Studie

Wahlprogramme schneiden in Verständlichkeit und Sprache schlecht ab

Noch nie waren die Wahlprogramme so umfangreich wie bei der Bundestagswahl 2021. Allerdings: Nur ein einziges Mal (1994) waren sie noch unverständlicher als in diesem Jahr. Kommunikationswissenschaftler/-innen der Universität Hohenheim in Stuttgart haben 83 Wahlprogramme seit der Bundestagswahl 1949 auf formale Verständlichkeit und Sprache analysiert.

07.09.2021

Die Universität Hohenheim begleitet den Wahlkampf mit zahlreichen Erhebungen, unter anderem auch mit einer Studie zum Thema Verständlichkeit und Sprache der Wahlprogramme (PDF). In diesem Jahr erschweren Bandwurmsätze mit bis zu 79 Wörtern (AfD), Wortungetüme wie „Quellentelekommunikationsüberwachung“ (FDP, Linke) und Fachbegriffe wie „Cell-Broadcasting-Technologie“ (CDU/CSU), „Cybergrooming“ (Grüne) oder „Life-Chain“ (SPD) für viele Laien die Verständlichkeit. Das formal verständlichste Programm legt die Partei Die Linke vor, das formal unverständlichste Programm stammt von den Grünen. Die AfD verwendet die populistischste Sprache.

„Damit die Wählerinnen und Wähler eine begründete Wahlentscheidung treffen können, sollten Parteien ihre Positionen klar und verständlich darstellen. Die Wahlprogramme sind dabei ein Mittel, um die eigenen Positionen darzulegen“, sagte der Kommunikationswissenschaftler Prof. Dr. Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim, der mit seinem Team die Wahlprogramme zur Bundestagswahl 2021 untersucht hat.

Wahlprogramme sind so umfangreich wie nie

Ein Ergebnis: „Wahlprogramme werden immer länger. Noch nie waren die Wahlprogramme so umfangreich wie in diesem Jahr: durchschnittlich ca. 43.541 Wörter pro Programm“, sagte Prof. Dr. Brettschneider. Bei der ersten Bundestagswahl 1949 waren es noch im Schnitt 5.498 Wörter. Allerdings gibt es bei der Länge der Wahlprogramme große Unterschiede zwischen den Parteien. Traditionell haben die Grünen das längste Wahlprogramm. In diesem Jahr werden sie allerdings von der Links-Partei abgelöst: Mit 68.331 Wörtern ist das Programm der Linken gut tausend Wörter länger als das Programm der Grünen. Die kürzesten Programme haben in diesem Jahr die AfD und die SPD vorgelegt: jeweils knapp 23.500 Wörter.

Neben den Langfassungen bieten Parteien zahlreiche Versionen ihrer Wahlprogramme an: Kurzfassungen, Audiofassungen, Versionen in leichter Sprache, Themenschwerpunkte und Videos zur Präsentation wichtiger Aspekte in Gebärdensprache sowie Übersetzungen in andere Sprachen.

Links-Partei am verständlichsten, Grüne am unverständlichsten

„Oft lässt die Verständlichkeit der Wahlprogramme zu wünschen übrig“, sagte Prof. Dr. Brettschneider. „Nur 1994 waren die Programme im Schnitt noch unverständlicher“. Die formale Verständlichkeit der Programme misst das Forschungsteam mit Hilfe einer Analyse-Software. Die Software zählt unter anderem überlange Sätze, Fachbegriffe und zusammengesetzte Wörter. Anhand solcher Merkmale bildet sie den „Hohenheimer Verständlichkeitsindex“ (HIX). Er reicht von 0 (schwer verständlich) bis 20 (leicht verständlich).

Das formal verständlichste Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2021 liefert Die Linke mit 8,4 Punkten auf dem Hohenheimer Verständlichkeitsindex. Den letzten Platz belegen die Grünen mit 5,6 Punkten. Es handelt sich um das formal unverständlichste Wahlprogramm der Partei seit 1983. Auch die auf dem vorletzten Platz liegende AfD liefert ihr bisher formal unverständlichstes Wahlprogramm seit 2013. Die Wahlprogramme 2021 erreichen im Schnitt 7,2 Punkte. 2017 lag der Schnitt bei 9,2 Punkten.

