Nachgefragt – jugendhilfeportal.de

Die Corona-Pandemie erfordert schnelles, koordiniertes Handeln. Jetzt.

Für das Fachkräfteportal der Kinder- und Jugendhilfe kommentiert Christa Frenzel die Ergebnisse zum IMA-Bericht „Gesundheitliche Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche durch Corona“. Der Artikel bildet den Auftakt einer Reihe, für die Expertinnen und Experten sowie verantwortliche Akteure befragt werden, wie die Handlungsempfehlungen umgesetzt werden können.

25.11.2021

Die Interministerielle Arbeitsgruppe (IMA) hatte vom BMG und BMFSFJ den Auftrag, die gesundheitlichen Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche durch Corona zu untersuchen. Der Bericht der IMA liegt nun vor und neben den drei Handlungsfeldern wurden 26 Handlungsempfehlungen erarbeitet.

Christa Frenzel, Erste Stadträtin a. D., kommentiert in einer Reihe für das Fachkräfteportal der Kinder- und Jugendhilfe die Inhalte des IMA-Berichtes und fragt Expertinnen und Experten sowie verantwortlichen Akteure, wie die Handlungsempfehlungen umgesetzt werden können. Lesen Sie hier den ersten Beitrag:

Ziel der IMA: Handlungsansätze für kurzfristig umsetzbare Maßnahmen identifizieren 

Das Bundesfamilienministerium und das Bundesgesundheitsministerium haben dem Bundeskabinett in der Sitzung am 30. Juni 2021 eine Übersicht zu gesundheitlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Kinder und Jugendliche vorgelegt. Das Kabinett hat in dieser Sitzung zudem der Einsetzung einer Interministeriellen Arbeitsgruppe (IMA) „Gesundheitliche Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche durch Corona“ unter Co-Vorsitz von BMG und BMFSFJ zugestimmt.

Ziel der auf Bundesebene angesiedelten IMA war es, ergänzend zu den vom Bund bereits auf den Weg gebrachten Maßnahmen unter Einbeziehung der relevanten staatlichen und gesellschaftlichen Akteure Maßnahmen zu diskutieren, die erforderlich sind, um die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen zu stärken und die negativen Folgen der COVID-19-Pandemie für die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen zu minimieren und Handlungsansätze insbesondere für kurzfristig umsetzbare Maßnahmen in drei Handlungsfeldern zu identifizieren. Dabei sollte insbesondere die Situation von Kindern und Jugendlichen in den nächsten Monaten in den Blick genommen werden.

Die Arbeitsgruppe, der neben den Vertreterinnen und Vertreter der Ressorts nicht benannte Expertinnen und Experten angehörten, hat fünf Kernempfehlungen sowie 26 konkrete Empfehlungen für Maßnahmen erarbeitet. 
Deutlich hervorgehoben wird, dass sich die Empfehlungen ganz zentral an die Länder und Kommunen, die in diesem Bereich wichtige Aufgaben übernehmen, an den Bund und an weitere Akteure richten. 

Was sind die fünf Kernempfehlungen?

Die fünf Kernempfehlungen sind: 

  1. Flächendeckende Schließungen von Bildungs- und Betreuungseinrichtungen gilt es mit oberster Priorität zu vermeiden, ohne die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen zu gefährden.
  2. Sport- und Bewegungsmöglichkeiten sowie Angebote der außerschulischen Bildung und Jugendarbeit sollten für alle Kinder und Jugendlichen auch unter den Bedingungen einer Pandemie zugänglich bleiben.
  3. Präventive Angebote der Gesundheitsförderung sollten allen Kindern und Jugendlichen verstärkt zugänglich gemacht werden, um sie bei der Bewältigung der gesundheitlichen Belastungen durch die Pandemie zu unterstützen.
  4. Kinder und Jugendliche, die bereits vor der Pandemie erhöhten gesundheitlichen Belastungen ausgesetzt waren, haben unter den pandemiebedingten Einschränkungen in besonderer Weise gelitten und brauchen jetzt eine besonders umfängliche und gezielte Unterstützung.
  5. Da viele Kinder noch nicht geimpft werden können, muss ein umfassendes Testangebot an Kitas und Schulen zur Verfügung stehen.

Die Empfehlungen der Arbeitsgruppe sollen im nachstehenden und folgenden Beiträgen nach Handlungsfeldern und Adressat*innen gebündelt und die Auswirkungen auf die Arbeit der Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe in den Kommunen, bei den freien Trägern und Verbänden sowie möglichen Hindernissen bei der Umsetzung betrachtet werden. Hierbei soll auch angesprochen werden, welche Rahmenbedingungen für einen Transfer und die praktische Umsetzung notwendig sind. 

