Gesundheit(-sförderung) und Corona

Kein Erkenntnisdefizit, sondern Handlungsdefizit – Eine Präventionsstrategie ist überfällig!

In unserer Interviewreihe „Im Gespräch“ sind wir mit Thomas Altgeld als Geschäftsführer der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen im Austausch. Er spricht mit uns über die Auswirkungen, die das Aussetzen der Verpflichtung zur Primärprävention und Gesundheitsförderung in dem Pandemiezeitraum zur Folge hat. Er betrachtet kritisch, dass die Betroffenenperspektive in den Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie viel zu kurz gekommen sei. Die Lebensverhältnisse vor Ort seien kaum in den Blick genommen worden und es fehlten Beteiligungsformate, um die jeweiligen Zielgruppen mit ihrer Expertise einzubinden. Thomas Altgeld fordert eine Strategie für eine Lebenslagenpolitik, die ressortübergreifend konsensual erfolgt.

30.09.2021

Herr Altgeld, die COVID-19-Pandemie hat große Einschnitte für die ganze Gesellschaft mit sich gebracht. Wie wirkt sich die Pandemie auf die Arbeit der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e.V. aus? Sicher mussten die Arbeitsmethoden und Formate verändert werden. Haben sich auch die inhaltlichen Schwerpunkte verändert?

Die Corona-Pandemie hat auch die Arbeit der LVG & AFS sowie ihrer Kooperationspartner*innen in den verschiedenen Settings sehr beeinflusst. Viele Akteur*innen des Öffentlichen Gesundheitsdienstes waren über die Pandemiewellen hinweg über Monate in besonderem Maße in die Pandemiebewältigung eingebunden. Andere Settings, vor allem Kitas, Schulen und Pflegeeinrichtungen, waren ihrerseits mit Einschränkungen der normalen Abläufe und entsprechenden Anpassungsmaßnahmen befasst, zudem bestanden hier über lange Zeiträume Kontakt- und Zutrittsbeschränkungen. In nahezu allen Projekten und Programmen mussten deshalb geeignete Strategien und Ansätze entwickelt werden, um die laufenden Prozesse und Maßnahmen zur Stärkung der Gesundheit fortzusetzen, gerade weil die Pandemie bei benachteiligten Bevölkerungsgruppen entsprechende Unterstützungsbedarfe noch einmal mehr als verdeutlicht hat.

Es brauchte deshalb viele kreative Ideen und Lösungsansätze, um beispielsweise die Arbeit von Steuerungsgruppen und Gremien fortzusetzen, Austausch, Vernetzung und Fachveranstaltungen zu organisieren und Unterstützungsangebote für die unterschiedlichsten Dialoggruppen auf alternativen Wegen zugänglich zu machen. Die Pandemie bedeutete hierbei einen enormen Schub für die Digitalisierung auch in der Praxis der Gesundheitsförderung und Prävention, da in vielen Fällen digitale Plattformen und Kanäle genutzt wurden und sicher auch künftig zumindest zum Teil weiter genutzt werden. In Bremen haben wir zudem zwei Projekte gestartet, mit denen wir unmittelbar auch zur Pandemiebewältigung beitragen - #IQ-Covid und Gesundheitsfachkräfte in benachteiligten Quartieren, vielleicht kommen wir auf die später noch zu sprechen.

Trotz leidvoller Pandemieerfahrungen: Prävention und Gesundheitsförderung haben nach wie vor nicht den notwendigen Stellenwert auf der politischen Agenda

Ist aus Ihrer Sicht eine Zäsur festzustellen, die den Blick auf Prävention und Kooperation verändert und die Notwendigkeit gesundheitsfördernder Konzepte stärker anerkennt? Hat sich die Notwendigkeit neuer Arbeitsschwerpunkte gezeigt?

Leider hat sich der Blick auf Prävention und Gesundheitsförderung nicht zum Positiven verändert. Ich vermisse ein ganzheitliches Konzept, in dem die Auswirkungen der Pandemie einerseits, andererseits aber auch die Auswirkungen der staatlichen Maßnahmen über die jeweils aktuelle Situation hinaus betrachtet werden. Wichtig sind vor allem auch die sektor- oder ressortübergreifende Analyse, konzeptionelle Abstimmung und Zusammenarbeit.

Hierzu ein Bespiel: Mit dem Zweiten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite von Mai 2020 wurde durch Änderung des SGB V die Verpflichtung der Krankenkassen, die bis dato gesetzlich vorgegebenen Sollwerte für Primärprävention und Gesundheitsförderung einzuhalten, ausgesetzt. Das hieß praktisch: Die GKV waren nicht mehr verpflichtet, die im Präventionsgesetz festgeschriebenen Soll-Ausgaben für diesen Bereich zu erreichen, sondern durften auch darunterbleiben.

