Stellungnahme

Zum aktuellen Umgang mit den §§45 und 45a des Kinder- und Jugendstärkungsgestetzes

Als Ansprechpartner und Interessenvertretung für freie Träger der Jugendhilfe im Bereich der individuellen Hilfen hat die Bundesarbeitsgemeinschaft Individualpädagogik e.V. eine Stellungnahme zum aktuellen Umgang mit den §§ 45 und insbesondere 45 a des Kinder- und Jugendstärkungsgesetz nach der Reform des SGB VIII im Juni 2021 veröffentlicht.

28.10.2022


Die Stellungnahme im Wortlaut

Der in Köln sitzende AIM Bundesarbeitsgemeinschaft Individualpädagogik e.V. ist Ansprechpartner und Interessensvertretung für freie Träger der Jugendhilfe im Segment der individuellen Hilfe und möchte mit seinen bundesweit 50 Mitgliedsorganisationen die Idee und das Konzept der Individualpädagogik verbreiten und fördern.

Der AIM Bundesarbeitsgemeinschaft Individualpädagogik e.V. betreibt ein Anfrageportal über das Jugendämter jährlich mehr als 1100 Unterbringungsanfragen stellen, die an die Mitglieder weitergeleitet werden.

Darüber hinaus ist es das Hauptanliegen auf problematische Prozesse aufmerksam zu machen, die eine Umsetzung individueller Hilfen für Kinder und Jugendliche erschweren oder gar verhindern.

Bereits im Oktober 2020 – somit vor Inkrafttreten des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes nach der Reform des SGB VIII im Juni 2021 – hat der AIM Bundesarbeitsgemeinschaft Individualpädagogik e.V. in seiner Stellungnahme auf die nun real gewordenen Probleme hingewiesen und eine eindeutige Klärung gefordert, um Interpretationsspielräume zu minimieren und für die individuellen Hilfen eine Rechtssicherheit zu schaffen, die über die Ländergrenzen hinweg gilt (vgl. hierzu Stellungnahme der Bundesarbeitsgemeinschaft der Individualpädagogik e.V. und des Bundesverbands Individual- und Erlebnispädagogik e.V. zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (PDF: 177 KB)).

Und auch im Abschlussbericht zur Erstellung des neuen KJSG »Mitreden – Mitgestalten« wurde darauf hingewiesen, dass bei der Legaldefinition der Betriebserlaubnisse die familienanalogen Settings hier nicht herausfallen sollten, da sie sonst keine rechtliche Grundlage mehr hätten (vgl. Abschlussbericht Mitreden – Mitgestalten: Die Zukunft der Kinder- und Jugendhilfe (PDF 12,7 MB) , S. 26).

Trotz dieser Hinweise stellt sich das neue Kinder- und Jugendstärkungsgesetz in manchen Bundesländern nun mit der Auslegung des neuen § 45a als ein Verhinderungsgesetz für familienanaloge stationäre Jugendhilfesettings dar.

Konkret zeigt sich, dass die Heimaufsichten in den verschiedenen Bundesländern den neuen Paragrafen sehr unterschiedlich auslegen und entsprechend different agieren. Teilweise entstanden Übergangslösungen, die provisorisch die alten Regelungen fortführen bis zu einer landesrechtlichen Regelung. Teilweise erleben die freien Träger jedoch, dass beantragte Betriebserlaubnisse nicht erteilt und Anträge nicht bearbeitet werden oder schlicht die Zuständigkeit abgelehnt wird.

Nicht nur die Definition dessen, was als Einrichtung oder als Teil einer Einrichtung zählt, wird hier verschieden gesehen, auch wird der Aspekt der Zuständigkeit für den Kinderschutz zum Teil verschoben.

