Im Gespräch – Kinder- und Jugendhilfe nach Corona

Unsichtbare Lasten: Die psychische Gesundheit der Jugend unter dem Einfluss von Corona

Die Corona-Pandemie hat tiefe Spuren in der psychischen Gesundheit der jüngsten Generation hinterlassen. Im Interview berichtet Mathias Selbach, Leiter eines Kinderclubs in Potsdam, wie er die Herausforderungen erlebte, wie er darauf reagierte und welche langfristigen Auswirkungen er vermutet.

02.10.2024

In unserer fünfteiligen Interviewreihe sprechen wir mit Fachkräften aus der Kinder- und Jugendhilfe, die in ihren verschiedenen Arbeitsfeldern täglich mit den Folgen der Corona-Pandemie konfrontiert sind. Es geht darum, sichtbar zu machen, wie sich Lock Downs und Social Distancing noch heute auf die tägliche Arbeit auswirken und welche Lösungsansätze es geben kann. Im negativen oder eventuell auch positiven Sinne.

Interview 5/5 – Mathias Selbach, Leiter eines Kinderclubs in Potsdam 

Während die Welt sich langsam von den Fesseln der Pandemie befreit, treten die langfristigen psychosozialen Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche immer deutlicher hervor. Die Pandemie hat mehr als nur physische Distanz geschaffen; sie hat die psychische Gesundheit zahlreicher junger Menschen maßgeblich beeinträchtigt. Studien zeigen, dass Kinder und Jugendliche eine beispiellose Zunahme von Angst, Depression und Einsamkeit erfahren haben. Die sozialen Einschränkungen und die Verlagerung des Lebens in den digitalen Raum haben neue Formen der psychosozialen Unterstützung notwendig gemacht.

Die psychosozialen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf Kinder und Jugendliche sind umfassend und vielschichtig. Besonders betroffen waren Kinder und Jugendliche, die bereits vor der Pandemie psychische Probleme hatten oder aus benachteiligten Bevölkerungsgruppen stammen. Isolation, Unsicherheit und der Verlust von Alltagsstrukturen haben das Wohlbefinden vieler junger Menschen erheblich beeinträchtigt. Ein Bericht der Interministeriellen Arbeitsgruppe von 2023 mit dem Titel „Gesundheitliche Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche durch Corona“ verdeutlicht, dass die psychischen Belastungen während der Pandemie signifikant zugenommen haben. Die Autorinnen und Autoren des Berichts betonen, dass psychische Probleme wie Angstzustände und depressive Symptome bei jungen Menschen stark angestiegen sind. Bildungsunterbrechungen, Einschränkungen der persönlichen Freiheit und Spielmöglichkeiten sowie der gestiegene familiäre Stress und häusliche Konflikte wurden als bedeutende Faktoren für die psychosoziale Belastung identifiziert. Laut dem Bericht ist es entscheidend, die psychosozialen Auswirkungen der Pandemie umfassend zu adressieren und die Grundlagen für ein unterstützendes Umfeld zu schaffen, das die Entwicklung und das Wohlbefinden aller Kinder und Jugendlichen fördert.

Experten wie Mathias Selbach, Leiter eines Kinderclubs in Potsdam, haben unmittelbar erlebt, wie die Pandemie das Erleben und das Verhalten von Kindern verändert hat. In diesem Interview berichtet Selbach, wie er und sein Team kreative Lösungen fanden, um mit den Kindern in Kontakt zu bleiben und ihnen trotz der Herausforderungen ein Gefühl von Normalität und Unterstützung zu bieten. Er erläutert, welche langfristigen Veränderungen er in der Jugendhilfe sieht und wie die gewonnenen Erkenntnisse genutzt werden können.

Die Herausforderungen der Pandemie meistern: Kreative Lösungen und Hygieneprotokolle

Können Sie zu Beginn etwas über Ihre Rolle in der Kinder- und Jugendhilfe während der Corona-Pandemie erzählen? 