Die Begründung dafür lautete, dass viele Lebenswelten für die Primärprävention, wie z.B. Kindertageseinrichtungen, Schulen oder Sportstätten, geschlossen seien. Auch Angebote der betrieblichen Gesundheitsförderung und Prävention, so die Argumentation, könnten nicht stattfinden, da sich viele Erwerbstätige im Homeoffice oder in Kurzarbeit befänden und Präventionskurse derzeit allenfalls eingeschränkt stattfinden könnten, sofern digitale Kommunikation hierfür genutzt werden könne.

Diese Aussetzung der Mittelverwendung erscheint nur teilweise nachvollziehbar. So ist für die betrieblichen Lebenswelten im Zusammenhang mit SARS-CoV-2/Covid-19 ein Anstieg psychosozialer Belastungen festzustellen, die sich auf das Arbeitsleben auswirken, wie Arbeitsüberlastung und Überforderung, Konflikte, Stigmatisierungsprozesse, Stress, Zukunfts-/Existenzängste, Störungen der Work-Life-Balance, soziale Isolation u.a.m. Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung (BGF) bieten hier erhebliche Unterstützungspotenziale zur Stärkung gesundheitsförderlicher Strukturen. BGF fungiert als Plattform und Netzwerk, in dem Gesundheitsrisiken diskutiert, Belastungs- und Gefährdungsschwerpunkte ermittelt und beurteilt und die Kommunikation zwischen Hierarchieebenen erleichtert sowie Beratungsangebote initiiert und koordiniert werden.

Es ist wichtig, dass die wesentlichen organisationsbedingten Probleme in den Betrieben partizipativ ermittelt und Lösungen entwickelt und umgesetzt werden. Dazu bedarf es einer Unterstützung durch Angebote der Gesundheitsförderung. Ausschließlich externe Angebote dritter Stellen oder individuelle Kompensationsstrategien können dies nicht ersetzen. Im Übrigen ist auf den SARS-CoV-2 Standard des BMAS zu verweisen, der genau solche Vorgehensweisen fordert.

Für die nichtbetrieblichen Settings gilt: Die Schließung von Bildungseinrichtungen wurde sukzessive aufgehoben und mit Beginn des Schuljahres 2021/2022 der Präsenzunterricht für alle wieder eingeführt. Die Belastung der dort arbeitenden und lernenden Personen hat unter völlig veränderten Rahmenbedingungen des Neustarts dennoch eher zu- als abgenommen. Gerade deshalb müssen gesundheitliche Ressourcen gestärkt und Belastungen abgebaut werden. Die Angebotsformate dafür müssen an die Rahmenbedingungen z.B. durch verstärkte Nutzung digitaler Angebotsformen angepasst werden. Es bringt überhaupt nichts, sie einfach auszusetzen. Eine entsprechende Forderung hat auch die Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. im Gesetzgebungsverfahren erhoben. Diese fand jedoch keine Berücksichtigung. 

Politik hat das Infektionsgeschehen nicht ausreichend in den Blick genommen: Menschen in prekären Lebensverhältnissen sind überproportional betroffen

Meine Einschätzung ist insgesamt, dass die Auswirkungen der politischen Entscheidungen nicht hinreichend bedacht worden sind und die Betroffenenperspektive viel zu kurz gekommen ist. Die Lebensverhältnisse vor Ort wurden kaum in den Blick genommen und es fehlen Beteiligungsformate, um die jeweiligen Zielgruppen mit ihrer Expertise einzubinden. 

Die Herangehensweise insgesamt ist zu undifferenziert gewesen. Eine Analyse der von der Pandemie betroffenen Bevölkerungsgruppen erfolgte nicht. Die Impfungen hätten zuerst in den Quartieren stattfinden müssen, wo die höchsten Infektionszahlen aufgetreten sind – erst sukzessive ist man in einigen Kommunen mit mobilen Impfteams dazu übergegangen.  

Der Schwerpunkt lag auf der Versorgung der Kranken, was ja auch richtig ist. Gleichzeitig hätte durch Berücksichtigung der Lebensverhältnisse vor Ort und in der Folge eine andere Impfpriorisierung eine wirksamere Präventionsstrategie entwickelt werden können.  

Ich vermisse auch die Berücksichtigung sozialer Aspekte. Beispielsweise bei der Verteilung der Masken an alle über 60jährigen. Das einzige Kriterium war das Alter und nicht die finanzielle Situation. 

