Flucht und Migration
SVR: Neuregelung zum Familiennachzug lässt viele Fragen offen

Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) äußert sich ausführlich zum vorliegenden Entwurf einer Neuregelung zum Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten. Der Entwurf setzt die Einigung der Regierungsparteien im Koalitionsvertrag um, die vorsieht, dass ab August 2018 Mitgliedern der Kernfamilien von subsidiär Schutzberechtigten die Möglichkeit des legalen Zuzugs grundsätzlich wieder eröffnet, mit Blick auf die Aufnahmefähigkeit der Bundesrepublik aber auf 1.000 Personen pro Monat beschränkt wird.
07.06.2018
Die Bundesregierung will den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten neu regeln. Das erfordert einen Ausgleich zwischen dem staatlichen Interesse an Migrationssteuerung und -begrenzung im Sinne der Aufnahmefähigkeit des Landes auf der einen Seite und dem Grundrecht auf Familie auf der anderen, auch wenn letzteres kein Individualrecht auf Familiennachzug begründet.
Unsicherheiten im Vollzug zu erwarten
Der vorgelegte Gesetzesentwurf bemüht sich um einen solchen Ausgleich, lässt allerdings viele Fragen offen. Da die Regelungen komplex sind und die Umsetzung der Quotierung noch nicht konkretisiert wurde, sind Unsicherheiten im Vollzug zu erwarten. Die zuständigen Ministerien müssen die Unklarheiten bei der Umsetzung beseitigen. Neben einer pragmatischen und rechtssicheren Ausgestaltung kommt es wesentlich auch auf effizientere Visavergabeverfahren an.
Legaler Zuzugsweg für Familienangehörige wird eröffnet
Da das Recht auf Familie zu den Menschenrechten zählt, ist zu begrüßen, dass nun auch für subsidiär Schutzberechtigte wieder ein legaler Zuzugsweg für ihre Familienangehörigen eröffnet wird. Bei solchen subsidiär Schutzberechtigten, deren Aufenthalt im Land angesichts der Lage in ihren Herkunftsländern absehbar länger andauern wird, ist aus Sicht des SVR der Familiennachzug zudem integrationspolitisch unbedingt sinnvoll. Hierbei ist es legitim, dass der Gesetzgeber im Einklang mit den Menschenrechten kein generelles Nachzugsrecht gewährt. Mit Blick auf die skizzierte Abwägung von Interessen ist es aus Sicht des SVR nachvollziehbar, wenn bestimmte Personengruppen von diesem Recht grundsätzlich ausgenommen sind – etwa subsidiär Schutzberechtigte, deren Ausreise unmittelbar bevorsteht, oder Personen, die eine Straftat begangen haben oder die von der Polizei als Gefährder eingestuft werden, zumal bei letzteren auch Sicherheitsüberlegungen hinzukommen.
1.000 Personen pro Monat aus humanitären Gründen
Bei der Wahl der Instrumente, die einen Interessenausgleich zwischen einer oder einem sich in Deutschland aufhaltenden subsidiär Schutzberechtigten und dem Aufnahmeland ermöglichen sollen, hat sich der Gesetzgeber mit der Kontingentierung auf maximal 1.000 Personen pro Monat, die durch eine Härteklausel aus humanitären Gründen ergänzt wird, für eine komplexe Variante quantitativer Steuerung entschieden. Der SVR hatte stattdessen bereits vor der Veröffentlichung des Gesetzesentwurfs vorgeschlagen, eine v. a. für die Verwaltung einfach handhabbare ‚Stichtagsregelung‘ einzuführen, die allen vor einem bestimmten Termin eingereisten Flüchtlingen mit subsidiärem Status aus integrationspolitischen Gründen den Nachzug gewährt, für neueinreisende Flüchtlinge, die diesen Status erhalten, die Möglichkeiten des Familiennachzugs jedoch erst einmal – wie bisher – aussetzt (Pressemeldung vom 29. Januar 2018). Möglich gewesen wäre auch eine qualitative Steuerungslösung, die Nachzugsrechte an bestimmte Integrationsleistungen der oder des Stammberechtigten koppelt (z. B. Sprachkenntnisse).
„Der vorliegende Entwurf kombiniert eine quantitative Vorgabe mit qualitativen Kriterien. Die offenen Fragen in der Umsetzung beispielsweise in der Abstimmung zwischen den beteiligten staatlichen Stellen und hinsichtlich der konkreten Auswahl der 1.000 Personen lassen ebenso wie Ausdifferenzierung des Ausländer- und Aufenthaltsrechts Unsicherheiten im Vollzug erwarten“, so Prof. Dr. Thomas Bauer, Vorsitzender des SVR.
Großer Prüfaufwand bei zuständigen Akteuren und Schulung des Personals nötig
Der Gesetzentwurf schlägt zwar bezüglich der Priorisierung einen Doppelschritt vor, in dessen Rahmen zunächst eine Negativselektion erfolgt, indem bestimmte Gruppen von Stammberechtigten vom Familiennachzug ausgeschlossen werden. Daran schließt eine Positivauswahl an, die nicht nur humanitäre Kriterien, sondern auch bereits erfolgte Integrationsleistungen sowohl bei der stammberechtigten als auch bei der nachziehenden Person bewerten und in die Entscheidung einbeziehen muss. Der im Vergleich zu anderen Visaverfahren größere Prüfaufwand bei den Auslandsvertretungen, den Ausländerbehörden sowie dem als neuem Akteur etablierten Bundesverwaltungsamt muss gleichwohl erst einmal gestemmt und die Koordination bewältigt werden. Zentral ist es aus Sicht des SVR daher, die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der zuständigen Behörden entsprechend zu schulen und ggf. das Personal in den beteiligten Institutionen deutlich aufzustocken.