Der AIM Bundesarbeitsgemeinschaft Individualpädagogik e.V. ist überzeugt, dass diese unterschiedlichen Praktiken in den Ländern keinesfalls dem – mit der Novelle des SGB VIII beabsichtigten – stärkeren Schutz von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen in Einklang zu bringen ist. Ganz im Gegenteil: Der AIM Bundesarbeitsgemeinschaft Individualpädagogik e.V. ist geschlossen der Meinung, dass die unterschiedlichen Praktiken Rechtsunsicherheiten fördern und Auswirkungen nach sich ziehen, die den gestaltenden Behörden nicht bewusst zu sein scheinen:

  • Durch Inaktivität oder Mitteilung, dass eine Betriebserlaubnis nicht mehr erteilt werden wird, entfällt das Schutzniveau für die Kinder und Jugendlichen in den entsprechenden Settings in Gänze und muss auf Seite der Behörden neu verortet werden.
  • Den belegenden Jugendämtern wird quasi auferlegt, die Hilfe neu zu organisieren. Die Mitglieder des AIM Bundesarbeitsgemeinschaft Individualpädagogik e.V. gingen bislang davon aus, dass es ein Unterschied ist, ob das Jugendamt eine Hilfe nach § 34 wählt, oder eine Hilfe nach § 33.2. Dies hat Auswirkungen auf allen Ebenen der Hilfeerbringung.
  • Die Fachkräfte in familienähnlichen Betreuungsstellen werden durch die Verweigerung einiger Landesjugendämter, notwendige verwaltungsrechtliche Entscheidungen zu treffen, in ihrer Berufsausübung gehindert.

Aufgrund des Fehlens abgestimmter Zwischenlösungen, kommen Träger in die bedrängende Situation, in der sie bspw. die Entscheidung selbst treffen müssen, ob sie im Interesse des Wohles betroffener Kinder oder Jugendlicher, diese in ein Setting aufnehmen und sich folglich dem Risiko eines Vorwurfs der Ordnungswidrigkeit aussetzen müssen, der letztendlich durch das Landesjugendamt zu einer grundsätzlichen Beurteilung des Trägers als unzuverlässig führen kann.

Folgerichtig zeigt sich, dass insbesondere bis zur abschließenden Klärung des Rechtsdesiderats ein unabwendbarer Handlungsbedarf für eine adäquate und vernünftige Zwischenlösung besteht.

Deshalb appelliert der AIM Bundesarbeitsgemeinschaft Individualpädagogik e.V. an alle Verantwortlichen, eine für die Länder mögliche Zwischenlösung zu konzipieren, um im Interesse aller Beteiligter Rechtsicherheit zu schaffen und einen effektiven Kinder- und Jugendschutz zu gewährleisten sowie ein stark nachgefragtes Angebot aufrecht erhalten zu können.

Die Erteilung einer Betriebserlaubnis für ein familienähnliches Angebot wird in einigen Bundesländern in weiter Auslegung der Voraussetzung „fachlich und organisatorisch in eine betriebserlaubnispflichtige Einrichtung eingebunden [sein]“ (§ 45a Einrichtung) nur von dem Vorhandensein einer betriebserlaubnispflichtigen Einrichtung in dem Bundesland abhängig gemacht. Es wird somit das Vorhalten einer Kinderschutzstruktur an ein Gruppenangebot geknüpft, dabei geht es jedoch in erster Linie um einen institutionellen Schutz für die jungen Menschen in familienähnlichen Betreuungsformen, welcher von einem Einrichtungsträger – also nicht von einer Einrichtung – sicherzustellen ist. Das Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg hat das in dem Rundschreiben vom 09.11.2021 »Umgang mit den Änderungen des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes bezogen auf den Einrichtungsbegriff im Kontext familienähnlicher Betreuungsformen der Unterbringung - § 45a SGB VIII« sehr treffend formuliert:

„(…) zum Schutz der Kinder und Jugendlichen und um den gewachsenen Strukturen in Brandenburg Rechnung zu tragen, (wird) davon ausgegangen, dass es sich bei familienähnlichen Betreuungsformen der Unterbringung, die nicht fachlich und organisatorisch in eine betriebserlaubnispflichtige Einrichtung eingebunden sind, dennoch um Einrichtungen im Sinne des § 45a SGB VIII handelt, wenn sie folgende Voraussetzungen erfüllen: Sie sind unter Verantwortung eines Trägers, der das Konzept, die fachliche Steuerung der Hilfe, die Qualitätssicherung, die Auswahl, Überwachung, Weiterbildung und Vertretung des Personals sowie die Außenvertretung gewährleistet, angelegt.“


