Kinder- und Jugendarbeit

10 Jahre UN-BRK – ein Blick auf Entwicklungen in und Erwartungen an inklusive Jugendarbeit

Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ verdeutlicht in ihrem Diskussionspapier „Inklusion in der Jugendarbeit. 10 Jahre UN-BRK“ welchen Beitrag Jugendarbeit – trotz vielfältiger struktureller Hindernisse – zur Inklusion junger Menschen mit und ohne Behinderung beitragen will und kann. Der Fokus des Papiers liegt auf der Beschreibung inklusiver Praxis und ihrer Gelingensbedingungen und gibt Trägern, Einrichtungen und Fachkräften Impulse und Ideen zur Umsetzung von Inklusion sowie positive Beispiele für Angebote, Strukturen und Projekte.

25.07.2019

Anlässlich des 10-jährigen Jubiläums der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2019 beschäftigt sich die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ mit dem Thema Inklusion in der Jugendarbeit. Die AGJ möchte in ihrem Positionspapier verdeutlichen, welche Schritte möglich sind, um den inklusiven Prozess in der Jugendarbeit weiter voranzutreiben.

Hierfür wird zunächst auf bestehende rechtliche Rahmenbedingungen und daraus resultierende segregierte Sozialräume und Lebenswelten junger Menschen mit Behinderung eingegangen. Die Potentiale der Jugendarbeit in diesem Kontext werden beleuchtet und positive Beispiele aus der Praxis benannt, welche Inklusion praktisch neu denken und leben. Denn das Ziel, dass junge Menschen mit und ohne Behinderung in der Jugendarbeit ihren Platz finden, Angebote gestalten, sich beteiligen und gemeinsam Alltag leben, wird von der AGJ stark gemacht.

Inklusion / inklusive Jugendarbeit – was ist gemeint?

Das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) ist eine der jüngsten Menschenrechtskonventionen. Im Jahr 2019 feiert ihre Ratifikation in Deutschland 10-jähriges Jubiläum. Dies nimmt die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ zum Anlass, das Thema Inklusion für die Jugendarbeit als ein Arbeitsfeld der Kinder- und Jugendhilfe genauer zu betrachten.

Spätestens seit Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention 2009 ratifiziert hat, ist Inklusion ein zentrales Thema jugend- und bildungspolitischer Diskussionen. Doch die Vorstellung darüber, was Inklusion bedeutet, wie sie gestaltet und gelebt werden kann, variiert stark. In der Kinder- und Jugendhilfe ist Inklusion in den letzten Jahren insbesondere durch den Reformprozess des SGB VIII noch einmal stärker in das Blickfeld geraten und wurde wiederholt diskutiert. Auch die AGJ hat das Thema Inklusion aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet, sich für eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe ausgesprochen und in diesem Zusammenhang in mehreren Papieren detaillierte Vorschläge präsentiert und Forderungen erhoben.

Politisch gerahmt wird Inklusion unter anderem im Kontext von Bildung für nachhaltige Entwicklung und den Sustainable Development Goals (SDGs) als übergeordnetes globales Ziel der Vereinten Nationen. Im UNESCO-Programm Education for All wird Inklusion zumeist mit Blick auf die formale Bildung diskutiert und beschreibt den Zugang aller Menschen zu qualitativ hochwertiger Bildung. Inklusion hat somit mehrere Bezugsrahmen. Die Diskussion über Inklusion in der Jugendhilfe bzw. über die sogenannte „Große Lösung“ war bislang fast ausschließlich durch die Frage der Zuständigkeit der Leistungen zur Eingliederungshilfe geprägt. Der Inklusionsbegriff selbst wird in fachlichen Debatten, formalen Papieren, politischen Programmen etc. mit unterschiedlichen Bedeutungen gefüllt und diskutiert. Es gilt also, zunächst zu klären, welcher Inklusionsbegriff der Argumentation in diesem Papier zugrunde gelegt werden soll.

Weites Verständnis von Inklusion

Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ spricht sich insgesamt für ein weites Verständnis von Inklusion aus, das auf Verschiedenheit als Normalfall abzielt. In einer inklusiven Gesellschaft, die das Leitziel ist, können alle Menschen in ihrer Verschiedenheit und Individualität gleichberechtigt miteinander leben und in allen Lebensbereichen teilhaben. Es geht also nicht allein um ein Mitmachen- und Dabei-sein-Dürfen, sondern um ein selbstverständliches Dazugehören. Die AGJ betont, dass, um diesem Ziel näherzukommen und Inklusion zu verwirklichen, sich die Gesellschaft verändern und weiterentwickeln muss. Jeder gesellschaftliche Bereich ist hier gefordert: auch die Kinder- und Jugendhilfe.