Das Robert Koch-Institut (RKI) hat im März Daten zu sozialen Unterschieden in der COVID-19-Sterblichkeit während der zweiten Infektionswelle in Deutschland veröffentlicht. Danach fiel der Anstieg der COVID-19-Todesfälle in sozial benachteiligten Regionen am stärksten aus – sowohl bei Männern als auch bei Frauen. Im Dezember 2020 und im Januar 2021 lag die COVID-19-Sterblichkeit in sozial stark benachteiligten Regionen um rund 50 bis 70 Prozent höher als in Regionen mit geringer sozialer Benachteiligung. Für Menschen in prekären Lebensverhältnissen war es überproportional wahrscheinlich, sich zu infizieren, von schwereren Verläufen betroffen zu sein und auch daran zu versterben.

Kinder und Jugendliche in sozial benachteiligten Lagen sind stärker gesundheitlich beeinträchtigt

Das betrifft selbstverständlich auch Kinder und Jugendliche. Seit langem ist bekannt, dass Kinder und Jugendliche in sozial benachteiligten Lebenslagen häufiger gesundheitlich beeinträchtigt sind. In den letzten Jahren haben zahlreiche nationale und internationale Studien gezeigt, dass die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in einem engen Zusammenhang mit dem sozioökonomischen Status der Familie steht, in der sie aufwachsen. Auch die Daten der Basiserhebung der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS-Basiserhebung), die in den Jahren 2003 bis 2006 vom Robert Koch-Institut (RKI) durchgeführt wurde, sowie der anschließenden ersten Folgebefragung (KiGGS  Welle 1) aus den Jahren 2009 bis 2012 belegen dies. So sind Kinder und Jugendliche aus Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status deutlich häufiger als Gleichaltrige aus sozioökonomisch bessergestellten Familien in ihrer Gesundheit beeinträchtigt.  

Kein Erkenntnisdefizit, sondern ein Handlungsdefizit! Eine Präventionsstrategie für Bund, Länder und Kommunen ist überfällig

Die seit langen bekannten Erkenntnissen haben bei den politischen Entscheidungen keinerlei Berücksichtigung gefunden. Notwendig ist aus meiner Sicht ein Umsteuern bei der Schwerpunktsetzung der Politik: Wir brauchen eine abgestimmte Strategie für eine Lebenslagenpolitik, die ressortübergreifend konsensual vor die Klammer gezogen und aus politischen Auseinandersetzungen herausgehalten wird. Die Entscheidungen aller Ressorts müssen stärker ineinandergreifen und auf einander abgestimmt werden. Die Versäulung zwischen den einzelnen Ressorts darf nicht durch unkoordinierte Maßnahmen noch verstärkt werden. Ein Beispiel ist der Pakt für den öffentlichen Gesundheitsdienst, den ich für richtig halte. Aber die Bereitstellung der Mittel hätte an inhaltliche Vorgaben geknüpft werden müssen, z. B. an die Entwicklung einer sektorübergreifenden kommunalen Präventionsstrategie mit dem Ziel, gleichwertige Lebensbedingungen zu fördern. 

Schon vor der Pandemie hatten sich Jugendhilfeeinrichtungen auf den Weg gemacht, gesundheitsförderlicher zu werden

Eines Ihrer Tätigkeitsfelder besteht in der Unterstützung von Erziehungs- und Bildungseinrichtungen mit dem Ziel, sich zu gesundheitsförderlichen Institutionen mit gesundem Lebensstil aller in diesen Einrichtungen Lernender, Arbeitender und Lebender weiterzuentwickeln. Gibt es auch Angebote für Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe? Werden sich die Inhalte und Konzepte in den Einrichtungen nach den Erfahrungen mit COVID 19 verändern? Was wird benötigt, auf vergleichbare außergewöhnliche Ereignisse vorbereitet zu sein?

Bereits vor der Pandemie hatten sich viele Kitas und Schulen auf den Weg gemacht, durch interne Organisationsentwicklungsprozesse, Qualifizierungsmaßnahmen sowie Angebote für Kinder, Lehrer*innen, Erzieher*innen und auch Eltern gesundheitsförderlicher zu werden. Mit der Pandemie mussten dann durch die Einschränkung von Präsenz neue Wege gefunden werden, auch an solchen Themen weiterzuarbeiten. Ich glaube, die Einrichtungen haben einen großen Digitalisierungsschub bekommen, der auch für Angebote zur Gesundheitsförderung hilfreich ist. In einem unserer Projekte haben wir beispielsweise digitale Bewegungs-Kurse für Erzieher*innen, Eltern und Kinder angeboten. Wir merken auch insgesamt, dass Kita-Fachkräfte und Lehrer*innen digitale Qualifizierungsformate gut annehmen, da sie ortsunabhängig daran teilnehmen können. Oft ist die Entwicklung aber auch stark vom persönlichen Faktor abhängig: Dem Engagement der Eltern, der Kita- und Schulleitungen und der Mitarbeiter*innen.

