Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin

Im Gespräch über Homeschooling

Digitale Formate, selbstorganisiertes Lernen und Selbstmotivation: Auch wenn in den Bund-Länder-Beratungen für einige Schülerinnen und Schüler die Perspektive auf Wechselunterricht geschaffen wurde, wird ein Großteil weiterhin zuhause und digital beschult. Eine Situation, die vielerorts massiven Druck auf Familien ausübt.

18.02.2021

„Manche Familien bringt die momentane Lage mit den Leistungsanforderungen des Fernunterrichts, dem oftmals parallelen Home-Arbeiten der Eltern, möglicherweise gepaart mit einer beengten Wohnsituation, finanziellen Sorgen oder Zukunftsängsten, an die Grenzen. Home Schooling birgt in dieser sowieso schon hoch belastenden Situation massives Konfliktpotential“, berichtet Ingrid Lassonczyk-Haas, Diplom-Pädagogin und  Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin aus ihrer Beratungspraxis im SOS-Familienzentrum Berlin. Im Interview gibt sie Tipps, wie Eltern sich dem Home Schooling konstruktiv nähern und Konflikte so gut es geht vermeiden.

Home Schooling im Lockdown-Alltag

Stress und Streit prägen momentan den Lockdown-Alltag in vielen Familien. Wie kann man vorbeugen?

Eltern müssen wissen: Junge Menschen sind wie Seismographen! Wenn es den Eltern schlecht geht, wenn sie Sorgen haben und angespannt sind, merken Kinder das sofort, auch unbewusst, und reagieren entsprechend. Was ich sagen will: Wenn Eltern Spannungen zu Hause vermeiden wollen, ob zum Thema Lernen oder generell, sollten sie zunächst auch sehr genau auf sich selber und ihr eigenes Wohlergehen achten! Denn sie sind die Lebensgrundlage und Basis für ihre Kinder, gerade in unsicheren Zeiten. Wenn sie wackeln, wackelt das ganze „System Familie“. Daher: Fragen Sie als Eltern nicht nur, wie Sie die Situation für die Kinder besser gestalten können, sondern fragen Sie auch nach sich selbst! Fragen Sie sich, was Ihnen gut tut und was Ihnen Entspannung bringt. Machen Sie Pausen, suchen Sie Kraftquellen!

Selbst einigermaßen gelassene Eltern klagen über Konflikte rund ums Home Schooling. Auch viele junge Menschen haben Probleme damit. Einer aktuellen Studie (JIM-Studie 2020) zufolge empfinden viele Jugendliche vor allem das selbstorganisierte Lernen als schwierig. 60 Prozent der befragten Jugendlichen gaben an, sich schlecht für das Lernen außerhalb der schulischen Normalität motivieren zu können. Das birgt viel Konfliktpotential für Familien. Haben Sie Tipps, wie man junge Menschen daheim zum Lernen motiviert?

Lernen sollte, wenn irgendwie möglich, mit positiver Emotionalität und mit Bewegung verbunden sein. Denn Menschen können sich etwas einfach besser merken, wenn es emotional positiv gefärbt ist – eigentlich sollte Lernen Spaß machen und Freude bringen. Das heißt für Eltern momentan: Versuchen Sie, Ihrem Kind zu helfen, in solche positiven Lernsituationen und auch in Bewegung zu kommen. Aber wie, wenn man selbst total gestresst ist? Ich rate Eltern dringend zum Auslagern. Helfen Sie möglichst nur bei Fächern, die Ihnen auch selber liegen. Finden Sie für andere Bereiche Hilfe. Gibt es andere Familienmitglieder, die besser erklären können, Nachbarinnen und Nachbarn, die die Ruhe selbst sind, einen coolen Patenonkel oder eine nette Studentin, die super in Mathe ist, oder ältere Schülerinnen und Schüler, die helfen könnten? Sie alle können digital zugeschaltet werden und gemeinsam mit Ihren Kindern Aufgaben bearbeiten. Das minimiert das Konfliktpotential innerhalb der Kernfamilie massiv. Und haben Sie kein schlechtes Gewissen! Im Gegenteil. Machen Sie sich klar, dass Eltern eigentlich keine Lehrer sein sollten, das gebiert nur die momentane Ausnahmesituation. Versuchen sie Spannungen rund ums Thema Lernen auf diese Weise kleinzuhalten – denn die momentane Lage sorgt schon für genug Anspannung!