Die Überzeugung, dass für viele Kinder und Jugendliche eine Unterbringung in Gruppen mit Fachkräften im Schichtdienst nicht das Richtige ist (so auch insbesondere nicht in Krisen), sondern vielmehr ein kleiner und individueller Rahmen ihren Bedürfnissen entspricht, hat dazu geführt, dass es hier eine bunte Palette mit Angeboten für die stationäre Jugendhilfe gibt. Diese Angebote werden mit stetig höherer Frequenz nachgefragt. Längst müssen freie Träger hier viele Absagen an die Jugendämter erteilen, die sich ein Mehr an Angeboten wünschen.

Die Kopplung von Gruppen- und Einzelangeboten als Voraussetzung zum Erhalt einer Betriebserlaubnis erschließt sich für die Mitgliedsorganisationen des AIM Bundesarbeitsgemeinschaft Individualpädagogik e.V. nur bedingt. Diese Gruppen als Back-up zu betrachten für den Fall, dass ein Kind plötzlich aus einer individualpädagogischen Projektstelle herausgenommen werden müsste, stellt eine Gefahr dar und funktioniert nur sehr selten, da auch dort Platzzahlen begrenzt sind und Überbelegungen kritisch geprüft werden. Dazu ist fraglich, ob eine Passung bezüglich Alter und Geschlecht gegeben ist. Der AIM Bundesarbeitsgemeinschaft Individualpädagogik e.V. ist überzeugt, dass es hierfür andere Lösungen gibt und dies bspw. ebenfalls über Trägerkooperationen gelöst werden könnte und es fachlich eher eine Frage eines guten Übergangsmanagements ist.

Wir, die Mitgliedsorganisationen des AIM Bundesarbeitsgemeinschaft Individualpädagogik e.V., sind Träger mit individualpädagogischen und familienanalogen Angeboten, die seit Jahrzehnten Kinderschutzkriterien erfüllen. Aus diesem Grunde stellen wir hier dar, wie wir dezentral organisierte Einrichtungen länderübergreifend wirksam eine tragfähige Kinderschutzstruktur gewährleisten. Wir haben transparente Schutzkonzepte, die sowohl pädagogische als auch strukturelle Aspekte des Kinderschutzes beleuchten:

  1. Wir sind trägerübergreifend vernetzt, helfen einander in Krisen und gestalten Übergänge.
  2. Wir beschäftigen Fachkräfte und haben ein transparentes Personaltableau, was Vertretungs- und Unterstützungsmöglichkeiten beinhaltet.
  3. Wir schaffen Verbindungen unter den Projektstellen, sodass eine Verbundenheit zum Träger und untereinander entsteht.
  4. Wir halten trägereigene Möglichkeiten zur kurzfristigen Unterbringung vor.
  5. Die Kinder und Jugendlichen haben ihnen bekannte Ansprechpartner:innen und jederzeit die Möglichkeit der Kontaktaufnahme. Hierzu werden altersentsprechende Kanäle entwickelt.
  6. Den Kindern und Jugendlichen werden nicht nur trägerinterne, sondern auch trägerexterne Beschwerdemöglichkeiten aufgezeigt, wie bspw. die »Nummer gegen Kummer« oder die jeweiligen Ombudschaften der Bundesländer.
  7. Die fachliche Begleitung durch den Träger ist Teil des Alltags der Projektstelle – die Projektstelle ist Teil des Trägers. Das Ziel ist immer, dass sich keine geschlossenen Systeme entwickeln, sondern eine permeable Zusammenarbeit entsteht und für die Kinder und Jugendlichen ein durchlässiger Kontakt aufgebaut wird.
  8. Der Träger hält rund um die Uhr eine telefonische Erreichbarkeit vor.

Wir fragen uns, weshalb ein Gesetz sich Stärkungsgesetz nennt, wenn es die Möglichkeiten und die Angebotspalette einschränkt, wenn es standardisiert und neue Hürden schafft, wo es doch die individuellen Hilfen fördern sollte. Die Bedarfe der jungen Menschen werden nicht mehr real gesehen und eine Umsetzung in die Realität wird zur Unmöglichkeit.

