Erinnerungskultur

MEMO-Jugendstudie – Wie junge Erwachsene an Geschichte erinnern

Junge Erwachsene wollen im Kontext der NS-Zeit Faktenwissen, historische Orte und Gegenwartsbezüge vermittelt bekommen, die Hälfte der befragten 16- bis 25-Jährigen kann den Zeitraum der NS-Herrschaft nicht korrekt benennen und jede:r Dritte fühlte sich im Alltag selbst schon diskriminiert. Dies geht aus der neuen „MEMO-Jugendstudie 2023” des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung Bielefeld (IKG) hervor. Ergänzt wird damit die bisherige Studie „MEMO Deutschland – Multidimensionaler Erinnerungsmonitor”, um die Fokusgruppe junge Erwachsene: die zukünftigen Träger:innen von Erinnerungskultur.

02.03.2023

Der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg sind für Jugendliche und junge Erwachsene zentrale Referenzpunkte in der Erinnerungskultur Deutschlands. Das zeigen die Ergebnisse der „MEMO-Jugendstudie 2023”, die von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) gefördert wurde. 

Ergebnisse zeigen Anteil der Auseinandersetzung und Wissenslücken

63 Prozent der jungen Erwachsenen, aber nur 53 Prozent im Durchschnitt aller Altersgruppen, geben an, sich intensiv mit dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt zu haben. Entscheidend für die Auseinandersetzung sind der eigene Bildungshintergrund und der der Eltern, weniger andere Faktoren wie Alter, Geschlecht oder Herkunftsgeschichte der Familie. Rund drei Viertel der 16- bis 25-Jährigen stellen den Sinn der Auseinandersetzung mit diesem Teil der deutschen Geschichte nicht in Frage. Die Auswertungen der MEMO-Jugendstudie zeigen zugleich Lücken im Faktenwissen zum Nationalsozialismus auf und liefern neue Ansätze für Bildungsarbeit.

Prof. Dr. Jonas Rees, Universität Bielefeld, sagte dazu:

Jungen Erwachsenen wird gern historisches und politisches Desinteresse unterstellt. Unsere Befragung ergibt jedoch das Bild einer in weiten Teilen engagierten und interessierten Generation. Gleichzeitig zeigen sich systematische Lücken mit Blick auf ganz grundlegendes Wissen um historische Fakten. Als Gesellschaft wären wir gut beraten, die Gruppe der jungen Erwachsenen als zukünftige Träger:innen von Erinnerungskultur ernst zu nehmen. Wir sollten uns fragen, welchen Stellenwert die Erinnerung an die NS-Verbrechen für uns heute noch spielt, denn der lässt sich nicht nur daran ablesen, was wir kollektiv erinnern, sondern auch daran, was wir kollektiv vergessen.“

Junge Erwachsene wollen im Kontext der NS-Zeit Faktenwissen, historische Orte und Gegenwartsbezüge vermittelt bekommen

Die jungen Erwachsenen wurden gefragt, welche Anliegen ihnen in Bezug auf selbstbestimmtes Lernen über den NS-Kontext besonders wichtig sind. Den meisten Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist wichtig, dass sie neues Faktenwissen lernen (75 Prozent), dass sie historische Orte besuchen können (51 Prozent) und dass in den Bildungsangeboten Bezüge zwischen Vergangenheit und Gegenwart hergestellt werden (48 Prozent). Der Wunsch nach Unterhaltung spielt lediglich eine untergeordnete Rolle. Das dringlichste inhaltliche Interesse berichten die Befragten in Bezug auf die gesellschaftlichen Umstände der NS-Verbrechen und die Rolle und Verantwortung der vermeintlich unbeteiligten deutschen Bevölkerung (35 Prozent).

Fehlendes Wissen über den Zeitraum der NS-Herrschaft und die Opfergruppen

An dieser und anderen Stellen der MEMO-Jugendstudie werden Potenziale für neue Bildungsformate deutlich. Defizite zeigen sich im Rahmen der Studie unter anderem in Bezug auf das vorhandene historische Faktenwissen. So kann nur knapp die Hälfte der Befragten den Zeitraum der NS-Herrschaft vollständig und korrekt benennen. Während über die Hälfte der 16- bis 25-Jährigen mindestens drei Opfergruppen des Nationalsozialismus kennt, kann jede:r fünfte Befragte nur eine oder gar keine Opfergruppe benennen. Einzelne Opfergruppen sind dabei besonders wenig bekannt. So nennt etwa weniger als die Hälfte der Befragten Kranke und Menschen mit Behinderungen als Opfergruppe, weniger als ein Drittel nennt Sinti:ze und/oder Rom:nja.