„Das ist enttäuschend“, urteilte Prof. Dr. Brettschneider. „Denn alle Parteien haben sich in den letzten Jahren Transparenz und Bürgernähe auf ihre Fahne geschrieben. Mit ihren teilweise schwer verdaulichen Wahlprogrammen schließen sie jedoch einen erheblichen Teil der Wählerinnen und Wähler aus und verpassen damit eine kommunikative Chance.“

Im langjährigen Vergleich ist das verständlichste Bundestagswahlprogramm der letzten 72 Jahre das der CDU/CSU aus dem Jahr 1957 (13,3 Punkte). Mit nur 4,4 Punkten teilen sich die FDP 1965 und Die Linke 1998 den letzten Platz. Die im Schnitt verständlichste Partei ist die CDU/CSU mit 9,4 Punkten, dicht gefolgt von der SPD mit 9,2 Punkten. Den niedrigsten Durchschnittswert weist Die Linke mit 6,6 Punkten auf.

„Alle Parteien könnten verständlicher formulieren“, ist Prof. Dr. Brettschneider überzeugt. „Das beweisen gelungene Passagen in den Einleitungen und im Schlussteil. Dort erreichen die Parteien meist mehr als 10 Punkte auf dem Hohenheimer Verständlichkeitsindex. Die Themenkapitel sind hingegen das Ergebnis innerparteilicher Expertenrunden. Diesen ist meist gar nicht bewusst, dass die Mehrheit der Wähler ihren Fachjargon nicht versteht. Wir nennen das den ‚Fluch des Wissens’.“

Fremdwörter, Anglizismen und Satz-Monster

„Die häufigsten Verstöße gegen Verständlichkeits-Regeln sind Fremdwörter und Fachwörter, zusammengesetzte Wörter und Nominalisierungen, Anglizismen sowie lange Sätze und Schachtelsätze“, sagte Claudia Thoms, Verständlichkeits-Forscherin an der Universität Hohenheim.

Verstehen alle Wähler/-innen den Inhalt, wenn die Grünen von einer „Fact-Finding-Mission“ reden? Oder die CDU/CSU von „Agri-FoodTech-Wagniskapitalfonds“, die AfD von „supranationale Remigrationsagenda“, Die Linke von „Antiziganismus“, die SPD von „Edge-Computing“ oder die FDP vom „Carbon Leakage-Schutz“? Solche Fachbegriffe sind für die Mehrheit der Wähler/-innen genauso unverständlich wie die zahlreichen Anglizismen: „Cybergrooming“ (Grüne), „eHealth-Roadmap“ (CDU/CSU), „Gene-Drive-Organismen“ (Linke), „Network Slicing“ (FDP), „Blue-Deal-Entwicklungsplan“ (AfD) oder „Life-Chain“ (SPD). Darüber hinaus erhöhen lange, zusammengesetzte Wörter nicht gerade die Lesbarkeit der Wahlprogramme: „Quellentelekommunikationsüberwachung“ (FDP, Linke), „Hochgeschwindigkeitsschienenverkehr“ (CDU/CSU), „Schuldenstrukturierungsverfahren“ (Grüne).

In allen Wahlprogrammen finden sich Verstöße gegen Verständlichkeits-Regeln. „Neben den Fremdwörtern, Anglizismen und Fachbegriffen sind es auch die Bandwurmsätze, die die Wahlprogramme so unverständlich machen“, sagt Claudia Thoms. „Wir haben in allen Wahlprogrammen solche Satz-Ungetüme mit teilweise mehr als 40 Wörtern gefunden.“ Am längsten sei ein Satz aus dem AfD-Programm: Er besteht aus 79 Wörtern.

Unverständliche Wahlprogramme – eine verschenkte Kommunikationschance

Prof. Dr. Brettschneider betonte jedoch: „Die von uns gemessene formale Verständlichkeit ist natürlich nicht das einzige Kriterium, von dem die Güte eines Wahlprogramms abhängt. Deutlich wichtiger ist der Inhalt. Unfug wird nicht dadurch richtig, dass er formal verständlich formuliert ist. Und unverständliche Formulierungen bedeuten nicht, dass der Inhalt falsch ist. Formale Unverständlichkeit stellt aber eine Hürde für das Verständnis der Inhalte dar.“

