Familienforschung

Familien in Europa: Trends und Entwicklungen

Familie ist nach wie vor der zentrale Lebensmittelpunkt der Menschen. In dieser Werthaltung unterscheiden sich die verschiedenen Länder in Europa nicht. Was jedoch die Bedingungen und Veränderungen der verschiedenen Lebens- und Familienformen betrifft, so sind diese in Europa über weite Strecken vergleichbar, verlaufen in vielen Bereichen aber auch ganz konträr.

05.10.2010

Logo familyplatform

Die Familienplattfom auf einen Blick:

  • Ein Projekt der Europäischen Kommission (DG Research)
  • Die erste Plattform dieser Art im Bereich von Familie
  • Nicht primär ein Forschungsprojekt, sondern ein Projekt, in dem es darum geht,
    unterschiedliche Dialoggruppen zum Thema Familie zu vernetzen (u. a. aus Wissenschaft,
    Politik, Interessensvertretungen)
  • Laufzeit: 18 Monate (Start im Oktober 2009)
  • Konsortium mit 12 Partnerorganisationen
  • Koordinierende Stelle: Technische Universität Dortmund, Deutschland
  • Die Familienplattform fördert den Dialog zwischen Wissenschaftlern, Politikern und Interessensvertretungen, um das Wohlergehen der Familien in Europa zu stärken und langfristig zu verbessern.

www.familyplatform.eu

Eine Zusammenschau von Olaf Kapella und Christiane Rille-Pfeiffer 


Im 7. Rahmenprogramm hat die Europäische Kommission eine Plattform zum Thema Familienpolitik und Familienforschung ausgeschrieben – kurz genannt Familienplattform. Diese zielt darauf ab, den Dialog zwischen Politikerinnen, Politikern, Wissenschaftlerinnen, Wissenschaftlern und Interessensverbänden zu fördern, um das Wohl der Familien in Europa zu stärken. Neben 11 weiteren Universitäten bzw. Organisationen ist auch das ÖIF Partner in diesem Konsortium. Zentrale erste Arbeitsgrundlage für die Entwicklung einer europäischen Forschungsagenda zur Familienforschung war die Darstellung von aktuellen Trends und neueren Forschungsergebnissen. Um das weite Feld der Familienforschung besser erfassen zu können, wurde es in acht thematische Sektoren gegliedert. Für jeden Sektor wurde ein Bericht mit aktuellen Forschungsergebnissen und Trends in Europa verfasst. Diese Berichte lassen sich von der Webseite der Familienplattform (www.familyplatform.eu) herunterladen. Im Folgenden werden einige Trends dieser Sektoren zusammengefasst:

Struktur und Formen von Familien und familiale Entwicklungsprozesse

Die „klassische Familie“ oder Nuklearfamilie, mit der Vorstellung, das Leben gemeinsam zu verbringen „bis dass der Tod uns scheidet“, ist zwar weiterhin der dominante Familientyp in ganz Europa, verliert jedoch zahlenmäßig an Geltung. Dies zeigt sich an einer starken Zunahme von unterschiedlichen Lebens- und Familienformen, wie z.B. Ein-Eltern-Familien, Patchwork-Familien, Regenbogen-Familien und sogenannte „living-apart-together“-Familien, die vielfach auch an unterschiedliche Lebensphasen gekoppelt sind. Mit der höheren Zahl an nichtehelichen Lebensgemeinschaften steigt auch der Anteil der Kinder, die unehelich geboren werden. Allerdings stellen nichteheliche Lebensgemeinschaften weiterhin zu einem großen Teil eine Übergangsphase zu einer späteren ehelichen Lebensgemeinschaft dar.

Werden die Veränderungen in der Familie aus einer Perspektive des gesamten Lebenslaufes betrachtet, ermöglicht dies eine Verbindung von individuellen Biografien mit sozialen und historischen Veränderungen. So zeigt sich etwa, dass junge Männer und Frauen länger in der Herkunftsfamilie bleiben. Dieser Trend ist in ganz Europa festzustellen, besonders stark in Zentral- und Südeuropa. So verlassen junge Menschen z.B. in der Slowakei, Belgien, Italien und Malta ihr Elternhaus durchschnittlich nach dem 28. Lebensjahr – in Finnland hingegen im Alter zwischen 22 und 23 Jahren. Primär wird dieses Phänomen durch die verlängerten individuellen Ausbildungszeiten sowie die vielfach bestehenden Schwierigkeiten, in den Arbeitsmarkt einzusteigen, bestimmt. Andererseits aber trägt auch die verstärkte emotionale Nähe und Unterstützung zwischen den Generationen zu einer längeren Verweildauer im elterlichen Haushalt bei.