Die Corona-Pandemie war für uns im Kinderclub eine sehr herausfordernde Zeit. Unsere Arbeit besteht in der Regel daraus, in direktem Kontakt tragfähige Beziehungen zu Kindern aufzubauen und insbesondere solchen Kindern, die ansonsten eher unter Erlebnisarmut leiden, Möglichkeiten zur sinnvollen Freizeitgestaltung zu bieten. Darüber hinaus stehen bei uns die Themen Integration, Inklusion und Kinderschutz täglich im Mittelpunkt. In großen Teilen der Pandemie war es uns jedoch nicht möglich, diese Aufgaben auszuführen.

Wie hat sich Ihr Arbeitsalltag in dieser Zeit verändert?

Zu Beginn der Pandemie war es zunächst einmal die Aufgabe, sich zu sortieren, und kreative Möglichkeiten zu finden, mit den Kindern in Kontakt zu bleiben. Das war nicht immer leicht, und nie wirklich zufriedenstellend. Als die Regelungen dann etwas gelockert wurden, kam die Zeit der Corona-Verordnungen, der Listen, der Schutzverordnungen, Hygienekonzepte und Corona-Tests. Da war rückblickend schon einiges verrückt-absurdes dabei, aber da mussten wir ja alle durch.

Psychosoziale Belastungen: Kinder im Ausnahmezustand

Welche spezifischen psychosozialen Auswirkungen haben Sie bei Kindern und Jugendlichen während der Pandemie beobachtet? 

Ganz pauschal kann man das nicht sagen, dafür sind die Kinder zu unterschiedlich. Sicherlich wird ein Junge oder ein Mädchen, das 5x die Woche mit Freundinnen und Freunden Fußball spielt, größere Probleme gehabt haben als eines, das ansonsten auch eher zuhause ist und ein Buch nach dem anderen verschlingt. Man kann aber schon feststellen, dass Corona mit all seinen Szenarien, Verordnungen, Regeln und Ängsten genau das Gegenteil dessen ist, was Kinder zum Aufwachsen brauchen: nämlich Freiheit und Unbeschwertheit. Allein das Gefühl, potenziell gefährlich für Opa und Oma zu sein, bzw. selbst auch immer in Gefahr zu sein, muss sich auf viele Kinder verheerend ausgewirkt haben. Dazu kommen die Folgen aus der erzwungenen Einsamkeit und z.B. die Tatsache, dass viele Kinder mitunter komplett unbegleitet täglich stundenlang unterschiedlichen Formen von Medien ausgesetzt waren. Insbesondere bei Kindern stellt sich die Frage, was den größeren Schaden verursacht hat, die reale Gefahr durch Corona oder der Umgang damit. Das Feuer selbst oder das Löschwasser?

Maßnahmen gegen die Isolation: Von YouTube-Videos bis zu Balkon-Gesprächen

Angesichts der Herausforderungen, die Sie beschreiben: wie haben Sie es geschafft, die Kinder weiterhin zu erreichen?  

Wir haben mit allen möglichen Mitteln versucht, mit den Kindern in Kontakt und im Gespräch zu bleiben und vielleicht ein kleiner Anker zur Realität zu sein. Sobald dies möglich war, haben wir auch Gesprächskreise zum Thema Corona angeboten. Das Wichtigste war für uns jedoch immer das Aufrechterhalten der Normalität: Humor, Spaß und normales Kind-Sein.

Gab es unkonventionelle Methoden, die sich als besonders wirksam herausgestellt haben?

Komplett neu erfunden haben wir wahrscheinlich nichts. Viele Kinder haben sich jedoch über unsere kleinen YouTube-Videos oder Bastel-Sets gefreut. Viele Familien aus den Wohngebieten haben unseren Spiele-Tauschschrank genutzt, so dass es zuhause nicht allzu langweilig wurde. Auch Balkon- oder Zaungespräche waren oft sehr unterhaltsam und wertvoll. Auch unsere Tanzperformances auf Innenhöfen unserer Plattenbauten hat vielen Menschen Freude bereitet und ein Lächeln ins Gesicht gezaubert.

Langfristige Folgen: Eine neue Generation von Herausforderungen

Basierend auf Ihren Erfahrungen, welche langfristigen psychosozialen Folgen könnten Kinder und Jugendliche aus dieser Pandemie mitnehmen?

Im Sinne eines Ursache-Wirkung-Denkens ist es aktuell schwierig, Phänomene und Auffälligkeiten ausschließlich Corona zuzuordnen. 