Aber es geht auch um politische Signale und Prioritäten: Das Land Bremen hat hier einen bemerkenswerten Kurs eingeschlagen. Bremen hat die Kitas und Schulen lange geöffnet gelassen und als systemrelevant eingestuft, schließlich mussten die Betreuung, frühkindliche und schulische Bildung weitergehen. Vielerorts hörte man, dass etwa das Homeschooling den Kontakt zu Schüler*innen erschwert hat und vielen das gewohnte Umfeld und die Routinen der Schule, die sozialen Kontakte und die engere Betreuung gefehlt haben. Daher war der Ansatz in Bremen, die Kitas und Schulen lange geöffnet zu lassen, durchaus sinnvoll. Außerdem wurde hier die Situation der Eltern berücksichtigt, denen mit Kinderbetreuung und Homeoffice ja auch einiges aufgebürdet wurde. Damit wurden für den Bildungsbereich auch andere Unterstützungssysteme generiert. Bremen hat durch diesen Weg kein höheres Infektionsgeschehen gehabt.  

Stadtteilbezogene Unterstützungsleistungen im Rahmen der Covid-19-Pandemie in Bremen 

Das Land Bremen hat das Projekt „Stadtteilbezogene Unterstützungsleistungen im Rahmen der Covid-19-Pandemie“ auf den Weg gebracht. Sind Kindertagestätten, Schulen, Jugendhilfe- oder Jugendfreizeiteinrichtungen eingebunden? Über welche Erfahrungen kann im Rahmen des Projektes insbesondere in Bezug auf benachteiligte Kinder und Jugendliche berichtet werden?

Das Land Bremen hat als einziges Bundesland bereits Ende 2020 sozialepidemiologische Erhebungen zum Infektionsgeschehen vorgenommen. Diese wiesen bereits im November 2020 ein ungleich verteiltes Infektionsgeschehen in den Bremer Stadtteilen nach. Insbesondere in benachteiligten Quartieren lagen die Fallzahlen deutlich über dem Bremischen Durchschnitt. Als mögliche Ursachen hierfür gelten soziale Faktoren wie beispielsweise beengter Wohnraum und prekäre Beschäftigungsverhältnisse, die die Einhaltung von Abstands- und Hygieneregelungen erschweren. Sprachliche Barrieren und der Bildungsstand wiederum beeinflussen zusätzlich die individuellen Möglichkeiten, relevante Gesundheitsinformationen zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und letztlich anzuwenden. Gleichzeitig waren fundierte Informationen zu den Corona-Maßnahmen für Menschen in benachteiligten Lebenslagen oft nur schwer zugänglich.

Noch Ende 2020 hat der Bremer Senat kurzfristig auf die Berichtslagen mit der Förderung stadtteilbezogener, präventiver Unterstützungsangebote reagiert. Diese Angebote sind in zwei Projekte untergliedert, die eng vernetzt miteinander arbeiten. Dabei handelt es sich um ein Informations- und Qualifizierungsangebot für Akteurinnen und Akteure in betroffenen Stadtteilen (IQ-Covid) und um die Installation von Gesundheitsfachkräften in benachteiligten Quartieren.

Finanziert werden die Projekte durch die Senatorin für Gesundheit, Frauen und Verbraucherschutz. Beide Projekte werden von der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e. V. (LVG & AFS) koordiniert.

Zum Projekt „Stadtteilbezogene Unterstützungsleistungen im Rahmen der Covid-19-Pandemie in Bremen“:

Gemeinsames Ziel der Projekte ist es, Bevölkerungsgruppen, die bisher nicht oder nur unzureichend erreicht wurden, mit passgenauen Informationen zum Coronavirus unter Berücksichtigung von Bremer Spezifika zu versorgen. 

IQ-Covid:
Das Projekt „IQ-Covid“ zielt darauf ab, adressat*innengerechte, niedrigschwellige Informationen in verschiedenen Sprachen rund um das Thema „Corona“ bereitzustellen und diese passgenau und unter Einbezug von stadtteilbezogenen Strukturen, zum Beispiel an Community Peergroups, Projekte und Netzwerke zu vermitteln. Zudem werden digitale Informationsplattformen und soziale Medien genutzt. Die im Projekt erstellten Informationsmaterialien sowie eine umfangreiche Linksammlung sind abrufbar. 