Der Trend zu einer späteren Familiengründung ist in ganz Europa spürbar. Dies zeigt sich vor allem an einem höheren Erstgebäralter von Frauen sowie an einer späteren Erstheirat. Allerdings stellt sich dieser Trend in den europäischen Regionen unterschiedlich dar: So ist heutzutage das Erstgebäralter von Frauen in Osteuropa am niedrigsten, z.B. in Bulgarien mit 24,9 Jahren und in Ungarn mit 26,9 Jahren. Im Gegensatz dazu ist es in der Schweiz mit 29,5 Jahren und in Großbritannien mit 29,8 Jahren am höchsten. Der Anstieg des Erstheiratsalters in Europa korreliert dabei mit dem jeweiligen wohlfahrtsstaatlichen Regime eines Landes. So heiraten Frauen in skandinavischen Ländern am spätesten, z.B. in Schweden mit 31,1 Jahren. In Südeuropa heiraten Frauen eher früher, wie z.B. in Portugal mit 26,4 Jahren.

Durch die gestiegene Lebenserwartung und die verbesserten Lebens- und Gesundheitsbedingungen erhalten auch Großeltern eine neue Rolle im Leben der eigenen Kinder und deren Familie. So sind sie einerseits eine zentrale Unterstützungsressource bei der Kinderbetreuung, auf der anderen Seite entscheiden sich immer mehr ältere Menschen zu einem aktiven Ruhestand.

Familienpolitik in Europa und lokale Politik für Familien

Nach Jahrzehnten von geringem Einfluss und Prestige, hat die Familienpolitik in den letzten Jahren grundsätzlich an Bedeutung gewonnen. Nach wie vor zeichnen sich die nordischen und englischsprachigen Staaten, verglichen mit den eher konservativen, post-sozialistischen Staaten und den Mittelmeerländern, durch eine weniger explizite Familienpolitik aus.

Werden die politischen Regelungen in Europa dahingehend überprüft, ob sie eher zu einer De- oder Re-Familialisierung der familialen Aufgaben führen, zeigt sich, dass die De-Familialisierung durch nationalstaatliche Politiken eher betont wird als die Re-Familialisierung. Zentrales Thema in der Familienpolitik in Europa ist die Kinderbetreuung. Bei der Kinderbetreuung der 3- bis 6-Jährigen (bis zum Schuleintritt) zeigt sich europaweit eine Betreuungsquote von 90% und mehr. Differenzierter gestaltet ist die Betreuungssituation der unter 3-Jährigen: Vor allem in den nordischen Staaten, in Belgien und den Niederlanden ist die Betreuung der Kinder in diesem Alter gut entwickelt. In Österreich, der Tschechischen Republik, Ungarn, Litauen, Malta, Polen und der Slowakei liegt die Betreuungsquote bei unter 10%. In einigen Ländern wurde das letzte Kindergartenjahr als verpflichtend für alle Kinder eingeführt.

Lokale Behörden und Institutionen gewinnen in Europa mehr und mehr an politischer Verantwortung und Autonomie in zentralen Fragen der Politik für Familien – beispielsweise der Kinderbetreuung oder der Bildung. Es wird vermehrt als ihre Verantwortung gesehen, globale Lösungen den regionalen Gegebenheiten für Familien und Individuen anzupassen. Um dies leisten zu können, kommt es zu einer verstärkten Netzwerkbildung und zur Zusammenarbeit unterschiedlicher Akteure wie Behörden, NGOs, Vereinen, Interessensvertretungen und Familienorganisationen auf regionaler und lokaler Ebene. Zu dieser Entwicklung tragen auch regionale Steuern bei. Die interkulturelle Dimension im regionalen Bereich gewinnt gerade in diesem Kontext an Bedeutung.

Lebenswelt von Familien und Familienmanagement

Die Lebenswelt von Familien und Individuen wird von ganz unterschiedlichen Faktoren bestimmt – von der Wirtschaft, dem Arbeitsmarkt, der Schul- und Ausbildungssituation, aber auch von der bestehenden Infrastruktur sowie der land- und städtebaulichen Entwicklung. Dabei scheinen die unterschiedlichen Ressourcen, die Familien zur Verfügung haben, um ihren Lebensraum aktiv zu gestalten, in Europa zu einer weiteren Polarisierung zwischen Familien mit einem sehr geringen und einem hohen Einkommen beizutragen.