Aufgabenträger sollen gemeinsam und pro aktiv agieren

Die Arbeitsgruppe ruft die Adressaten zu schnellem Handeln auf und betont, dass es sich um kurzfristig zu realisierenden Maßnahmen zur Unterstützung von Kindern und Jugendlichen handelt. 
Da die beschriebenen Maßnahmen zum Teil den Ausbau von Strukturen und die Implementierung neuer Arbeitsformen und die Übernahme neuer Aufgaben erfordern, kann eine Umsetzung nur erfolgreich sein, wenn die Aufgabenträger gemeinsam und pro aktiv agieren. Dazu gehört auch, die Aufgaben als Führungsaufgabe zu verstehen und entsprechend zu begleiten, Maßnahmen und deren Umsetzung zu koordinieren und der Fachebene Unterstützung und Transferhilfen wie Prozessbegleitung und Fortbildung anzubieten. 

Die Länder verfügen z. B. über Fortbildungsmöglichkeiten der Landesjugendämter im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe. Im Gesundheitsbereich wird gern das Fortbildungsangebot der Akademie für öffentliches Gesundheitswesen Düsseldorf (AfÖG) genutzt. Gefragt sind jedoch auch neue kreative Formate, die Brücken zwischen den Ressortsäulen bauen und die Fachkräfte befähigen, gemeinsame Ziele zu formulieren, die geforderten kommunalen Gesamtkonzepte zu entwickeln und sich abzustimmen. 

Um den notwendigen Umsetzungsprozess des sehr heterogen Maßnahmenkatalogs ohne Zeitverzögerung und lange Orientierungsphasen zu starten, wären aus dem Blickwinkel der mit Kindern arbeitenden Lehr- und Fachkräfte konkretere und abgestimmte Planungsschritte beispielsweise in Form von Masterplänen auf Länderebene sehr hilfreich und besonders wünschenswert.

Handlungsfeld 1 „ Zurück zur Normalität – aber mit Vorsicht“

Die IMA hat ihre Empfehlungen in drei Handlungsfelder strukturiert:
Das Handlungsfeld 1 „Zurück zur Normalität – aber mit Vorsicht“ betriffft die Sicherstellung des Regelbetriebs von Bildungs- und Betreuungseinrichtungen und Sportvereinen. Auch bei einem weiterhin dynamischen Infektionsgeschehen in Herbst und Winter sollen, so die Arbeitsgruppe, flächendeckende Schließungen von Kindertageseinrichtungen und Schulen oder Streichungen der Angebote in den Sportvereinen und außerschulischen Bildungseinrichtungen vermieden werden. Damit sollen die in der ersten Phase des Lockdowns festgestellten psychischen und körperlichen Belastungen, teilweise auch Entwicklungsverzögerungen, vermieden werden. Insbesondere für vulnerable Gruppen sei ein verlässlicher Bildungs- und Betreuungsbetrieb die zentrale Maßnahme, um bestehende Belastungen nicht weiter zu erhöhen, sondern bewältigen zu können, so die IMA.

Die Dramatik der Folgen der Schulschließungen offenbart aktuell das Deutsche Schulbarometer, das im Auftrag der Robert Bosch Stiftung in Kooperation mit der Zeit von Forsa durchgeführt wurde: 
„Die im September durchgeführte repräsentative Umfrage unter Lehrkräften zeigt die enormen psychosozialen Folgen der Schulschließungen bei Kindern und Jugendlichen: 68 % aller befragten Lehrkräfte an Schulen beobachteten Motivationsprobleme, 67 % Konzentrationsmangel, 42 % körperliche/motorische Unruhe, 39 % Zurückgezogenheit, 26 % Absentismus und 23 % aggressives Verhalten. Zudem wurde ein deutlicher Unterschied zwischen Schulen mit einem hohen Anteil bzw. niedrigen Anteil an Familien mit Sozialtransfer festgestellt. Bernhard Straub, der Geschäftsführer der Robert Bosch Stiftung fordert daher: „Die nächste Bundesregierung muss die dauerhafte und substanzielle Unterstützung von Schulen in benachteiligter Lage zur Top-Priorität machen.“ (Die Studie steht auf der Website des Deutschen Schulportals zur Verfügung.)

Zur Vermeidung von Schließungen sieht die IMA zur Sicherstellung des Regelbetriebs die Weiterentwicklung der Infektionsschutz- und Hygienemaßnahmen in Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflegestellen, Schulen und Sportvereinen sowie außerschulischen Bildungseinrichtungen, Teststrategien und Impfungen entsprechend der Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) beim Robert-Koch-Institut als relevant und wichtig an. 

Handlungsfeld 2 „Gemeinsam stark machen“

Das Handlungsfeld 2 „Gemeinsam stark machen“ betrifft die primäre Prävention und Gesundheitsförderung in den Lebenswelten Schule, Kindertageseinrichtungen, Kommune, Vereine; außerschulische Jugendbildung. 
In diesem Bereich werden Prävention und Gesundheitsförderung als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe benannt, die unter anderem die Bereiche Gesundheit, Familie, Kinder- und Jugendhilfe sowie schulische und außerschulische Bildungsbereiche umfasst. Steuernde und koordinierende Akteure vor Ort sind der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) und die Träger der Kinder- und Jugendhilfe sowie der außerschulischen Bildung. „Die gesetzliche Krankenversicherung stärkt als wichtiger Partner im Rahmen der Präventionsmaßnahmen nach dem SGB V die Prävention und Gesundheitsförderung insbesondere in den Kindertageseinrichtungen und Schulen“ heißt es weiter. 

