Sozialforschung

Demokratie in Krisenzeiten – Herausforderungen und Chancen

Im Zuge der aktuellen Krisenrethorik hat sich der Begriff der „Post-Demokratie“ in der öffentlichen Meinung etabliert. Obwohl die Demokratie als politisches Ordnungssystem normativ alternativlos erscheint, gerät sie momentan offenbar selbst in die Krise. Eva Feldmann-Wojtachnia analysiert in ihrem Fachbeitrag für die Katholische Sozialakademie Österreichs aktuelle Herausforderungen des demokratischen Systems und fordert mehr Erfahrungsräume für Demokratie – auch jenseits des Internet.

14.02.2018

Angesichts bedeutsamer realpolitischer Erschütterungen wie der Flüchtlingskrise, dem Brexit oder zahlreicher Wahlerfolge von populistischen Parteien in Europa stößt die Demokratie deutlich an ihre Grenzen. Mit Blick auf die ansteigenden nationalistischen Tendenzen ist nicht klar, ob die Demokratie womöglich grundsätzlich in Gefahr geraten ist. Vor dem Hintergrund eines sich rasant vollziehenden gesellschaftlichen Wandels – gekennzeichnet von hohen Mobilitätsanforderungen, religiöser und politischer Radikalisierung, verstärkter Orientierungslosigkeit in einer hochkomplexen, globalisierten Welt, sowie weitreichender Veränderungen der sozialen Normen, Arbeitszusammenhänge und Familienstrukturen – stellt sich die drängende Frage, inwieweit die Demokratie in der Lage ist, angemessen auf diese multiplen Herausforderungen zu reagieren. Möglicherweise begründet gerade dieser Zweifel eine zunehmende Demokratieskepsis in der Bevölkerung.

Eine solche deterministische Einschätzung übersieht jedoch die enorme Gestaltungs- und Anpassungsfähigkeit der Demokratie, welche gerade in komplexen Krisensituationen entscheidende Vorteile bietet. Durch ihr ‚Pluralismusgebot‘ setzt sie Reform- und Innovationskräfte frei und bezieht bei der Suche nach geeigneten Lösungswegen möglichst vielfältige Sichtweisen und Interessen ein. Gerade in Krisenzeiten sind demokratische Aushandlungsprozesse zur nachhaltigen Legitimierung politischer Entscheidungen wichtig. Demokratische Lebensformen bieten maximale Entfaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten sowie die Sicherung der persönlichen Freiheit.

Das demokratische System – beliebig austauschbar?

Dennoch scheinen diese konstituierenden Merkmale der Demokratie immer weniger bewusst zu sein. Europaweit vertritt gemäß aktueller Umfrageergebnisse der TUI Stiftung (2017) nur die Hälfte der jungen Generation die Auffassung, die Demokratie sei die beste Staatsform. Etwa ein Viertel der Befragten ist der Ansicht, diese sei so gut oder schlecht wie jede andere Staatsform, 9% glauben, es gäbe bessere Staatsformen als die Demokratie und 13% sind in dieser Frage unentschlossen. Innerhalb der EU differieren die Zustimmungswerte deutlich und es zeichnet sich kein einheitliches Bild der Zustimmung. Hinsichtlich der bevorzugten Alternativen nennen beispielsweise 37% der französischen Befragten und 39% der griechischen Befragten die direkte Demokratie. 45% der polnischen, 36% der italienischen und 31% der deutschen Befragten bezeichnen eine nicht demokratisch legitimierte Expertenregierung als beste Alternative. Als zweitbeste Alternative werden die Monarchie, ein sozialistisches bzw. kommunistisches System, die Direkte Demokratie oder die Herrschaft einer Partei oder Person ohne parlamentarische Kontrolle genannt. 

Einstellungen, die die demokratische Staatsform zur Disposition stellen, sind nicht nur auf die junge Generation beschränkt. Ähnliche Ergebnisse liefert der Eurobarometerbericht 2016, wonach EU-weit im Altersvergleich zwar ein schwaches Zufriedenheitsgefälle erkennbar ist. 56% der Befragten im Alter von 15-24 Jahren sind mit der Demokratie zufrieden, bei den über 55-Jährigen sind dies 52%. Im Durchschnitt betrachtet gibt bei dieser Studie aber auch nur gut die Hälfte der Befragten an, mit der Funktionalität der Demokratie in ihrem Land zufrieden zu sein, während 44% dies sogar verneinen. Zwei Drittel der Bürgerinnen und Bürger vertrauen ihren nationalen Parlamenten sowie den Regierungen nicht und über die Hälfte auch der EU nicht.

Mit einer derart sinkenden Akzeptanz steht die Demokratie gegenwärtig zweifelsohne vor zentralen Herausforderungen. Zum einen schwächt die abnehmende Zustimmung zur Demokratie empfindlich ihre eigentliche Aufgabe: die ihr immanente zentrale Integrations-, Partizipations- und Repräsentationsfunktion. Zum anderen verlieren offizielle politische Entscheidungsprozesse an Legitimation, wenn nur wenig Vertrauen in die Regierung gesetzt und diese von den Bürgerinnen und Bürgern nur noch als eine unter vielen Institutionen wahrgenommen wird.  

Kluft zwischen den Bürgerinnen und Bürgern und der Politik 

Vordergründig betrachtet, werden einige Probleme durch die Demokratie selbst erzeugt. So erscheint die Mehrebenen-Politik vielen Menschen als intransparent und nicht nachvollziehbar. Angesichts der Globalisierung lassen sich wenig Einflussmöglichkeiten der nationalen demokratischen Systeme erkennen. Auch erfüllen die politischen Parteien nicht mehr ausreichend die ihnen in der Demokratie zukommende Vermittlungsfunktion zwischen dem Staat und den Bürgerinnen und Bürgern. Dieses Phänomen wird vielerorts durch eine geringe Beteiligung an den demokratischen Wahlen verstärkt. 