Dr. Andrea Despot, Vorstandsvorsitzende, Stiftung EVZ:

Wer sich mit Entrechtung, Verfolgung und Vernichtung durch die Nationalsozialisten auseinandersetzt, schaut sensibilisierter auf Diskriminierung heute. Geschichtsvermittlung ist ein Booster für Solidarität und Demokratie. Jugendliche wollen verstehen und lernen, nicht unterhalten werden. Wir brauchen interaktive und partizipative Angebote für Geschichtsvermittlung - innerhalb und außerhalb der Schule. Partizipative Vermittlungsformen können einem weiteren Befund der MEMO-Jugendstudie entgegenwirken: Viele Befragte fühlen sich politisch nicht gehört und repräsentiert.“

Jede:r Dritte fühlte sich im Alltag selbst schon diskriminiert

60 Prozent der Befragten geben an, durch die Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte für Themen wie Ausgrenzung und Diskriminierung sensibilisiert worden zu sein. Das Ausmaß, in dem sich Jugendliche selbst benachteiligt fühlen, ist beachtlich: Jede:r Dritte berichtet, sich im Alltag zumindest teilweise diskriminiert zu fühlen. Das betrifft insbesondere junge Menschen mit Migrationsbiografien, aus einkommensschwachen und bildungsfernen Familien. Viele fühlen sich zudem politisch nicht repräsentiert (44 Prozent).

Engagierte Jugendliche haben sich häufiger mit der Geschichte des NS befasst

Um den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland sind die 16- bis 25-Jährigen mehrheitlich besorgt. Rund ein Drittel von ihnen nimmt keinen Zusammenhalt in der Gesellschaft wahr. Vom eigenen Engagement für gesellschaftliche Themen und Herausforderungen in der Gegenwart berichten insbesondere diejenigen jungen Erwachsenen, die sich intensiver mit der Geschichte des Nationalsozialismus befasst haben. Insgesamt ist das Engagement in der befragten Stichprobe heterogen: Knapp 40 Prozent der Befragten berichten, sich wenig oder gar nicht gesellschaftlich zu engagieren. Rund jede:r Fünfte (21 Prozent) berichtet hingegen von starkem eigenem Engagement. Neben dem Einsatz für den Klima- und Umweltschutz (43 Prozent) geben viele Befragte an, sich gegen Rassismus, Diskriminierung und Ausgrenzung in der deutschen Gesellschaft zu engagieren (22 Prozent).

Die MEMO-Jugendstudie

Die MEMO-Jugendstudie wird vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld durchgeführt und von der Stiftung EVZ gefördert. Für die MEMO-Jugendstudie wurden 3.485 repräsentativ ausgewählte junge Menschen zwischen 16 und 25 Jahren im September/Oktober 2021 sowie 838 Teilnehmer:innen erneut im September 2022 online befragt. Die MEMO-Jugendstudie ist die umfangreichste Studie ihrer Art und erweitert die bisherigen fünf MEMO-Erhebungen (2018-2022) systematisch um die Gruppe der jungen Erwachsenen: die zukünftigen Träger:innen von Erinnerungskultur.

Weiterführende Informationen

Auf der Website der Stiftung EVZ sind weitere Informationen über die MEMO-Studie zu finden:

  • Studie in deutscher und englischer Sprache sowie Grafiken
  • Film zur MEMO-Jugendstudie
  • Statements weiterer Teilnehmender des Pressegesprächs vom 21. Februar 2023

Hintergrund zur MEMO-Studie

Mit „MEMO Deutschland – Multidimensionaler Erinnerungsmonitor” erforscht das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung Bielefeld (IKG), was, wie und wozu Bürger:innen in Deutschland historisch erinnern. Ziel ist die empirische Dokumentation der in Deutschland vorherrschenden Erinnerungskultur, erfasst in Form einer repräsentativen Meinungsumfrage im Bevölkerungsquerschnitt. Die MEMO-Jugendstudie 2023 ist die umfangreichste Studie ihrer Art und erweitert die bisherigen fünf MEMO-Erhebungen (2018-2022) um die Fokusgruppe junge Erwachsene: die zukünftigen Träger:innen von Erinnerungskultur.

Quelle: Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) vom 21.02.2023

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