„Verschickungskinder"

Vermehrte Hinweise auf massive Würdeverletzungen bei untergebrachten Kindern und Jugendlichen

Der Landschaftverband Rheinland (LVR) untersuchte aufgrund der Hinweise seine eigene Rolle in Bezug auf die „Verschickungskinder". Gutachten ergaben, dass keine Hinweise in LVR-Akten auf Aufsichtsfunktion der Landesjugendämter zu finden seien. Der LVR hatte eine organisatorische Rolle inne. Am 07. Juni 2021 gab es dazu eine Anhörung im NRW-Landtag.

08.06.2021

Der Landschaftsverband Rheinland (LVR) hat in einem Gutachten die Rolle des LVR-Landesjugendamtes Rheinland beim Thema „Verschickungskinder“ untersuchen lassen. In den letzten Jahren mehrten sich Hinweise darauf, dass Kinder und Jugendliche in den fünfziger und sechziger Jahren während oft mehrwöchiger Aufenthalte in Kurheimen massiven Verletzungen ihrer Würde ausgesetzt waren. Auch den LVR erreichten Berichte einzelner Menschen, die während einer Kinderkur Leid erfahren haben. Immer wieder wurde in diesen Berichten auch das Landesjugendamt Rheinland erwähnt.

„Durch unsere Beratungsangebote für ehemalige Heimkinder sowie Menschen, die in der Psychiatrie oder Behindertenhilfe Gewalt ausgesetzt waren, wissen wir, dass es auch in den Kinderkurheimen der fünfziger und sechziger Jahre schwarze Pädagogik gab. Uns war es wichtig, schnell Erkenntnisse über unsere Rolle als Landesjugendamt zu gewinnen, deshalb haben wir ein Gutachten durch einen Historiker erstellen lassen“, sagte LVR-Direktorin Ulrike Lubek.

Der LVR war weder Betreiber noch Träger von Kinderkuranstalten

Eine zentrale Erkenntnis des Gutachtens: Der LVR war weder Betreiber noch Träger von Kinderkuranstalten. Außerdem liegen in den Akten des LVR-Archivs keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Kurheime der Aufsicht des LVR unterlagen. Die Landesjugendämter waren jedoch koordinierend bei den Kinderkurverschickungen tätig und stellten bis 1968 finanzielle Mittel zur Verfügung, so ein weiteres Ergebnis des Gutachtens. Die Ausgleichsstelle des Landesjugendamtes übernahm die Koordination der Kindererholungsreisen für die Entsendestellen der Kommunen und stimmte sich mit den Kurheimen ab. Außerdem übernahm die Kinderfahrtmeldestelle im Rahmen der Durchführung der Kurheilfürsorge die Koordination der Fahrten zumeist in Sonderzügen der deutschen Bahn zu den Zielorten der Kinderkureinrichtungen. Aufgaben über diese Koordination hinaus sind nicht bekannt.

„Die landes- und bundesweite Aufarbeitung des Themenkomplexes der „Verschickungskinder" steht noch am Anfang und wird sicher noch Zeit in Anspruch nehmen. Der LVR unterstützt selbstverständlich alle Bemühungen um Aufklärung. Außerdem steht unsere LVR-Anlauf- und Beratungsstelle auch in Zukunft betroffenen Menschen mit Rat und Tat zur Seite. Erste Kontakte zu Selbsthilfegruppen und Vereinen bestehen bereits und wir werden unsere langjährige Erfahrung bestmöglich einbringen, um zur Linderung des Leids beizutragen“, so Ulrike Lubek weiter.

Der Kontakt zur Anlauf- und Beratungsstelle ist auf der Website des LVR zu finden.

Trauma „Verschickungskind"

Das Leid der „Verschickungskinder“ ist auch Gegenstand einer Anhörung im NRW-Landtag am 07. Juni 2021 gewesen.

Von den 1950er- bis in die 1990er-Jahre seien Millionen Kinder aus Nordrhein-Westfalen wegen gesundheitlicher Probleme ohne Begleitung ihrer Eltern oder Erziehungsberechtigten in Kinderkuren und Kinderheilanstalten verschickt worden, heißt es im Antrag der SPD-Fraktion. Viele hätten dort „Demütigung und Gewalt, darunter Prügel, Essenszwang, Redeverbote, Misshandlungen und Versuche mit Medikamenten“ erlebt. Am „System der Verschickung“ seien staatliche Stellen, Jugend- und Gesundheitsämter, Sozialversicherungsträger, gemeinnützige und private Träger beteiligt gewesen. Das erlittene Trauma habe viele Kinder ihr Leben lang begleitet. Hier hatte die SPD-Landtagsfraktion einen Antrag eingereicht: Trauma „Verschickungskind“. Verschickt um gesund zu werden – Demütigung  und Gewalt gegen Kinder in Kinderheilanstalten. In diesem forderte die SPD-Fraktion die Landesregierung zu folgenden Punkten auf:

  • die Vernetzungsarbeit der Verschickungskinder zu unterstützen, dafür müssen die nötigen haushalterischen Mittel bereitgestellt werden.
  • die Schaffung niedrigschwelliger therapeutischer Hilfsangebote für Betroffene zu unterstützen.
  • den Aufbau einer Geschäftsstelle für die Interessenvertretung der Geschädigten zu unterstützen.
  • zu prüfen, wie die Aufarbeitung der Misshandlungen und Missbräuche in den Einrichtungen vorangetrieben werden kann.
  • zu prüfen, wie die öffentliche Auseinandersetzung mit der Thematik gestärkt werden kann, z.B. mit Informationstafeln an den ehemaligen Einrichtungen.
  • das staatliche Versagen bei der Aufsichtspflicht anzuerkennen und die Geschädigten bei der Aufklärung zu unterstützen.
  • wissenschaftliche Aufarbeitung und damit verbunden Recherche von Wissenschaftlern sowie von Betroffenen  in  den Archiven staatlicher Einrichtungen und Institutionen zu erleichtern und zu fördern.
  • einen Runden Tisch mit den beteiligten Stellen und Vertretern der Geschädigten einzuberufen und Möglichkeiten der Aufklärung und Unterstützung zu besprechen.
  • auf Ebene der Bundesländer in den Austausch einzutreten, um eine Bundesratsinitiative zur Aufarbeitung zu starten. Die Aufklärung der Misshandlungen und Missbräuche in den Einrichtungen soll vorangetrieben werden.

Über den LVR

Der Landschaftsverband Rheinland (LVR) arbeitet als Kommunalverband mit rund 20.000 Beschäftigten für die 9,7 Millionen Menschen im Rheinland. Mit seinen 41 Schulen, zehn Kliniken, 20 Museen und Kultureinrichtungen, vier Jugendhilfeeinrichtungen, dem Landesjugendamt sowie dem Verbund Heilpädagogischer Hilfen erfüllt er Aufgaben, die rheinlandweit wahrgenommen werden. Der LVR ist Deutschlands größter Leistungsträger für Menschen mit Behinderungen und engagiert sich für Inklusion in allen Lebensbereichen. „Qualität für Menschen“ ist sein Leitgedanke.
Die 13 kreisfreien Städte und die zwölf Kreise im Rheinland sowie die StädteRegion Aachen sind die Mitgliedskörperschaften des LVR. In der Landschaftsversammlung Rheinland gestalten gewählte Mitglieder aus den rheinischen Kommunen die Arbeit des Verbandes.

Quelle: Landschaftsverein Rheinland vom 04.06.2021

Redaktion: Pia Kamratzki

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