Vor diesem Hintergrund erklärt sich – zumindest teilweise – das Anwachsen populistisch-nationalistischer Bewegungen mit ihrem Protest gegen die Intransparenz. Allerdings zielen ihre im demokratischen System aufgestellten Parteien auf die Aushebelung von demokratischen Entscheidungsfindungsprozessen, um eigenen Interessen, sogenannten „nationalen Volksinteressen“, Vorrang zu geben. Populismus setzt dabei auf Bedrohungsszenarien und einfache, totalitäre, antidemokratische Problemlösungen. Dabei stehen letztlich sowohl die Demokratie als Staatsform mit der Wahrung der Menschenrechte, der Gleichberechtigung, der freien Wahl- und Mitwirkungsmöglichkeit sowie die offene pluralistische Gesellschaft mit ihren demokratischen Grundwerten im alltäglichen Miteinander auf dem Spiel. 

Noch ein weiteres entscheidendes Phänomen fordert die Demokratie heraus: die Abkoppelung der Bürgerinnen und Bürger vom politischen System und den politischen Akteuren, wobei das ‚Volk‘ und seine ‚Repräsentanten‘ zu Gegenspielern und die gewählte Regierung zur „Kulisse“ werden. Die politische Meinungsbildung wird dabei größtenteils wenig qualifiziert im Internet vorangetrieben. Hier sind gleichermaßen die Rolle der klassischen Medien wie auch die Verantwortung der in Social Media Netzwerken Aktiven gefragt, angesichts dieser Kluft den Wert der Demokratie neu zu erklären und sich kritisch mit den Gefahren auseinander zu setzen.

Mitwirkung als Schlüssel für eine lebhafte, streitbare Demokratie

Demokratisches Miteinander ist weder nur als Verfahren oder Institution zu denken, noch als losgelöste Lebensform. In dieser Dichotomie scheint die zu beobachtende Politikmüdigkeit als Ausdruck einer grundlegenden politischen Ratlosigkeit begründet zu sein. Demokratische Mitwirkung umfasst aber beides: eine – durchaus kritische – Beteiligung am System sowie das zivilgesellschaftliche Engagement. Ein ‚Masterplan‘ zur Belebung der Demokratie muss sich daher gleichermaßen auf das System und wie auf die Gesellschaft richten. Hierzu müsste jedoch das Spektrum der Mitgestaltungsmöglichkeiten deutlich erweitert werden. Es gilt, verkrustete parteipolitische Machtstrukturen aufzubrechen und Dialogformate mit der Politik suchen, die aus dem virtuellen Internetraum herausführen. Es ist eine radikale ‚Verjüngungskur‘ der Politik – möglicher Weise über eine „Jugendquote“ – zu diskutieren, um kritisches Denken anzuregen und neue Fragen aufzuwerfen. Politische Bildungsarbeit spielt in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle, um junge Menschen zu empowern und zu befähigen, sich aktiv an Gesellschaft und Politik zu beteiligen. Denn die Vitalität der Demokratie besteht darin, Mut zum Handeln zu zeigen und dabei unterschiedliche Meinungen prinzipiell zuzulassen, auch wenn diese den eigenen Ansichten entgegenstehen.

Mehr Erfahrungsräume für Demokratie schaffen

In der Krise wird ein Paradox sichtbar, dass nämlich die demokratischen Grundwerte und Normen einerseits wichtig und weiterhin gültig sind, andererseits aber die Bereitschaft und Fähigkeit abnimmt, sich für diese zum Wohl der Allgemeinheit aktiv einzusetzen. Dabei ist nicht die Demokratie in Gefahr, sie muss nur revitalisiert werden. Hierzu reicht es aber bei weitem nicht aus, dass demokratische Strukturen und Institutionen als Rahmen weiterbestehen. Sie müssen sich für die Bedenken und Sorgen der Menschen öffnen, proaktiv den Dialog suchen und Mitwirkung ermöglichen. Denn Schlüsselfaktor für ein funktionierendes demokratisches Gemeinwesen sind letztlich mündige, kritische Bürgerinnen und Bürger, die ihre Ideen in die Entscheidungsfindung, wie wir morgen friedlich miteinander leben wollen, einbringen und sich dabei mit den Werten der Demokratie identifizieren. Hierzu müssen jedoch deutlich mehr Erfahrungsräume im konkreten, persönlichen Lebensumfeld wie am Wohnort, in der Schule oder am Arbeitsplatz geschaffen werden.

Lebendige Demokratie braucht lebendige Demokratinnen und Demokraten, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen – gleichermaßen als politische MandatsträgerInnen und als zivilgesellschaftliche AkteurInnen.

Dieser Fachbeitrag von Eva Feldmann-Wojtachnia wurde im Dossier „Demokratie stärken“ der Katholischen Sozialakademie Österreichs (PDF 2,8 MB) erstveröffentlicht. Weitere Informationen: www.ksoe.at

Über die Autorin 

Eva Feldmann-Wojtachnia ist wissenschaftliche Referentin in der Forschungsgruppe Jugend und Europa im Centrum für angewandte Politikforschung (CAP) an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie forscht u.a. zu europäischen Werten und Zukunftsvisionen, Demokratieentwicklung und Fragen einer Europäischen Bürgergesellschaft.  Weitere Informationen zu Ihrem Werdegang und ihren Veröffentlichungen finden sich auf den Webseiten des CAP. 

Weiterführende Literatur:

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