„Außerdem wird es darauf ankommen, den erzielten Kompromiss der Regierungsparteien in der Umsetzung so zu konkretisieren, dass vor allem die besonders vulnerablen Gruppen wie Kinder zum Zuge kommen“, betont Prof. Bauer. Wie UNICEF in einer Stellungnahme betont, ist es für Personen aus Krisengebieten, auf der Flucht und in Ländern ohne ausreichende medizinische Versorgung kaum möglich, etwa Erkrankung, Pflegebedürftigkeit oder Behinderung nachzuweisen. Der Entwurf fordert zudem von den subsidiär Schutzberechtigten, die ihre Familie nachholen wollen, ihre genauen Lebensumstände und eine gesicherte Bleibeperspektive nachzuweisen. Nur wenige können ihren Lebensunterhalt sichern und verfügen über Wohnraum.
Für den Fall, dass in einem Monat weniger als 1.000 Visa erteilt werden, ist bislang nicht vorgesehen, dies in den Folgemonaten auszugleichen. Der SVR spricht sich dafür aus, eine größere Flexibilität vorzusehen, um zu verhindern, dass die in den Anfangsmonaten zu erwartenden administrativen Anlaufschwierigkeiten dazu führen, dass die Quote wegen langer Verfahren anfangs nicht ausgeschöpft wird. Auch würde die Möglichkeit, das Kontingent umzuschichten, es erlauben, flexibel auf kurzfristige Zuspitzungen in Krisengebieten zu reagieren.
Sorge um Angehörige erschwert Integration
Damit es gelingt, die anspruchsvolle Regelung umzusetzen, müssen die Visavergabeverfahren außerdem effizienter und transparenter ablaufen. Dafür muss das Personal in den entsprechenden deutschen Auslandsvertretungen aufgestockt werden. Derzeit warten enge Angehörige teilweise bereits sehr lange auf einen Konsulatstermin, um den Antrag zu stellen; bis sie ein Visum erhalten, dauert es in der Regel noch einmal mehrere Monate. Oft sind Familienangehörige deshalb mehrere Jahre lang getrennt. „Aus integrationspolitischer Perspektive ist das kontraproduktiv“, so Prof. Dr. Thomas Bauer, „denn die Sorge um Angehörige erschwert es, innerlich anzukommen und sich um Spracherwerb und Arbeit zu bemühen.“
Verwaltungsgerichte benötigen mehr Ressourcen
Da durch den Gesetzesentwurf und die vorgesehene Kontingentierung kein Anspruch auf Ehegattennachzug etabliert wird, besteht auch weiterhin ein Unterschied zu Rechten von Personen mit Flüchtlingsstatus. Daher bestehen Anreize fort, gegen den subsidiären Status zu klagen. Derzeit sind die Verwaltungsgerichte mit solchen Klagen überlastet. „Die Verwaltungsgerichte benötigen mehr Ressourcen, um die laufenden und zu erwartenden künftigen Klagen schnell und qualitativ hochwertig bearbeiten zu können“, mahnt Prof. Bauer. Die Politik könnte außerdem im Verfahrensrecht nachjustieren: Wenn die Obergerichte bundesweit eine einheitliche Linie vorgeben, würden die Verwaltungsgerichte nicht länger über ähnlich gelagerte Sachverhalte – nicht zur individuellen Lebenssituation der Antragstellenden, sondern zur allgemeinen Lage in bestimmten Herkunfts- oder Transitländern – unterschiedlich entscheiden, und weniger Asylbewerber und -bewerberinnen würden die Gerichte anrufen. Auch das BAMF muss die Qualität der Asylbescheide erhöhen, damit die Verwaltungsgerichte nicht länger abermals Sachverhaltsaufklärung betreiben müssen.
„Angesichts der offenen Fragen ist es im Interesse der gesamten Öffentlichkeit zudem unbedingt zu empfehlen, das Gesetz zu evaluieren“, so Bauer.
Über den Sachverständigenrat
Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration geht auf eine Initiative der Stiftung Mercator und der VolkswagenStiftung zurück. Ihr gehören sieben Stiftungen an. Neben der Stiftung Mercator und der VolkswagenStiftung sind dies: Bertelsmann Stiftung, Freudenberg Stiftung, Robert Bosch Stiftung, Stifterverband und Vodafone Stiftung Deutschland. Der Sachverständigenrat ist ein unabhängiges und interdisziplinär besetztes Expertengremium, das zu integrations- und migrationspolitischen Themen Stellung bezieht und handlungsorientierte Politikberatung anbietet. Die Ergebnisse seiner Arbeit werden in einem Jahresgutachten veröffentlicht.
Dem SVR gehören neun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen und Forschungsrichtungen an: Prof. Dr. Thomas K. Bauer (Vorsitzender), Prof. Dr. Hacı Halil Uslucan (Stellvertretender Vorsitzender), Prof. Dr. Petra Bendel, Prof. Dr. Claudia Diehl, Prof. Dr. Viola B. Georgi, Prof. Dr. Christian Joppke, Prof. Dr. Sieglinde Rosenberger, Prof. Dr. Daniel Thym und Prof. Dr. Hans Vorländer.
Quelle: Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) vom 07.06.2018
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