Gesundheitsfachkräfte in Bremer Quartieren:
Um dem pandemiebedingt hohen Bedarf nach einer sozialmedizinischen Arbeit an der Schnittstelle von Sozialberatung und Gesundheitskompetenzförderung in den Stadtteilen zu decken, wurden elf Stellen für qualifizierte Gesundheitsfachkräfte geschaffen. Die Fachkräfte werden schwerpunktmäßig in benachteiligten Stadtteilen eingesetzt und stellen dort eine Art Anlaufstelle im Stadtteil für Fragen im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie dar.

Mehr zu den Inhalten stehen auf der Website der Landesvereinigung für Gesundheit zur Verfügung. 

Beratung und Kooperation direkt im Quartier

Seit dem 1. März 2021 haben mittlerweile elf Gesundheitsfachkräfte nach einer Einstiegsqualifizierung ihre Arbeit in vierzehn sozial benachteiligten Quartieren aufgenommen. Die Gesundheitsfachkräfte sind in Einrichtungen direkt in den Quartieren angesiedelt, wo sie eng mit den Akteurinnen und Akteuren und Schlüsselpersonen vor Ort zusammenarbeiten. Zu den Aufgaben der Gesundheitsfachkräfte gehört es, Bewohnerinnen und Bewohner für die Gefahren durch das Corona-Virus zu sensibilisieren, über die aktuell geltenden Hygiene- und Infektionsschutzmaßnahmen sowie über die Impfstrategie zu informieren – und das auch in unterschiedlichen Sprachen. Als Informationskanäle dienen unter anderem schriftliche Materialien wie Poster und Postkarten, (digitale) Informationsveranstaltungen und Soziale Medien wie YouTube und WhatsApp. 

Auch wenn der Fokus der Arbeit zunächst auf der Corona-Pandemie liegt, sollen mit den Gesundheitsfachkräften auch langfristig nachhaltige Strukturen zur Stärkung der Gesundheitskompetenz in Bremer Quartieren aufgebaut und etabliert werden.

Mit dem Ziel, Sprachbarrieren bei der Vermittlung von Informationen zur Corona-Pandemie abzubauen, produzieren Studierende der Jacobs University in Kooperation mit der LVG & AFS im Rahmen eines "Community Impact Projects" seit Ende Februar darüber hinaus einen wöchentlichen Corona-Report in sechs verschiedenen Sprachen. Die fünf- bis zehnminütigen Videos erklären das aktuelle Infektionsgeschehen und liefern Informationen zu wöchentlich wechselnden Themenbereichen, zum Beispiel zur Schutzimpfung und dem Tragen von Masken, sowie praktische Gesundheitstipps. Die Videos stehen in sechs Sprachen zur Verfügung: Arabisch, Englisch, Französisch, Rumänisch, Russisch und Türkisch. 

Impfstrategie vor allem dort wo das Infektionsgeschehen besonders groß war: In sozial benachteiligten Quartieren

Hervorzuheben ist außerdem die differenzierte Coronapolitik in Bremen: das Land Bremen hat schon sehr früh die Interessen von Kindern und Jugendlichen in den Blick genommen und die Schulen und Kitas im Lockdown länger geöffnet gelassen als in anderen Bundesländern. Das Infektionsgeschehen war im Vergleich mit anderen Bundesländern nicht signifikant höher. Als eines der ersten Bundesländer hat Bremen außerdem Impfungen vorgenommen, wo das Infektionsgeschehen besonders groß war: In sozial benachteiligten Quartieren. 

Konzepte zur Zusammenarbeit zwischen dem öffentlichen Gesundheitsdienst und der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe?

Die LVG & AFS unterstützt Einrichtungen des Gesundheitswesens bei der Entwicklung innovativer, gesundheitlicher Versorgungs- und Kooperationsstrukturen und der Umsetzung von Gesundheitsförderung. Ihr Aufgabenfeld der Evaluation und Praxisforschung befasst sich mit der Untersuchung und Optimierung von Strukturen, Prozessen und Ergebnissen von Interventionen der Prävention und Gesundheitsförderung. Nach meinen Erfahrungen gibt es kaum organsierte und eingeübte Zusammenarbeitskonzepte zwischen dem öffentlichen Gesundheitsdienst und der Öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe?