In diesem Papier soll in Würdigung der UN-Behindertenrechtskonvention ein spezifischer Blick auf Teilhabemöglichkeiten junger Menschen mit Behinderungen in und durch Kinder- und Jugendarbeit (im Folgenden: Jugendarbeit) gelegt werden. Dabei wird an die entsprechende Definition der Konvention für Menschen mit Behinderungen angeknüpft. Der in Artikel 1 beschriebene Zweck der UN-Behindertenrechtskonvention wird als Auftrag an die Jugendarbeit verstanden, die Teilhabe von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung an ihren Angeboten zu ermöglichen.

„Zweck dieses Übereinkommens ist es, den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern. Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können“.
[UN-BRK, Artikel 1 Satz 2]

Das Papier beschäftigt sich nur mit einem Teil der von Diskriminierung und Benachteiligung betroffenen Menschen, nämlich mit denjenigen mit Behinderungen. Die AGJ nimmt diese Einschränkung bewusst vor, um die Wirkungen der UN-BRK zu würdigen und einen differenzierten Blick auf die Teilhabemöglichkeiten von jungen Menschen mit einer langfristigen körperlichen, seelischen, geistigen oder Sinnesbeeinträchtigung in der Jugendarbeit zu entwickeln.

Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ nimmt mit diesem Diskussionspapier die alltägliche Praxis der Jugendarbeit im Kontext der UN-Behindertenrechtskonvention in den Blick, beschreibt Herausforderungen und formuliert Erwartungen an sie. Anhand von Beispielen diskutiert das Papier den Beitrag der Jugendarbeit zu einer inklusiven Gesellschaft.

Vorbemerkung zu den einzelnen Kapiteln des Papiers

Der Fokus und der Auftrag des Papiers liegen auf der Beschreibung inklusiver Praxis in der Jugendarbeit und dem Beitrag, den Jugendarbeit zu einer inklusiven Gesellschaft und der Teilhabe aller jungen Menschen leisten kann. Das Papier will verdeutlichen, dass Jugendarbeit trotz vielfältiger struktureller Hindernisse bereits jetzt etwas zur Inklusion junger Menschen mit Behinderung beitragen will und kann. Die Hindernisse, die sich durch die bestehenden Rahmenbedingungen ergeben, werden zunächst benannt, damit die Beschreibungen und geforderten Veränderungen vor diesem Hintergrund gelesen und die Empfehlungen zum Ende des Papiers besser eingeordnet werden können.

Denn: Trotz des klaren Auftrags der Jugendarbeit, Angebote für alle jungen Menschen zu machen, bestehen in der alltäglichen Praxis für die Fachkräfte, Ehrenamtlichen, Eltern und Verantwortlichen Unsicherheiten und Hürden, die inklusives Arbeiten erschweren. Diese Unsicherheiten entstehen unter anderem durch die unterschiedliche Zuständigkeit bei den individuellen Leistungen für junge Menschen mit und ohne Behinderungen, welche einerseits in die Verantwortung des SGB XII (mit Einführung des BTHG im SGB IX-neu) und andererseits in das SGB VIII fallen.

Zudem verfolgen die Sozialgesetzbücher unterschiedliche Zielstellungen und prägen verschiedene Kulturen. Dies verursacht bisweilen Defizite in der Wahrnehmung der Problemlagen und der Verantwortung der Kinder- und Jugendhilfe gegenüber Kindern und Jugendlichen mit Behinderung. Unterschiedliche Kostenheranziehungsregelungen stellen für die Eltern ein zusätzliches Hindernis dar, Assistenzleistungen für ihre Kinder im Zusammenhang von Angeboten der Jugendarbeit in Anspruch zu nehmen. Das durch das BTHG reformierte SGB IX adressiert die Kinder- und Jugendhilfe nur in ihrer Eigenschaft als Rehabilitationsträger, nicht aber als Träger der Jugendarbeit. Die reformierte Eingliederungshilfe hält an der Kostenbeteiligung für ambulante Eingliederungsleistungen fest und bringt daher keine konkrete Entlastung. Des Weiteren erschweren Förderlogiken, die z.B. nicht flexibel auf zusätzliche Bedarfe von jungen Menschen mit Behinderungen eingehen, das inklusive Arbeiten in der Jugendarbeit. Darüber hinaus bestehen weitere Zugangshemmnisse, die sich z.B. in der nicht vorhandenen Barrierefreiheit von Einrichtungen oder auch in der speziellen Kompetenz der Akteure im Umgang mit jungen Menschen mit Behinderung widerspiegeln. Es lässt sich also festhalten, dass die Rahmenbedingungen, unter denen Jugendarbeit Inklusion vorantreibt, teilweise schwierig sind und das Schaffen inklusiver Praxis erschweren.