Neben der Empfehlung, die Regelstrukturen der Unterstützungssysteme der Kinder- und Jugendhilfe und des ÖGD über den Infektionsschutz hinaus zu stärken, wird der Ausbau der primarpräventiven Angebote für Kinder und Jugendliche vor Ort als Kernempfehlung genannt sowie eine verbindliche, sektorübergreifende Netzwerkarbeit zum schnellen gemeinsamen Handeln dringend geraten.. Der Aufbau von Präventionsketten über alle Altersgruppen und Lebensphasen im Kinder- und Jugendalter hinweg im Sinne einer integrierten kommunalen Gesamtstrategie und eine intersektorale Zusammensetzung der Netzwerke, z.B. der Sektoren Gesundheit, Kinder- und Jugendhilfe, Soziales und Bildung ist ebenfalls eine Kernempfehlungen für die Arbeit auf kommunaler Ebene.  

Handlungsfeld 3 „Zielgerichtete und bedarfsorientierte Hilfe“

Handlungsfeld 3 „Zielgerichtete und bedarfsorientierte Hilfe“: Besonders belastete Kinder und Jugendliche frühzeitig identifizieren - Unterstützung der besonders belasteten Kinder, Jugendlichen und ihrer Familien bei der Bewältigung der gesundheitlichen Folgen der Pandemie nimmt einen deutlichen Schwerpunkt im Maßnahmenkatalog ein. Auch die Hilfe für besonders belastete Kinder, Jugendliche und deren Familien wird als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe beschrieben. Die vorgeschlagenen Maßnahmen sollen innerhalb der bestehenden Strukturen zu einer unmittelbaren Verbesserung der Hilfs- und Unterstützungsangebote führen. 

Eine stärkere Nutzung der U-Untersuchungen oder aber die Identifizierung besonders belasteter Familien über die Systeme der kommunalen Gesundheitsfürsorge, wie ÖGD, die Kinder- und Jugendhilfe oder auch Sozialämter werden empfohlen. Eine wichtige Rolle haben ebenfalls die Schuleingangsuntersuchungen, die oftmals einziger Berührungspunkt mit dem Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) sind. „In diesem Zusammenhang wird die zentrale Bedeutung von verbindlichen Netzwerken und Vermittlungsstellen der Kommunen vor Ort deutlich, die es ermöglichen, zielgerichtet und koordiniert Familien in geeignete Angebote zu vermitteln“.

Das Aktionsprogramm „Aufholen nach Corona für Kindern und Jugendliche“ sei eine Unterstützung für die Kinder- und Jugendhilfe zur Bereitstellung von Alltagshilfen oder anderen unterstützenden Angeboten. So können sich Kinder, Jugendliche und ihre Eltern besser Hilfe bekommen und wenn es um Alltagshilfen oder andere unterstützende Angebote geht. Auch die Fachkräfte selber können durch neue präventive Angebote vor Ort ggf. bestehende pandemiespezifische Belastungen frühzeitig(er) erkennen. 

Zur Information:
Das Aktionsprogramm „Aufholen nach Corona für Kindern und Jugendliche“

Die Bundesregierung hat am 5. Mai das Aktionsprogramm „Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche“ in Höhe von zwei Milliarden Euro in den Jahren 2021 und 2022 gestartet. Es besteht aus einem Nachholprogramm für pandemiebedingte Lernrückstände und einem umfangreichen Maßnahmenpaket zur Unterstützung der sozialen Kompetenzen und der allgemeinen Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen.

Das vom Bund aufgelegte Programm hat vier Säulen:

  • Abbau von Lernrückständen
  • Maßnahmen zur Förderung der frühkindlichen Bildung
  • Unterstützung für Ferienfreizeiten und außerschulische Angebote
  • Kinder und Jugendliche im Alltag und in der Schule begleiten und unterstützen

Lesen Sie die Programminhalte der Bundesländer kompakt zusammengefasst auf einer Sonderseite des Fachkräfteportals.

Die Ausweitung der Frühen Hilfen, die Sicherstellung ausreichender psychotherapeutischer Versorgungsangebote und die Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse von pflegebedürftigen, schwer chronisch kranken und schwerstkranken Kindern, Jugendlichen und deren Familien werden im Handlungsfeld 3 ebenfalls mit Maßnahmen konkretisiert.

Die Empfehlungen der Interministeriellen Arbeitsgruppe „Gesundheitliche Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche durch Corona“ benötigen für ihre Umsetzung dringend weiterer Koordinierungsaktivitäten auf der Ebene des Bundes, der Länder, der Kommunen und der angesprochenen Verbände - vertikal und horizontal.

Zur Person: 

Christa Frenzel war 7 Jahre Sozialdezernentin der kreisfreien Stadt Salzgitter und zuvor langjährig Referatsleiterin für Familienpolitik im Niedersächsischen Sozialministerium. 

Mehr zum Thema Gesundheitsförderung:

Lesen Sie hier auch unsere Praxisbeispiele aus der Reihe Gesundheitsförderung in der Pandemie – Potenziale der Kinder- und Jugendhilfe

Redaktion: Iva Wagner

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