Das kann ich bestätigen. Mit Ausnahme der Präventionsketten in Niedersachsen, die jedoch nicht flächendeckend eingerichtet wurden. Das Modell der Präventionskette ist darauf ausgerichtet, ein umfassendes und tragfähiges Netz für Kinder, Jugendliche und Eltern in der Kommune unter Beteiligung aller zu entfalten. Ziel ist, bestehende Netzwerke, Angebote sowie die Akteur*innen so zusammenzuführen, dass ein untereinander abgestimmtes Handeln möglich wird. Bei Bedarf können neue Angebote im Konsens entwickelt werden.

Entsprechende Konzepte sollten nach meiner Auffassung über den Projektstatus hinaus weiterentwickelt werden und zum Standard in allen Kommunen werden.  

Neue gesetzliche Grundlagen schaffen: Prävention als Regelleistung und Pflicht zur Zusammenarbeit gesetzlich verankern

§ 5 des Niedersächsisches Gesetzes über den öffentlichen Gesundheitsdienst (NGöGD) vom 24. März 2006* schreibt in Bezug auf die Kinder- und Jugendgesundheit vor: „Die Landkreise und kreisfreien Städte schützen und fördern besonders die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Dazu sollen sie insbesondere gemeinsam mit Tageseinrichtungen für Kinder und Schulen zielgruppen- und lebensraumbezogen auf die Prävention und auf eine gesunde Entwicklung von Kindern und Jugendlichen hinwirken“.

Die Pandemie hat gezeigt, dass Kinder und Jugendliche wegen der zeitweiligen Schließung der Einrichtungen nicht erreicht werden konnten. Benötigen wir zukünftig nicht weitere Präventionskonzepte für die Kinder- und Jugendgesundheit zur Unterstützung von Kindern und Jugendlichen und ihren Familien? Muss die seit 2006 geltende Vorschrift, die ähnlich in anderen Bundesländern formuliert ist, nicht erweitert und angepasst werden?

Wir brauchen insgesamt ein neues ÖGD Gesetz mit stärkeren inhaltlichen Schwerpunkten und verpflichtenden Elementen– z. B. der Untersuchung der 4-jährigen durch die Kinder- und Jugendärztlichen Dienste der Gesundheitsämter in den Kindertagesstätten. Das vom Landkreis Hildesheim entwickelte Konzept PIAF hat sich bewährt und wird als „freiwillige Leistung“ inzwischen von immer mehr Landkreisen und kreisfreien Städten angeboten. Vergleichbare Angebote müssen dringend als Regelleistung – unterstützt von Bund oder Land – angeboten werden, zumal durch frühe Prävention spätere kostenintensive Maßnahmen vermieden werden können. Wir brauchen klar definierte Aufgaben, die nicht der Einschätzung der Gesundheits- und Jugendämter obliegen und von der jeweiligen kommunalen Haushaltslage abhängig sind.

Die Arbeit der Gesundheitsämter muss dringend intersektoraler werden. Gesundheit muss als Querschnittsthema implementiert werden und die Netzwerkarbeit muss intensiviert werden. 

Aufgabe der Kommunen: Gemeinsame Orientierung der Ämter als Grundlage zur Zusammenarbeit über die „organisatorischen Säulen“ hinweg

Das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf hat mit seiner „COPSY-Studie“ sehr deutlich auf die Folgen der Pandemie für die seelische Gesundheit und psychische Belastungen von Kindern und Jugendlichen bereits in der ersten Welle der COVID-19-Pandemie hingewiesen. Alarmierend sind auch die Hinweise auf die Zunahme von Gewalt und sexuellen Missbrauchs von Kindern. Müssen jetzt nicht zügig regionale Konzepte unter Einbezug aller für das Wohl der Kinder verantwortlichen Akteure (Jugendhilfe/Jugendämter, Schulen/Schulsozialarbeit, Kindertagesstätten, Beratungsstellen, Sozialpsychiatrische Dienste, Kinder- und Jugendärztliche Dienste, Sozial- und Bildungsämter, Jobcenter etc.) entstehen?

Das ist der richtige Weg: die Ämter müssen eine gemeinsame Orientierung finden wie in den Präventionsketten. Die Zusammenarbeit auf der Basis gemeinsamer Ziele ohne Konkurrenz mit dem Blick für Lebensverläufe alle Kinder schafft die Voraussetzungen für präventiv gestaltete Rahmenbedingungen. Hier sind verschiedene Ebenen angesprochen: Die Fachebene und die politische Ebene müssen gemeinsam die Voraussetzungen dafür schaffen. Triebfeder für einen solchen Weg ist in jedem Fall auch die Führungsebene in den Kommunen.  

