Gesundheit
Nichts gelernt aus der Pandemie? – Wieder leiden Kinder und ihre Familien
Die Health Behaviour in School-aged Children 2024 zeigt, dass COVID-19-Maßnahmen wie Schulschließungen schwere Auswirkungen auf die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen haben. Laut der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin, leiden trotz allgemein hoher Zufriedenheit viele unter psychosomatischen Beschwerden.
09.07.2024
Die Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ) Heidrun Thaiss fordert dringend angepasste Unterstützungsmaßnahmen, um die Belastungen zu mindern und Gesundheitskompetenz zu fördern, kritisiert jedoch Sparmaßnahmen in der Bildung. Die jüngsten Ergebnisse der HBSC-Studie 2024 haben Ärzten und der Gesellschaft eindrücklich vor Augen geführt, welch dramatische Auswirkungen die Zwangsmaßnahmen der COVID-19-Pandemie wie Kita- und Schulschließungen auf die körperliche und seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen hatten und immer noch haben.
Obwohl der Großteil der Kinder und Jugendlichen in Deutschland in subjektiv wahrgenommener guter Gesundheit und Lebenszufriedenheit aufwächst, leidet fast die Hälfte aller älteren Jungen und Mädchen (42%) noch immer unter multiplen psychosomatischen Beschwerden. Etwa die Hälfte der Mädchen und ein Drittel der Jungen klagt über Kopfschmerzen, Bauch- und Rückenbeschwerden sowie Einschlafprobleme und Niedergeschlagenheit.
Erkenntnisse aus der HBSC-Studie
Für die Studie Health Behaviour in School-aged Children (HBSC) sind ab dem Schuljahr 2009/10 alle vier Jahre 11- bis 15-Jährige befragt worden. Die letzte Fragebogen-Erhebung bezog im Jahr 2022 rund 6.500 Jugendliche ein. Die Studie berücksichtigt damit vier Datenvergleiche von insgesamt 21.788 Schüler*innen in einem 14-Jahres-Zeitraum. Im Gegensatz zu punktuellen Befragungen in einzelnen Kindergesundheitsberichten (z.B. der DAK), sind hier wie in den Daten der Kinder- und Jugendgesundheitsdienste des Öffentlichen Gesundheitsdiensts (KJGD) longitudinale Betrachtungen möglich. Erfreulich ist dabei die Erkenntnis, dass sich die Ungleichheiten zwischen sozial privilegierten und sozioökonomisch benachteiligten Jugendlichen seit 2017 nicht vergrößert haben. Dennoch verharren sie weiter auf hohem Niveau. Insgesamt sind die Ergebnisse für DGSPJ- Präsidentin, Prof. Heidrun Thaiss, äußerst beunruhigend, wie die folgenden Detailergebnisse untermauern:
- Insbesondere bei den älteren 13-15-jährigen Jugendlichen – und dabei vor allem bei den Mädchen sowie bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund zeigte sich eine Verschlechterung aller Indikatoren der subjektiven Gesundheit und des Wohlbefindens, überwiegend durch multiple psychosomatische Beschwerden. Hinzu kommt die Zunahme von Angst- und Depressions-Symptomatiken während und nach der Pandemie.
- Die subjektive Gesundheit und die Lebenszufriedenheit wurden im Jahr 2022 deutlich schlechter eingestuft als noch 2017/2018. In dieser Zeit stieg der entsprechende Anteil betroffener Schüler*innen stärker an als in jeder Erhebungswelle zuvor. Im Vergleich zu 2009/2010 ist die Verschlechterung signifikant. Auch der Anteil von Jugendlichen mit einer geringen Gesundheitskompetenz erhöhte sich um 3 Prozent.
- Knapp die Hälfte der befragten Jugendlichen fühlt sich zudem durch Klima- und Energiekrise sowie die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten in ihrer mentalen Gesundheit beeinträchtigt. Ein Drittel fürchtet zudem, dass diese Krisen ihre Zukunftsaussichten verschlechtern werden.