Aber: Mit der formalen Unverständlichkeit verschenken die Parteien eine Kommunikationschance bei den Bürger(inne)n, stellt Prof. Dr. Brettschneider fest. „Obwohl nur sehr wenige Menschen die Wahlprogramme komplett und intensiv durchlesen, sollen Wahlprogramme eigentlich dazu dienen, Wählerinnen und Wähler zu gewinnen oder zu halten.“ Aus den Programmen leiten sich außerdem andere Kommunikationsmittel ab, die für eine Wahl wichtig sind, wie Wahlplakate, Homepage und Broschüren. „Selbst wenn die Wählerinnen und Wähler nicht das gesamte Programm lesen, so schauen sich einige von ihnen doch zumindest die Passagen an, die sich auf Themen beziehen, die ihnen wichtig sind“, sagt Prof. Dr. Brettschneider. Neben der Funktion Wähler/-innen zu halten oder neue zu gewinnen, sind die Programme auch innerhalb der Partei von Bedeutung, betonte der Kommunikationsexperte:

„Während der Arbeit am Programm klären die Mitglieder innerparteiliche Positionen und bündeln verschiedene Interessen. Der Parteiführung dient das Programm nach der Wahl als Grundlage für Koalitionsverhandlungen oder für die Arbeit in der Opposition. Entgegen landläufigen Behauptungen halten sich Parteien nach den Wahlen auch häufig an ihre Programm-Aussagen.“

Begriffsanalyse: Typische Sprachmuster offenbaren thematische Schwerpunkte

„Die Sozialpolitik gehört sprachlich zu den zentralen Themen der Bundestagswahl 2021. Auch Außenpolitik und Umweltpolitik sind häufig unter den Top-5-Themen zu finden“, sagt Claudia Thoms. Im direkten Vergleich der Themen-Anteile an den Wahlprogrammen zeigen sich auch die typischen Schwerpunkte der Parteien: Die SPD beschäftigt sich ausführlich mit Arbeitsmarktpolitik. Begriffe wie „Beruf“, „Beschäftigte“ und „Arbeit“ oder „Brückenteilzeit“ passen hierzu. Die FDP hat im Vergleich größere Anteile finanz- und haushaltspolitischer sowie wirtschaftspolitischer Aussagen. Das zeigen auch Begriffe wie „Wettbewerb“ oder „Start-up“. Wirtschaftspolitik wird allerdings auch bei den Grünen vergleichsweise umfangreich behandelt. Es verbindet sich bei Begriffen wie „Energiegeld“ mit dem klassischen Kernthema der Grünen: der Umweltpolitik. Hierzu gehören auch Begriffe wie „Klimaschutz“, „Klimakrise“ oder „Müll“.

Der hohe sozialpolitische Anteil bei der AfD ist u. a. auf die Beschäftigung mit familienpolitischen Themen zurückzuführen. Begriffe wie „Abtreibung“ passen ebenfalls in diesen Kontext. Die starke Beschäftigung der CDU/CSU mit Innerer Sicherheit und Rechtspolitik spiegelt sich in Begriffen wie „Bevölkerungsschutz“ oder „Straftäter“ wider. Integrationspolitische Inhalte der Linken zeigen sich u. a. in „geflüchtet“ oder „LSBTIQA“. Das Hohenheimer Sprach-Team untersucht auch die Tonalität der Sprache in den Wahlprogrammen. Sie wird durch den Anteil negativer Begriffe im Verhältnis zum Anteil positiver Begriffe bestimmt.

„Die Wahlprogramme 2021 sind im Vergleich zu früheren Wahlen sprachlich eher positiver in ihrer Tonalität. Die negativste bzw. am wenigsten positive Sprache zeigt sich bei der AfD und der Linken. Das betrifft nicht nur die aktuelle Wahl, sondern gilt auch im langjährigen Vergleich“, sagte Claudia Thoms.

Populistische Sprache bei der AfD am häufigsten

Außerdem haben die Hohenheimer Forscher:innen die Verwendung populistischen Vokabulars untersucht. Dabei verwendeten sie die Anti-Elitismus-Dimension einer Wortliste von Rooduijn und Pauwels (2011): Sie zählten, wie oft Begriffe aus dieser Wortliste in den jeweiligen Wahlprogrammen vorkommen. Die Wortliste besteht aus den folgenden Begriffen: elit*, konsens*, undemokratisch*, referend*, korrupt*, propagand*, politiker*, täusch*, betrüg*, betrug*, *verrat*, scham*, schäm*, skandal*, wahrheit*, unfair*, unehrlich*, establishm*, *herrsch*, lüge* (die Sternchen dienen als Platzhalter, um unterschiedliche Schreibweisen der Wörter und zusammengesetzte Wörter zu berücksichtigen).