Die psychische Belastung der Kinder hat durch die Pandemie weltweit zugenommen – gezielte Unterstützung ist notwendig

Die LVG & AFS ist zuständig für die Netzwerkkoordination des bundesweit ausgerichtet Netzwerks Sozialpsychiatrischer Dienste. Die Ergebnisse der bereits erwähnten COPSY-Studie haben gezeigt, dass sich 71 % der Kinder und Jugendlichen und 75 % der Eltern bereits durch die erste Welle der Pandemie belastet fühlen. Der Anteil von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Auffälligkeiten hat sich etwa verdoppelt. Das Netzwerk Sozialpsychiatrischer Dienste bündelt unabhängig von Berufsgruppe und Trägerschaft die Expertise aller in den Sozialpsychiatrischen Diensten Tätigen und ist ein wichtiges fachliches Gremium.

Wie beurteilen die Fachkräfte die Entwicklung? Welche kurzfristigen Erfordernisse gibt es? Ist es beispielsweise wünschenswert, Mittel aus dem „Aufholpaket“ für neue Konzepte und Maßnahmen auf der Basis von Zusammenarbeit zwischen sozialpsychiatrischen Einrichtungen und der Schulsozialarbeit einzusetzen?

Die Koordinierungsstelle Gesundheitliche Chancengleichheit Niedersachsen, die bei der LVG & AFS angesiedelt ist, hat im April diesen Jahres Themenhefte zu gesundheitlicher Chancengleichheit (in der Corona-Pandemie) veröffentlicht, darunter eines zu Kindern und Familien in der Krise –Herausforderungen und Handlungsansätze.

Verschiedene Untersuchungen bestätigen, dass vor allem die psychische Belastung von Kindern, Lernschwierigkeiten in der Schule und familiärer Stress deutlich zugenommen haben. Von diesen Belastungen sind aber nicht alle Kinder gleichermaßen betroffen. Schon vor der Pandemie waren niedriger Bildungsstand der Eltern, beengte Wohnverhältnisse und Migrationshintergrund erwiesene Risikofaktoren für psychische Probleme bei Kiern.

In dieser Lage ist es notwendig, sozial benachteiligte Kinder und Familien gezielt und intensiv zu unterstützen, da bisherige Anlaufpunkte wie z.B. Kitas, Schulen, Jugendzentren, nicht oder nur eingeschränkt erreichbar sind bzw. waren. Wir brauchen deshalb verlässlichere Konzepte, um insbesondere Kinder aus benachteiligten Familien zu unterstützen und ihre Gesundheit zu stärken, damit diese nicht noch weiter abgehängt werden.

Gesundheitliche Risiken identifizieren, Ressourcen bündeln, Zusammenarbeit der Leistungsträger gesetzlich vorschreiben, den Öffentlichen Gesundheitsdienst multiprofessionell ausstatten

Welche Maßnahmen zur Prävention und Gesundheitsförderung halten Sie aktuell für die dringendsten? Benötigen wir nicht z. B. einen abgestimmten Masterplan von Bund, Ländern und Kommunen der Ziele, Maßnahmen, Zuständigkeiten und ein Finanzierungskonzept enthält?

Ja, das brauchen wir! Es ist dringend notwendig, stärker als bisher die gesundheitlichen Risiken, aber auch die Ressourcen der verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu identifizieren und daraus den Handlungsbedarf abzuleiten. In den Arbeitsgruppen zu den nationalen Gesundheitszielen gibt es entsprechende Ansätze. Es ist jedoch notwendig, zusätzlich Mittel zur Verfügung zu stellen. Geld, das jenseits der jetzigen Haushaltsstrukturen bereitgestellt werden muss.

Wir brauchen eine Durchlässigkeit von Leistungsgewährung über die Sozialgesetzbücher hinweg. Die Finanzierung von Gemeinschaftsangeboten sollte in den jeweiligen Leistungssäulen von SGB V, VIII, IX, XII gesetzlich vorgesehen werden. Die Leistungen müssen den Bedürfnissen der Betroffenen entsprechend gestaltet werden können, ohne das einzelne Leistungsträger an ihre Grenzen kommen. Gemeinsame Fallkonferenzen wären ein Weg. Die Leistungsträger brauchen eine gesetzlich geregelte Option, die Hilfen passgenauer, durchlässiger und familien- und kindorientierter zu gestalten. Kreativität ist gefragt. Die strukturellen Rahmenbedingungen müssen dafür geschaffen werden.