Maßnahmen zur Bewältigung der Pandemie-Folgen
Weitere Belastungen resultieren nach wie vor als Folge der Einschränkungen in den Lockdowns und dem daraus entstandenen Bruch sozialer Beziehungen während der Corona-Pandemie. „Kinder und Jugendliche leiden nach wie vor unter den Langzeitfolgen der Corona-Maßnahmen sowie zusätzlich durch weltweite Krisen“, interpretiert DGSPJ-Präsidentin Heidrun Thaiss diese Ergebnisse. Wissenschaftliche Daten der Arbeitsgruppe von Prof. Volker Mall, Co-Präsident der DGSPJ, bestätigen, dass primär junge Familien, Alleinerziehende und Eltern von Kindern mit besonderen Bedarfen erhöhten Stressleveln ausgesetzt waren und noch immer sind. Höchste Zeit also, Unterstützungsmaßnahmen für betroffene Kinder und Jugendliche alters- und geschlechtsangepasst sowie für deren Eltern - insbesondere bei den Betreuungsmöglichkeiten - zeitnah und nachhaltig zu etablieren. Für die DGSPJ fordert deren Präsidentin Thaiss daher:
- den schnellen Ausbau von Ressourcen vor Ort für eine umfassende und flächendeckende Identifikation von Risiken und passgenaue Unterstützung von Schulkindern, vorrangig durch Schulgesundheitsfachkräfte („School nurses“),
- ein kontinuierliches Gesundheitsmonitoring von Kindern und Jugendlichen, regional und national,
- die Stärkung der Kinder- und Jugendgesundheitsdienste im Rahmen des zu verstetigenden Pakts für den ÖGD,
- die Etablierung breiter Angebote zur Vermittlung von Gesundheitskompetenz und Resilienz in allen für junge Menschen relevanten Settings (Kitas, Schulen, Kinder- und Jugendzentren, Sportvereine). In allen Bildungseinrichtungen sollte die Vermittlung von Gesundheits-, Digital- und Sozialkompetenz nicht als isoliertes Fach, sondern ganzheitlich und fächerübergreifend in den schulischen Curricula verankert werden.
„Der Grundstein für die Gesundheit im Erwachsenenalter wird in Kindheit und Jugend gelegt. Unsere Zahlen zeigen leider, dass uns das als Gesellschaft nicht immer gut gelingt. Auch wenn die Kinder und Jugendlichen grundsätzlich zufrieden sind: Dass psychosomatische Beschwerden seit Jahren zunehmen und nur eine Minderheit sich ausreichend bewegt, kann schwerwiegende Folgen nach sich ziehen.“,
sagt Studienleiter Matthias Richter, Professor für Soziale Determinanten der Gesundheit an der TUM. Hier müssten mehr Angebote geschaffen werden, die junge Menschen auch tatsächlich erreichen, so Richter.
Stattdessen wurde jüngst der KiTa-Ausbau gestoppt und das KiTa-Investitionsprogramm den Sparzwängen der Bundesregierung unterworfen. Wieder sind Kinder und ihre Familien die Leidtragenden. So verkennt die Politik angesichts der multiplen internationalen Krisen offensichtlich, dass Investitionen in frühkindliche Bildung, die frühe Vermittlung von Gesundheitskompetenz und die organisationale Stärkung von Familien nicht nur die Grundlage wirtschaftlichen Wachstums, sondern auch das Fundament für eine freiheitliche demokratische Grundordnung legen.
Quelle: Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ) vom 05.07.2024
Termine zum Thema
Materialien zum Thema
-
Anleitung / Arbeitshilfe
How to...Fundraising. Fundraising in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit
-
Monographie / Buch
Einrichtungen stationärer Hilfen zur Erziehung
-
Stellungnahme / Diskussionspapier
Appell an BAföG-Ämter
-
Zeitschrift / Periodikum
AFET-Fachzeitschrift Dialog Erziehungshilfe 1-2024
-
Broschüre
Mitsprechen, mitbestimmen, mitgestalten – Praxiswissen zu Beteiligung in der Heimerziehung (SOS kompakt, Ausgabe 8)
Projekte zum Thema
-
Schulen
Bewegungs-Pass an Grundschulen
-
Kompetenzzentrum für Gesundheitsförderung in Kitas
Gute und gesunde Kita für alle! Kita-Qualität durch Gesundheitsförderung stärken
-
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Medizinische Kinderschutzhotline
-
Zukunftswerkstatt Rückenwind e. V.
Fugee Angels
-
Philipps-Universität Marburg
Corona-Befragung für Familien
Institutionen zum Thema
-
Sonstige
Gesundheit Berlin-Brandenburg e. V.
-
Stiftung / Fördereinrichtung
ginko Stiftung für Prävention, Landeskoordinierungsstelle für Suchtvorbeugung NRW
-
Sonstige
Hamburgische Arbeitsgemeinschaft für Gesundheitsförderung e.V. (HAG)
-
Träger der freien Kinder- und Jugendhilfe
transfer e.V.
-
Hochschule
Forschungsschwerpunkt: "Digitale Technologien und Soziale Dienste"