Inklusive Praxis ist möglich

Die zahlreichen im Papier beschrieben Beispiele als Beitrag der Jugendarbeit zu einer inklusiven Gesellschaft zeigen: Inklusive Praxis ist möglich. Wenn Träger, Teams und andere Akteure sich trauen und inklusive Wege gehen, sich für junge Menschen mit und ohne Behinderungen verantwortlich fühlen und Angebote formulieren, machen sie in aller Regel positive Erfahrungen. Beispielhaft wird gezeigt, dass trotz schwieriger Rahmenbedingungen und struktureller Herausforderungen auf inklusive Praxis hingearbeitet werden kann.

Die Erfahrungen, die in einzelnen Projekten gesammelt wurden, sind positiv und Akteure erkennen: Inklusive Jugendarbeit ist zwar zu Beginn aufwendiger, aber sie lohnt sich. Dabei zeigt sich, dass Akteure sich zunächst einige Fragen stellen und einigen Herausforderungen entgegentreten müssen, damit inklusivere Jugendarbeit gestaltbar wird.
Folgende Grundsätze und Gelingensbedingungen werden im Papier benannt und erläutert:

  • Haltung entwickeln
  • Inklusive Kulturen und Strukturen etablieren
  • Kooperationen festigen und Angebote bewerben
  • Junge Menschen beteiligen
  • Inklusive Praxis gestalten
  • Bedarfe systematisch berücksichtigen

Die AGJ stellt fest, dass Inklusion in der Jugendarbeit zunächst bedeutet, zu identifizieren, welche Zielgruppen bisher nicht mitgedacht und adressiert werden und sich bestehender Hürden der Teilhabe und Benachteiligungen bewusst zu werden. Es gilt, die Bedürfnisse von jungen Menschen mit Behinderungen in den Blick zu nehmen, um daraus Erfordernisse für die Weiterentwicklung des Angebots abzuleiten. Diskriminierungen und Hürden müssen bewusst beseitigt werden, um Zugänge für alle jungen Menschen zu schaffen. Dabei muss eine gemeinsame Haltung entwickelt und bezogen werden.

Empfehlungen an unterschiedliche Ebenen

Ob und wie gut Inklusion gelingt, hängt von verschiedenen Akteuren ab, die den Rahmen prägen, in dem Inklusion realisiert wird bzw. die selbst die Angebote gestalten. Hieraus ergeben sich für die AGJ eine Notwendigkeit rechtlicher Änderungen sowie Empfehlungen an unterschiedliche Akteure auf unterschiedlichen Ebenen (diese werden im Diskussionspapier ausführlich beschrieben):

  • Empfehlungen an die Ebene des Bundes
  • Empfehlungen an die Ebene der Länder
  • Empfehlungen an die Ebene der Kommunen
  • Empfehlungen an die Ebene der örtlichen Träger, Einrichtungen und Projekte
  • Empfehlungen an die Ebene der Teams und Fachkräfte sowie
  • Empfehlungen an die Wissenschaft

Die AGJ stellt fest, dass in den letzten Jahren viele Beispiele guter inklusiver Praxis entstanden sind und die Teilhabe aller jungen Menschen in der Jugendarbeit vorangetrieben und gestaltet wurde. Trotzdem gilt, weiterhin Jugendarbeit für alle jungen Menschen zugänglich und passend zu gestalten und Barrieren und Hürden der Teilnahme abzubauen. Das Ziel ist hierbei, dass junge Menschen mit und ohne Behinderungen in der Jugendarbeit ihren Platz finden, Angebote gestalten, sich beteiligen und gemeinsam Alltag leben.

Download

Das vollständige Diskussionspapier der AGJ mit dem Titel „Inklusion in der Jugendarbeit. 10 Jahre UN-BRK – ein Blick auf die Entwicklungen in der und Erwartungen an die Jugendarbeit“ (PDF, 241 KB) steht als Download auf den Seiten der AGJ zur Verfügung.

Quelle: Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ

Back to Top