Zwischenruf

Aufbau nachhaltiger Infrastrukturen zur Sicherung der Rechte von jungen Geflüchteten

Das Bundesjugendkuratorium hat einen Zwischenruf zum „Aufbau nachhaltiger Infrastrukturen zur Sicherung der Rechte von jungen Geflüchteten“ formuliert: Die fachlichen Kompetenzen sowie Verfahren und Organisationsformen, die die Rechte von jungen Geflüchteten verwirklichen sollen, sind an vielen Orten noch nicht gut etabliert und krisenfest. Das Bundesjugendkuratorium plädiert deshalb dafür ein kooperativ und bundesweit angelegtes Nachhaltigkeitsforum einzurichten. Der Zwischenruf im Wortlaut:

03.04.2023

„In der Kinder- und Jugendhilfe, in Bildungseinrichtungen sowie in den gesundheitsbezogenen Diensten in Deutschland wurden in den vergangenen Jahren fachliche Kompetenzen sowie Verfahren und Organisationsformen entwickelt, um die Rechte von jungen Geflüchteten – insbesondere unbegleitete minderjährigen Flüchtlingen – zu verwirklichen und mit ihnen biographische Perspektiven zu gestalten, die an ihre jeweiligen subjektiven Lebenssituationen anknüpfen. Dies hat u.a. ermöglicht, dass viele junge Menschen, die als Geflüchtete nach Deutschland kamen, erfolgreich die Schule, eine Berufsausbildung oder ein Studium absolvieren und sich gesellschaftlich integrieren konnten.

Gegenwärtig kann allerdings beobachtet werden, dass die Infrastrukturen für die Inobhutnahme und eine nachhaltige Versorgung, Betreuung und Begleitung gerade von jungen Geflüchteten an vielen Orten in Deutschland nicht so etabliert sind, dass sie krisenfest und flexibel auf die sich immer wieder verändernden Herausforderungen reagieren können. Die Kinder- und Jugendhilfe ist insbesondere stark gefordert, wenn in einigen Regionen kurzfristig größere Gruppen von jungen Geflüchteten aufzunehmen sind. Es fehlen mitunter räumliche Kapazitäten und Fachkräfte. Entsprechend zeigen sich einige Kommunen mit der Versorgung und Unterbringung der jungen Geflüchteten überfordert. Einige Bundesländer reagierten bereits auf den massiven Einrichtungs- und Personalmangel mit Absenkung von Standards. Darüber hinaus existieren Herausforderungen, die systematisch zu bearbeiten sind, dazu zählt sowohl die fehlende Mehrsprachigkeit in den fachlichen Vollzügen als auch die Formulierung von differenzierten qualitativen Standards, die auch in Belastungssituationen nicht unterlaufen werden dürfen. Die Verwirklichung der Rechte von jungen Geflüchteten gerät so aktuell unter erheblichen Druck – wie auch die verantwortlichen Jugendämter und Kommunen.

Das Bundesjugendkuratorium hat bereits 2015 und 2016 in zwei Stellungnahmen in diesem Kontext vor einem politischen „Alarmismus“ gewarnt und gleich-zeitig zum Aufbau nachhaltiger Infrastrukturen geraten (BJK 2015 & 2016). Es wurde bereits 2015 darauf hingewiesen, dass in Belastungssituationen, insbesondere die individuelle unabhängige rechtliche sowie subjektive Vertretung und Beteiligung jedes jungen Menschen gesichert werden müssen:

„Allerdings erscheint es aufgrund des engen Zeitrahmens der Verteilung auch notwendig, dass unbegleitete Minderjährige von Anfang an Zugang zu einem unabhängigen Rechtsschutz haben. Gerade aufgrund der hohen Belastung der Aufnahmejugendämter wäre es möglich, dass in der Eile der Verteilungsverfahren und dem Wunsch nach einem schnellen Zugang zu einem Clearing wichtige Aspekte untergehen und das Kind sich selbst nicht ausreichend verständlich machen kann.“ (BJK 2015, S. 3)

Im Jahr 2023 ist offensichtlich, dass nachhaltige Infrastrukturen bisher nur bedingt aufgebaut werden konnten. Zudem verschärfen sich weltweit Fluchtanlässe, z.B. in der Ukraine oder die Erdbeben in der Türkei und Syrien, in Afghanistan. Es ist politisch anzuerkennen, dass es einer dauerhaften Infrastruktur bedarf, die so angelegt ist, dass sie zu verschiedenen Zeiten jeweils den zahlenmäßigen und qualitativen Herausforderungen gerecht werden kann. Nur dann kann garantiert werden, dass die Verwirklichung der Rechte junger Menschen, die nach Deutschland flüchten, nicht davon abhängig ist, wie groß die Anzahl von Geflüchteten ist oder in welcher Region Deutschlands sie sich letztlich aufhalten dürfen.

Nachhaltige Strukturen schaffen

Das Bundesjugendkuratorium plädiert deshalb dafür ein kooperativ und bundesweit angelegtes Nachhaltigkeitsforum: Junge Geflüchtete einzurichten. Das Nachhaltigkeitsforum hat die Aufgabe innerhalb eines Jahres fachliche, organisationale, strukturelle, finanzielle sowie die Verantwortungsverteilung betreffende Vorschläge für eine Infrastruktur für junge Geflüchtete zu erarbeiten.