Und auch ganz wichtig: Bewegungspausen! Junge Menschen brauchen zwischendurch Bewegung, am besten draußen. Denn das hilft Spannungen abzubauen. Spazieren gehen, Skateboard fahren, Fahrradfahren, joggen o. ä. sollte in die Alltagsstruktur im Lockdown dringend integriert werden.

Umgang mit Konflikten

Gerade Eltern mit Kindern in der Pubertät rutschen immer wieder in die gleichen zermürbenden Konfliktsituationen, wenn es ums Lernen daheim geht. Was raten Sie speziell diesen Eltern?

Jugendliche in der Pubertät stehen vor einer ganz besonderen Entwicklungsaufgabe: der Ablösung von den Eltern. Diese natürliche Abnabelung wird durch die momentane Situation komplett – und erzwungen - zurückgedreht. Auf einmal sollen sie mit den Eltern gemeinsam lernen, sollen sich von ihnen, die sie eigentlich so infrage stellen, die Welt erklären lassen... Als Eltern muss man sich jetzt immer wieder klarmachen, was das für pubertierende Jugendliche bedeutet. Für das Miteinander heißt das: Grenzen müssen klar gesetzt, aber auch immer wieder demokratisch miteinander neu verhandelt werden. Gerade Jugendliche müssen aktiv beteiligt werden, wenn es um ihre Arbeitsstruktur für die Schule, aber auch um die Familienregeln in dieser Ausnahmesituation geht. Ja, das ist mühsam und anstrengend, aber es zahlt sich aus, wenn sich Jugendliche verstanden, angenommen und wahrgenommen fühlen. Frei nach Jesper Juul: Eltern sollten sich hier als Sparringspartner begreifen. Grenzen verhandeln, Grenzen ziehen und Orientierung bieten – aber niemals beschämen oder Schuld zuweisen.

Einen spannenden Aspekt aus der Hirnforschung würde ich hier auch gern noch erwähnen: Es ist wissenschaftlich belegt, dass Jugendliche in der Pubertät die Konsequenzen ihres Tuns besonders schlecht abschätzen können; es herrscht meist ein sehr kurzfristiges Denken vor. Daher wird ein Apell bspw. zur langfristigen Wichtigkeit des Lernerfolgs kaum ankommen, hier sollten Eltern eher auf kleine, kurzfristig ersichtliche Anreize und Anerkennung setzen.

Und was tun, wenn es doch so richtig kracht?

Da hilft erstmal nur: Raus aus der Situation! Sich eine kurze Verschnaufpause nehmen, so dass alle wieder zur Ruhe kommen können. Erst wenn wirklich alle Gemüter wieder abgekühlt sind, kann man Konflikte besprechen. Und das müssen die Erwachsenen im Zweifel vorleben – Konfliktsituationen erst einmal zu entschärfen liegt in der Verantwortung der Eltern, das kann von Kindern nicht erwartet werden. Den Streitpunkt sollte man allerdings später in einer ruhigen Gesprächssituation unbedingt noch einmal aufnehmen – nicht einfach darüber hinweggehen, sondern den Konflikt mit Blick auf eine Lösung nachbesprechen. Generell ist es in dieser belastenden Gesamtsituation wichtig, fehlerfreundlich sich selber und auch den Kindern gegenüber zu agieren. Es hilft, Fehler einzugestehen, sich zu entschuldigen, die Situation und Reaktion zu erklären. Wenn man allerdings immer wieder in die gleichen Streit-Situationen kommt, die Lage vielleicht sogar eskaliert, ist es Zeit, sich externe Hilfe zu holen. Erziehungsberatungsstellen oder Familienzentren bieten aktuell besonders schnell und unkompliziert Hilfe und Beratung an, auch online oder telefonisch.