Der Öffentliche Gesundheitsdienst benötigt zudem eine andere personelle Ausstattung. Neben den Ärztinnen und Ärzten werden Gesundheitswissenschaftler, Psychologinnen und Psychologen sowie Pflegekräfte in multiprofessionellen Teams benötigt. Es bietet sich an, hier den Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst zu nutzen und die Expertise der Gesundheitsämter zu stärken. 

Ziel muss es sein, auch jenseits des Infektionsschutzes allen Menschen unabhängig von ihrer sozialen oder ökonomischen Lage ein Leben in Gesundheit zu ermöglichen. 

Kommen wir noch einmal zurück zu den Erkenntnissen und Handlungserfordernissen, denen wir uns in der Pandemie gegenübersehen.

In der Pandemie haben sich nicht nur die unmittelbaren Gesundheitsrisiken für einige Bevölkerungsgruppen verschärft, sondern auch vorhandene Armutslagen, weil beispielsweise ALG-II-Regelsätze trotz erwiesener Mehrbedarfe nicht erhöht wurden. Auch die Bildungschancen von Kindern aus benachteiligten Familien haben sich verschlechtert, unter anderem aufgrund fehlender digitaler Endgeräte im Dauer-Home-Schooling und kaum Fördermöglichkeiten außerhalb des Elternhauses. All dies kann sich auch mittel- und langfristig auf die sozialen und gesundheitlichen (Teilhabe-)Chancen von Menschen in schwierigen Lebenslagen auswirken. Diese Befunde haben wir auf der diesjährigen Jahrestagung der LVG & AFS ins Blickfeld gerückt und die Frage diskutiert, wie Chancenungleichheiten verringert werden können, insbesondere im Hinblick auf soziale Teilhabe und Gesundheit.

Klar ist, dass es jetzt schnell integrierter Strategien der Gesundheitsförderung und Prävention bedarf. Punktuelle Einzelmaßnahmen werden kaum dazu beitragen, die Gesundheitschancen von benachteiligten Gruppen wesentlich zu erhöhen, ob in der Pandemie oder danach. Vielmehr müssen die Zusammenarbeit unterschiedlichster Akteurinnen und Akteure sowie gemeinsame, abgestimmte Konzepte gestärkt werden, die verschiedene Faktoren adressieren, die Gesundheit beeinflussen, und die entsprechenden Angebote, Strukturen und Maßnahmen verzahnen und (weiter-) entwickeln. 

Herr Altgeld, ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch.

Das Interview führte Erste Stadträtin a. D. Christa Frenzel.

Zur Person:

Thomas Altgeld ist Diplompsychologe und seit 1993 Geschäftsführung der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e. V. Er ist im Vorstand der Bundesvereinigung für Prävention und Gesundheitsförderung e. V. sowie Leiter der Arbeitsgruppe „gesund aufwachsen“ und der Arbeitsgruppe "Gesundheit rund um die Geburt“ bei www.gesundheitsziele.de. Thomas Altgeld ist unter anderem Mitglied im Gesundheitsbeirat des Deutschen Olympischen Sportbundes sowie Vorstandsvorsitzender des BUNDESFORUM MÄNNER Interessenverband für Jungen, Männer & Väter e. V.

Über die LVG und AFS:

Die Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e. V. (LVG & AFS) ist ein gemeinnütziger, unabhängiger und landesweit arbeitender Fachverband für Gesundheitsförderung und Prävention mit dem Ziel, zur Verbesserung der gesundheitlichen Chancengleichheit der Bevölkerung beizutragen. Mitglieder sind Personen und Institutionen aus dem Gesundheits-, Sozial und Bildungsbereich. Die LVG & AFS hat ihren Sitz in Hannover sowie einen Standort in Bremen.

Ziel der Arbeit des Vereins ist es, zur Verbesserung der Gesundheit und der gesundheitlichen Chancengleichheit der Bevölkerung beizutragen. Zu den Arbeitsfeldern der LVG & AFS zählen lebensphasen- und soziallagenbezogene Gesundheitsförderung und die Beratung und Prozessbegleitung von Akteur*innen in unterschiedlichen Settings (u.a. Kitas, Schulen, Kommunen und Pflegeeinrichtungen), die Planung und Durchführung von Fachtagungen und Qualifizierungsangeboten, Praxisforschung und Evaluation sowie die Veröffentlichung von Fachpublikationen.

Aktuelle Arbeitsschwerpunkte sind unter anderem: Gesundheitsförderung in Bildungseinrichtungen, Kommunale Gesundheitsförderung, Migration/Gender/Inklusion und Gesundheit, Evaluation und Praxisforschung

Mehr dazu auf den Websites der Landesvereinigung für Gesundheit.

Redaktion: Iva Wagner

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