trend zur Rückkehr ins Elternhaus registriert, weil das eigene Geld nicht mehr reicht. „Wir reden hier – wohl gemerkt – über eine städtische Jugend mit akademischer Bildung“, sagte Evliyaoğlu. Nicht immer geht das erneute Zusammenleben mit den Eltern gut. Junge Menschen berichten über psychischen Druck in der Familie – bis hin zu häuslicher Gewalt. Sie fühlen sich von ihren bisherigen sozialen Beziehungen, von ihren Freundinnen und Freunden, abgeschnitten. Auch auf organisatorischer Ebene hat die Pandemie Auswirkungen. 35% der Jugend-NGOs im Netzwerk von GoFor sind nicht mehr in der Lage, die selbst gesteckten Aufgaben wahrzunehmen. NGOs aus dem Spektrum von LGBT+ berichten über zunehmende öffentliche Anfeindungen – ein Indiz, dass der Druck in der gesamten Gesellschaft wächst.
Junge Menschen klagen über Angstzustände, aber nicht alle sind bereit, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. 95% derjenigen, die sich psychologischen Beistand holen, sind Frauen. Psychische Probleme sind in Teilen der türkischen Gesellschaft noch immer tabuisiert. „Einige haben Angst, dass man über sie sagt, sie seien verrückt“, sagte eine Teilnehmerin, deren Organisation selbst psychologische Beratung anbietet.
Junge Menschen werden in ihrer Entwicklung zurückgeworfen
Das Thema geistige Gesundheit in der Pandemie ist in Deutschland später angekommen, als in vielen anderen Ländern. Zunächst standen materielle Unterstützung der Wirtschaft und das Vermeiden einer Rezession im Vordergrund der öffentlichen Debatte. Dass junge Menschen in der Pandemie in besonderer Weise leiden, haben erst die ersten Studien zu psychischen Auswirkungen offengelegt. Immerhin: Die massiven Auswirkungen auf die materielle Situation hat es in der Form, wie man sie aus der Türkei kennt, nicht gegeben. „Junge Menschen werden um etwas ganz Wesentliches gebracht, wenn sie gezwungen sind ins Elternhaus zurückzukehren“, sagte der IJAB-Vorsitzende Rolf Witte, „denn die eigene Wohnung, das Lernen auf eigenen Beinen zu stehen, sind eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung einer eigenständigen Persönlichkeit“.
Können digitale Medien die Situation junger Menschen verbessern? Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren dazu unterschiedlicher Meinung. Einige beobachteten eine wachsende Zoom-Müdigkeit, andere hoben die Chance, weiterhin „Teil von etwas zu sein“, hervor. Das İMECE.Lab vom 27. Januar muss wohl zur zweiten Kategorie gehört haben, denn über 40 Teilnehmer*innen hatten den Weg zur Veranstaltung gefunden – und die meisten blieben bis zum Schluss.
Stabile deutsch-türkische Beziehungen im bilateralen Austausch
Etwas mehr als ein Jahr ist seit dem letzten İMECE.Lab vergangen und die jüngste Veranstaltung am 27. Januar war der Auftakt zu einer dreiteiligen Reihe. Daran erinnerte Christiane Reinholz-Asolli, Referentin für den Austausch mit der Türkei bei IJAB. Ein weiteres Online-Event ist für den 24. März geplant, dort wird es dann um diversitätsbewusste Jugendarbeit gehen, und die Veranstalter haben auch noch nicht die Hoffnung aufgegeben, im Frühsommer ganz real in Istanbul zusammenkommen zu können.
Die Veranstalter blicken inzwischen auf 9 Jahre gemeinsamer Events zurück und sind entschlossen, dies fortzusetzen. Manfred von Hebel von JUGEND für Europa erinnerte daran, dass dies angesichts der holprigen Beziehungen Deutschlands und der Türkei keine Selbstverständlichkeit ist. Die Corona-Pandemie und der Einbruch der türkischen Währung haben dazu geführt, dass analoge Begegnungen kaum noch stattfinden konnten. Die Fäden zwischen den Partnern sind dennoch nicht abgerissen. Das macht Hoffnung.
Weitere Informationen zur Veranstaltungsreihe IMECE.Lab finden sich bei IJAB. Dort stehen auch ausführliche Informationen zur kinder- und jugendpolitischen Zusammenarbeit mit der Türkei zur Verfügung: www.ijab.de/partnerlaender/tuerkei
Quelle: IJAB - Fachstelle für Internationale Jugendarbeit in der Bundesrepublik Deutschland e.V. vom 02.02.2022, Christian Herrmann
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