Der Wohnungsmarkt ist in Europa unterschiedlich strukturiert. So ist vor allem in den neuen EU-Mitgliedsstaaten (wie z.B. Estland, Ungarn, Litauen, Slowenien) sowie in Spanien, Griechenland und Italien der Besitz von Wohnraum stärker verbreitet als z.B. in Deutschland, Österreich und den Niederlanden. Die Anzahl der Personen, die in einem gemeinsamen Haushalt leben, ist im nördlichen Teil von Europa geringer als in den Mittelmeerländern.

Bildung ist eine weitere zentrale Komponente in der Lebenswelt von Familie. Die Bildungslandschaft in Europa differiert zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten weniger als zwischen den ländlichen und städtischen Regionen innerhalb eines Landes. Unterschiedliche Bildungsinstitutionen sind in ländlichen Regionen weniger verfügbar und schwieriger zu erreichen.

Aber auch die Arbeitsmuster verändern sich dahingehend, dass immer weniger Männer und Frauen einer Vollzeitbeschäftigung und immer mehr einer befristeten Beschäftigung nachgehen. Dies ergibt sich nicht nur aus den vorhandenen Wahlmöglichkeiten der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, sondern vor allem auch aufgrund der Wünsche von Arbeitgebern und der Deregulierung des Arbeitsmarktes.

Obwohl es seit Beginn der 1960er Jahre eine steigende weibliche Erwerbstätigkeit gibt, besteht nach wie vor ein erheblicher Geschlechterunterschied in der Aufteilung zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit. Männer verbringen immer noch mehr Zeit mit bezahlter Arbeit als Frauen. Frauen verbringen weniger Zeit auf dem Arbeitsmarkt und haben mehr Teilzeitjobs und Karriereunterbrechungen als Männer und arbeiten im Durchschnitt doppelt so viele Stunden unbezahlt.

Kinderbetreuung ist einer der wichtigsten Bereiche im Management des Familienlebens. Auch hier zeigen sich signifikante Geschlechtsunterschiede: Frauen übernehmen nach wie vor den Hauptanteil der Kinderbetreuung. In den nordischen Staaten und den Niederlanden scheint sich die Verteilung der Kinderbetreuung zwischen den Geschlechtern am stärksten anzugleichen – Frauen verbringen ca. 16 Stunden mit der Kinderbetreuung, Männer 7 bis 8 Stunden pro Woche. In den anderen europäischen Staaten verbringen Männer durchschnittlich 4 bis 5 Stunden pro Woche mit der Kinderbetreuung. Die angelsächsischen Länder weisen den größten Zeitunterschied in der Kinderbetreuung auf – Frauen verbringen 14 Stunden und Männer 4 Stunden pro Woche mit der Kinderbetreuung.

Soziale Dienste

Grundsätzlich könnte der Bereich der Unterstützungsleistungen für Familien und Einzelpersonen mit dem Schlagwort „social care goes public“ versehen werden. Es besteht ein anhaltender Trend der Institutionalisierung und Professionalisierung von Betreuungsaufgaben und Serviceangeboten für Familien. Zentral ist dabei die Kombination aus öffentlichen, privaten und marktorientierten Angeboten. Die meisten Forscherinnen und Forscher stimmen darin überein, dass in Bezug auf soziale Dienste die Hauptunterschiede zwischen den nordischen und südländischen Staaten Europas gefunden werden können.

Pflege wird zunehmend auch globaler und internationaler. Länderübergreifende und globale Pflegedienste führen zu einem internationalen Markt für Betreuungs- und Pflegedienste. Zudem werden formelle und informelle Betreuungs- und Pflegeleistungen in Europa verstärkt durch Migrantinnen und Migranten übernommen. Pflegetätigkeit ist und wird auch in Zukunft eine Kombination von formaler und informeller Pflege sein. Besonders erwähnenswert ist hier die Rolle von Frauen, die einen Hauptteil der Betreuung von Kindern, älteren Menschen und anderen pflege- bzw. betreuungsbedürftigen Familienangehörigen übernehmen.
Kinderbetreuung wird das zentrale Thema der Sozial- und Familienpolitik auf nationaler und internationaler Ebene bleiben – nicht nur in Bezug auf die Bedürfnisse der Wirtschaft, des Arbeitsmarktes oder der Gleichberechtigung der Geschlechter, sondern auch in Bezug auf die Qualität der Kinderbetreuungseinrichtungen sowie der Erziehungsziele und Erziehungspläne.