Es bedarf einer dauerhaften Infrastruktur, die zugleich flexibel auf unterschiedliche Herausforderungen reagieren kann und eng mit bestehenden kommunalen Organisations- und Kooperationsformen der Kinder- und Jugendhilfe sowie den gesundheitsbezogenen Diensten verzahnt ist. Diese Infrastruktur sollte Vorkehrungen und Vorhaltestrukturen enthalten, so dass auch kurzfristig räumliche und fachliche Kapazitäten sowie überörtliche Kooperationen aktiviert werden können. Hier kann aus den Erfahrungen der vergangenen Jahre nicht erst seit 2015 gelernt werden. Eine Aufgabe des Nachhaltigkeitsforums wäre auch die Beantwortung der Frage, wie die Infrastruktur dauerhaft finanziert werden kann.

Weiterhin ist eine mehrsprachige Öffnung und Weiterentwicklung von Verfahrensstrukturen und Teams in den Kommunen und Beratungsnetzwerken notwendig, damit die jungen Menschen entsprechend informiert werden können und sie sich in den Verfahren beteiligen können. Die Verfahren der Kinder- und Jugendhilfe sind entsprechend so zu gestalten, dass sie nicht selbst Barrieren für die Rechtsverwirklichung der jungen Menschen schaffen, z.B. durch zeitliche Verzögerungen und fehlende Sprachkompetenzen.

Schließlich sind fachliche und organisationsbezogene Standards der Kinder- und Jugendhilfe auszuformulieren, die der besonderen Lebenssituation der jungen Menschen gerecht werden und die Rechtsverwirklichung auch in Krisenzeiten, wie Pandemien oder Anstieg der Zahlen von Geflüchteten, ermöglichen. Der Fachkräftemangel in der Kinder- und Jugendhilfe muss dabei im Blick behalten werden, er darf aber argumentativ nicht als Ausgangspunkt dienen, um sich der Formulierung und Sicherung von fachlichen und organisationsbezogenen Standards zu verwehren. Die Standards sollten auf einer fachwissenschaftlichen und -politischen Grundlage basieren, die kommunalen Bedingungen der Kinder- und Jugendhilfe reflektieren und auch berücksichtigen, inwieweit sie der Diskriminierung von Geflüchteten entgegenwirken, spezifische Bedarfe, z.B. vor dem Hintergrund möglicher Traumatisierungen berücksichtigen und die jungen Menschen vor Rassismus und Übergriffen schützen.

Das Nachhaltigkeitsforum sollte besetzt sein mit ca. 25 Expert*innen aus Selbstvertretungen junger Geflüchteter, Nichtregierungsorganisationen, die sich im Kontext von Flucht engagieren, Fachverbänden aus der Kinder- und Jugendhilfe, der (Aus)Bildungsinfrastruktur, den gesundheitsbezogenen Diensten sowie der Flüchtlingshilfe, der kommunalen Sozialpolitik und den Jugendämtern, Landes- und Bundesvertretungen der Politik und Kinder- und Jugendhilfe, Menschenrechtsorganisationen sowie der Fachwissenschaft. Es sollte von einer unabhängigen fachlichen Institution moderiert werden.

Die Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland hat in den vergangenen Jahren auch in der Begleitung von jungen Menschen, die nach Deutschland geflüchtet sind, gezeigt, dass sie sehr kurzfristig und verantwortungs-voll neue Herausforderungen bewältigen kann. Sehr viele Fachkräfte haben mit hoher persönlicher Motivation und großer Fachkenntnis auf diesem Gebiet viel geleistet, kommen aber zunehmend an ihre Belastungsgrenzen aufgrund der kurzfristigen und nicht planbaren zusätzlichen Anforderungen.

Gleichzeitig wird offenbar, dass die Kinder- und Jugendhilfe Hilfestrukturen fachlich und infrastrukturell dauerhaft zu etablieren hat, damit sie ihren Beitrag leisten kann, die Rechte junger Menschen, die nach Deutschland geflohen sind, zu verwirklichen. Nur auf dieser Grundlage können diese jungen Menschen sozial teilhaben – dauerhaft, erfolgreich, partizipativ und anknüpfend an ihre biographischen Konstellationen.“

Über das Bundesjugendkuratorium

Das Bundesjugendkuratorium (BJK) ist ein von der Bundesregierung eingesetztes Sachverständigengremium. Es berät die Bundesregierung in grundsätzlichen Fragen der Kinder- und Jugendhilfe und in Querschnittsfragen der Kinder- und Jugendpolitik. Dem BJK gehören bis zu 15 Sachverständige aus Politik, Verwaltung, Verbänden und Wissenschaft an. Die Mitglieder werden durch die Bundesministerin/den Bundesminister für Familie, Senioren, Frauen und Jugend für die Dauer der laufenden Legislaturperiode berufen.

Quelle: Deutsches Jugendinstitut e.V., Bundesjugendkuratorium vom 30.03.2023

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