Demnach weisen die aktuellen Programme im Verhältnis zu früheren Wahlen einen verhältnismäßig geringen Grad an sprachlichem Populismus auf – den drittniedrigsten seit 1949. Sprachlich am populistischsten schreibt 2021 die AfD. Mit ihren bisher drei Bundestagswahlprogrammen belegt sie auch insgesamt den zweiten Platz im langjährigen Parteienvergleich. Den ersten Platz belegen hier die Grünen, was vor allem auf verhältnismäßig hohe Populismuswerte in den Anfangszeiten der Partei zurückzuführen ist. Das aktuelle Wahlprogramm der Grünen weist den bisher niedrigsten Populismuswert der Partei auf.

Die am wenigsten populistischen Wahlprogramme schreiben im Schnitt die Unions-Parteien. Das dürfte vor allem daran liegen, dass sie am häufigsten von allen Parteien an Regierungen beteiligt waren und insofern häufig die politische Elite darstellten, die mit dem von den Forschenden gemessenen Anti-Elitismus kritisiert wird. Das sprachlich populistischste Bundestagswahlprogramm seit 1949 ist das der FDP aus dem Jahr 1957. Schwerpunktmäßig ist dieser Wert auf eine Kritik an der „Einparteien-Herrschaft“ der CDU/CSU zurückzuführen.

„Populistische Rhetorik besteht natürlich aus mehr als aus einfachen Begriffen. Aber die untersuchten Begriffe sind gute und bewährte Indikatoren für Populismus“, sagt Prof. Dr. Brettschneider.

Gemein hätten Populisten unterschiedlicher Färbung, dass sie (1) das (eine, wahre) Volk als Gegenspieler einer (2) (entfremdeten, feindlichen) Elite begreifen. Typischerweise fokussierten Rechtspopulisten dabei vor allem auf kulturelle Themen (beispielsweise Migration), während Linkspopulisten eher ökonomische Themen in den Mittelpunkt stellten.

AWO kritisiert fehlende Barrierefreiheit des Wahl-O-Mats

Verständlichkeit und einfache Sprache sind auch dem AWO Bundesverband ein wichtiges Anliegen. Seit Jahren wird zum Beispiel ein  barrierefreier Wahl-O-Mat gefordert. Der seit 2002 von der Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlichte Wahl-O-Mat sei eine wichtige und hochgeschätzte digitale Informationsquelle, die für Menschen mit Behinderungen allerdings nicht in leichter und verständlicher Sprache zur Verfügung gestellt werde. Das sei besonders bedauerlich, weil bei der Bundestagswahl 2021 erstmalig über 84.000 Menschen mit Behinderungen und Menschen mit psychischen Erkrankungen wählen dürfen, die bis 2019 vom aktiven und passiven Wahlrecht ausgeschlossen waren. Dazu äußerte sich Brigitte Döcker, Vorstandsmitglied des AWO Bundesverbandes:

Aus unserer Sicht ist es, insbesondere anlässlich dieser für viele Menschen mit Behinderungen historischen Wahl, sehr bedauerlich, dass die Bundeszentrale für politische Bildung den diesjährigen Wahl-O-Mat zur Bundestagswahl einmal mehr nicht in Leichter Sprache veröffentlicht. Dadurch wird eine Chance auf Inklusion vertan und erneut eine unnötige Barriere verursacht, die viele Menschen von politischen Informationen ausschließt und sie an der selbstbestimmten Informationsbeschaffung behindert. Die AWO fordert daher, dass der Wahl-O-Mat zukünftig standardmäßig zu Bundestags- und Landtagswahlen auch in Leichter Sprache veröffentlicht wird.“

Wahlprogramme in Leichter Sprache

Viele Parteien haben ihre Wahlprogramme in Leichter Sprache veröffentlicht. Der AWO Bundesverband hat Informationen zur Bundestagswahl in Leichter Sprache sowie Links zu den entsprechenden Internetseiten der Parteien in einer Übersicht zusammengetragen: www.awo.org/bundestagswahl-2021-informationen-leichter-sprache

Quelle: Universität Hohenheim vom 30.08.2021 und AWO Bundesverband vom 02.09.2021

Redaktion: Alena Franken

Back to Top