Soziale Ungleichheit und benachteiligte Familien

Soziale Ungleichheit ist ein Forschungsfeld mit langer Tradition in Europa. Es adressiert unterschiedliche Bereiche, wie z.B. die ungleiche Verteilung von Ressourcen (finanziell, sozial, politisch und kulturell) vor allem in Bezug auf Armut, soziale Ausgrenzung und Benachteiligung und beachtet dabei u.a. Faktoren wie soziale Schicht und Geschlecht. Die Auswirkungen von sozialer Ungleichheit zeigen sich in verschiedenen Lebensbereichen wie der Arbeit, der Gesundheit, der Bildung, im Erleben von Gewalt oder Diskriminierung sowie der Möglichkeit zur politischen Teilhabe.

Seit Jahrzehnten besteht eine Migrationsbewegung nach Europa – mit einer zunehmenden Feminisierung der Migration in den letzten Jahren. Sie ist durch eine extreme Vulnerabilität von Migrantenfamilien und deren Kindern gekennzeichnet, vor allem aus Nicht-EU-Staaten im Vergleich zu Familien, die aus EU-Mitgliedsstaaten migrieren. Dies zeigt sich in ganz unterschiedlichen Lebensbereichen. Migrantinnen und Migranten arbeiten vielfach in schlechter bezahlten und minder qualifizierten Jobs mit atypischen Zeitstrukturen. Sie sind in höherem Maße der Armut und Arbeitslosigkeit ausgesetzt, haben oft zerbrechlichere familiale Netzwerke und daraus resultierend Probleme in der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Primär leben jene Familien im großstädtischen Bereich in Europa.

Im Durchschnitt sind 17% der Haushalte in den EU-27-Ländern von Armut betroffen. Bestimmte familiale Lebensformen haben ein höheres Risiko, von Armut belastet zu sein als andere. Besonders stark betroffen sind arbeitslose Menschen (43%), Migranten und Migrantinnen von außerhalb der EU (30-45%), Kinder im Haushalt von Alleinerziehenden (34%), Personen mit einem niedrigen Bildungsstatus (23%), ältere Frauen (22%), junge Erwachsene zwischen 16 und 24 Jahren (25%) und Ein-Personen-Haushalte (25%).

Medien und Familie

Immer mehr Bereiche unseres sozialen Lebens sind von neuen Informations- und Kommunikations-technologien abhängig. Sie sind mittlerweile zu einem nicht mehr wegzudenkenden Teil unserer Infrastruktur geworden. Dies zeigt sich in ganz unterschiedlichen Aspekten: Der Zugang zum Internet ist in den europäischen Ländern unterschiedlich: So gilt für die EU-27-Länder, dass 60% der Haushalte im Jahr 2008 über einen Zugang zum Internet verfügten (Eurostat 2008).

Die Niederlande (86%) und Schweden (84%) verfügen derzeit über einen hohen Zugang zum Internet. Besonders niedrig hingegen ist die Internetnutzung in den südlichen und in den östlichen Ländern Europas, z.B. Griechenland (31%), Italien (42%), Kroatien (45%) und Polen (48%). Österreich (69%) und Deutschland (75%) liegen im Mittelfeld.

Die Internetnutzung von Kindern in Europa nimmt zu. Zahlen vom Eurobarometer 2005 zeigen, dass bereits 48% der Jungen und 46% der Mädchen im Alter von 6-7 Jahren das Internet nutzen. Bei den 10- bis 11-Jährigen sind es bereits 78% Jungen und 80% Mädchen und bei den 16- bis 17-Jährigen 85% Jungen und 90% Mädchen.

Auch die Bildungssysteme in Europa, von der Schule bis zur Universität, sind zunehmend von neuen Technologien abhängig. Dies zeigt sich z.B. in der stärkeren Verfügbarkeit von Computern in den Schulen. Auf 100 Schüler in Dänemark kommen 27 Computer, von denen 26 über einen Internetanschluss verfügen. In Norwegen sind es 24 Computer auf 100 Schüler, wobei 23 an das Internet angeschlossen sind, in den Niederlanden 21 Computer mit 20 Anschlüssen und in Großbritannien sind es 20 Computer mit 19 Internetanschlüssen.

Wenn Sie Interesse haben, sich an der Familienplattform zu beteiligen, nehmen Sie unter www.familyplatform.eu Kontakt auf.

Logo ÖIFDer Text wurde mit freundlicher Genehmigung der Redaktion dem Informationsdienst "beziehungsweise" des Österreichischen Instituts für Familienforschung (ÖIF) an der Universität Wien entnommen.
Der Informationsdienst kann abonniert oder kostenlos heruntergeladen werden.
http://www.oif.ac.at/presse/presse.asp?Rubrik=3&ID_Art=1
Website des ÖIF: http://www.oif.ac.at

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