Unser Ziel ist es gemeinsam dafür sorgen, dass ein Rahmen geschaffen wird, der auch dem entspricht, was gebraucht wird. Gemeinsam junge Menschen stärken – individuell und fachlich.

Wir machen Kinder- und Jugendhilfeangebote mit Herzblut und richten unsere Hilfen an den Bedarfen der jungen Menschen aus.

Wir sind keine Jurist:innen und keine Politiker:innen. Wir kommen aus der Pädagogik. Im Austausch mit Stefan Prange (Berater in der Sozialwirtschaft) entstanden konkret formulierte Forderungen, die wir Mitgliedsorganisationen des AIM Bundesarbeitsgemeinschaft Individualpädagogik e.V. hier noch einmal auflisten:

  1. Landesrecht sollte im Hinblick auf den § 45a bzw. die Betriebserlaubnisplicht einer Einrichtung regeln, dass eine familienähnliche Betreuungsform, oder mehrere familienähnliche Betreuungsformen dann als Einrichtung gelten, wenn sie unter der Verantwortung eines Jugendhilfeträgers stehen, der das Konzept, die fachliche Steuerung der Hilfen, die Qualitätssicherung, die Auswahl, Überwachung, Weiterbildung und Vertretung des Personals sowie die Außenvertretung gewährleistet. Zur Wahrnehmung der Verantwortung des Trägers ist auszuschließen, dass die mit der Betreuung betraute Person zugleich Träger oder Leitung der Einrichtung ist, oder mit dem Träger oder der Leitung in einer Lebensgemeinschaft lebt.
  2. Landesrecht sollte im Hinblick auf § 78 e bzw. der Zuständigkeit für den Abschluss der Vereinbarungen regeln, dass bei familienähnlichen Betreuungsformen der Unterbringung sowie sonstigen betreuten Wohnformen, die fachlich und organisatorisch einer gemeinsamen Leitung zugeordnet sind, der Ort für die Zuständigkeit des öffentlichen Jugendhilfeträgers maßgeblich ist, von dem aus die Betreuungsformen nach Maßgabe von § 45a Satz 2 gesteuert werden. Hingegen sollte klargestellt werden, dass der Abschluss einer Vereinbarung nach § 8a SGB VIII (und ggf. Vereinbarungen nach § 72a SGB VIII) der öffentliche Jugendhilfeträger zuständig ist, in dessen Bereich die einzelne familienähnliche Betreuungsform örtlich gelegen ist.
  3. Im Rahmen der landesrechtlichen Regelungen sollte zudem geprüft werden, ob für familienähnliche Betreuungsformen Ausnahmeregelungen hinsichtlich des Prüfverfahrens zur Erteilung der Betriebserlaubnis aufgeführt werden sollten. Exemplarisch seien hier bspw. Baunutzungsänderungsanträge und/oder baurechtliche Genehmigungen (in Schleswig-Holstein KJVO und LBO § 51 Sonderbauten) benannt, sowie Brandschutzgutachten, Stellungnahmen des Gesundheitsamtes zur Wasserqualität u.v.m. Der Einrichtungsbegriff gem. § 45a SGB VIII ist nicht identisch mit dem Einrichtungsbegriff im baurechtlichen Sinne.

Vor dem Hintergrund juristischer Notwendigkeit fordern wir, dass an den verantwortlichen Stellen der Heimaufsichten, den entsprechenden Stellen in den Ländern und auch innerhalb der BAGLJÄ eine Diskussion geführt wird, die

  • auch die Pädagogik in aller Vielfalt wieder mit einbezieht,
  • die jungen Menschen mit ihren individuellen Bedarfen sieht,
  • die Erfahrungen der zuständigen Mitarbeiter:innen der Jugendämter einbezieht,
  • uns als freie Träger einbezieht und hört,
  • nach rechtsicheren und realistischen Lösungen sucht

und, dass Verantwortung von allen Beteiligten aktiv übernommen wird.

Wir freuen uns auf einen Dialog!

Der Vorstand des AIM Bundesarbeitsgemeinschaft Individualpädagogik. e.V.

Quelle: AIM Bundesarbeitsgemeinschaft Individualpädagogik e.V. vom 08.08.2022

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