Und bei Stress mit dem Partner? In der „Home School“ treten unterschiedliche Ansichten zum wichtigen Thema Bildung viel klarer hervor…

Verschiedene Meinungen sind ja erst mal nichts Schlechtes. Unterschiedliche Herangehensweisen an das Lernen zu Hause können sogar sehr positiv und bereichernd sein; die Kinder sind wahrscheinlich sogar dankbar für die Abwechslung. Natürlich sollten die Ansichten dazu nicht komplett konträr sein – daher ist der Austausch der Partner im Vorfeld immens wichtig: Wie schaffen wir es gemeinsam, diese für alle Familienmitglieder schwierige Situation zu meistern? Wer von beiden schafft es eher, die Ruhe zu bewahren? Ist es möglich, sich auch einmal zwischendrin abzulösen, wenn ein Elternteil an seine Grenzen kommt? Eltern sollten sich jetzt noch mehr als Team in der Unterstützung ihrer Kinder begreifen. Dazu gehört auch, wenn irgendwie möglich, sich als Paar nicht aus den Augen zu verlieren, sich kleine gemeinsame Auszeiten zu nehmen. Das kommt auch den Kindern zu Gute, denn ein „Eltern-Team“ ist für sie ein starker Rückhalt in komplizierten Zeiten.

Soziale Kontakte pflegen

Schule und Unterricht haben auch einen starken sozialen Aspekt, der aktuell wegfällt. Vielen jungen Menschen fehlen die Kontakte zu Gleichaltrigen sehr. Wie helfe ich meinem Kind damit umzugehen?

Ein drängendes Thema, hier ist Hilfe und Sensibilität der Eltern gefragt. Sie sollten ihre Kinder unbedingt unterstützen – auch auf kreativen und neuen Wegen – soziale Kontakte zu halten. Überlegen Sie gemeinsam mit Ihrem Kind, wen es mal anrufen könnte, wer Lust haben könnte, sich per VideoChat auszutauschen oder wer in der Nähe wohnt, sodass man sich zu einer Aktivität draußen verabreden kann. Diese Möglichkeiten sollten junge Menschen dringend nutzen, zur Umsetzung brauchen sie aber gegebenenfalls Hilfe oder einen Anstoß durch die Eltern. Hier kann man übrigens auch hervorragend das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden und gemeinsames Fernlernen organisieren. Man kann beispielsweise virtuelle Lerngruppen bilden oder dafür sorgen, dass sich regelmäßig mit Freundinnen und Freunden online „getroffen“ wird, um gemeinsam die Schulaufgaben zu machen oder zu besprechen.

Und wenn das Kind den Mangel an sozialen Kontakten hauptsächlich auf Social Media kompensiert – vielen Eltern macht es große Sorgen, dass junge Menschen aktuell noch mehr auf Insta, TikTok oder anderen Plattformen unterwegs sind. Was sagen Sie dazu?

Natürlich ist es wichtig, den Anschluss an die Peer Group, also die Gleichaltrigen, zu behalten; Jugendliche kann man von den virtuellen Trends nicht vollkommen fernhalten und sollte das auch nicht tun. Hier ist es aber, wie auch bei vielen „Offline-Themen“, wichtig dranzubleiben, mit den Kindern in Kontakt zu bleiben, sich offen zu zeigen – denn das schafft Vertrauen und Austausch. Fragen Sie nach, seien Sie ehrlich interessiert. Aber setzen – und verhandeln – Sie auch für online klare Grenzen und Zeiten. Man sollte sich immer bewusst machen, dass solche Plattformen großes Suchtpotential haben – davor müssen Eltern ihre Kinder altersgerecht schützen. Und auch Jugendliche sollten einfach einige Stunden am Tag in der Realität leben, draußen sein, frische Luft und Bewegung haben. Darauf sollten Eltern bestehen.

Quelle: SOS-Kinderdorf e.V. vom 11.02.2021

Redaktion: Silja Indolfo

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