Welche anderen Faktoren haben die Kinder ihrer Ansicht nach zusätzlich belastet?

Neben der Pandemie haben auch Flucht, Migration und Benachteiligung eine erhebliche Rolle gespielt. Viele Kinder kommen aus Familien, die bereits vor der Pandemie belastet waren. Jetzt sehen wir zusätzlich die Auswirkungen globaler Krisen wie Krieg und Inflation, die die Unsicherheit und den Stress in den Familien weiter verstärken. Diese Dauerkrise äußert sich in einer ständigen Unsicherheit und einem Gefühl der Bedrohung. Kinder spüren die Ängste und Sorgen ihrer Eltern, sei es durch wirtschaftliche Not oder die Nachrichten über Krieg und Konflikte. Diese belastende Atmosphäre wirkt sich stark auf das psychische Wohlbefinden der Kinder aus und verstärkt Gefühle von Angst und Unsicherheit.

Bemerken Sie Veränderungen bei den Kindern, die Sie eindeutiger auf die Pandemie zurückführen? 

Es ist erkennbar, dass ein vorhandenes Wir-Gefühl zunehmend dem Egozentrismus gewichen ist. Soziales Lernen fand über große Strecken nicht statt, Kinder waren mitunter schutzlos den Medien ausgesetzt. 

Welche konkreten Folgen hat dies für die sozialen Fähigkeiten der Kinder?

Den Kindern fällt es mitunter schwer, sich im Gespräch auf ein Gegenüber in Form von Gesprächspartnern einzustellen und zuzuhören. Darüber hinaus ist ein Zustand "ausgehungert vs. nicht erzogen" zu erkennen. Die Kinder zeigen insgesamt einen großen Bedarf an Zuwendung, Aufmerksamkeit und Zusammen-Sein, was dazu führt, dass die Betreuenden gewissermaßen ausgesaugt werden. Gleichzeitig fehlen auf Seiten der Kinder jedoch die Kompetenzen, die ein friedliches und produktives Zusammen-Sein in der Gruppe ermöglichen, was zu einer Form von Einzelkämpfertum in der Gruppe führt. Der erhöhte Medienkonsum hat dazu geführt, dass viele Kinder sich zurückziehen und in ihrer eigenen Welt leben. Kinder sitzen zusammen in einem Raum, sind jedoch ausschließlich mit dem eigenen Bildschirm beschäftigt.

Haben Sie das Gefühl, dass sich auch das Gesundheitsempfinden der Kinder verändert hat? Falls ja, wie gehen Sie damit um?

Die Unterscheidung zwischen krank und gesund ist insgesamt wichtiger geworden. Ängste sind auf Seiten der Kinder als auch der Betreuenden anzutreffen. Wir bieten den Kindern und Jugendlichen Gespräche an, um mit diesen Ängsten umzugehen. Es ist wichtig, ein offenes Ohr zu haben und über Ängste zu sprechen, das kann schon helfen. Für die Betreuenden bieten wir Supervision und Fortbildungen an, um sie in ihrer wichtigen Arbeit zu unterstützen und zu stärken.

Chancen für die Zukunft: Vergebung und Menschlichkeit

Haben Sie festgestellt, dass durch die Pandemie eine erhöhte Aufmerksamkeit und Sensibilisierung für psychosoziale Herausforderungen in der Öffentlichkeit entstanden ist?

Dankenswerterweise bekommt das Thema Mentale Gesundheit heutzutage insgesamt viel mehr Aufmerksamkeit, da wahrscheinlich jeder in den letzten Jahren mindestens einmal an seine oder ihre Grenzen geraten ist.

Wie könnte diese Dynamik genutzt werden?

Ich habe schon zu Beginn der Pandemie für mich festgestellt, dass wir einander im Anschluss wahrscheinlich viel verzeihen müssen. Auf allen Ebenen. Corona hat unserer Generation gefühlt zum ersten Mal deutlich gezeigt, dass die Menschheit nicht für alles automatisch eine Antwort hat. Es war unsere Aufgabe, gemeinsam Auswege zu suchen und gleichzeitig niemanden dabei aus den Augen zu verlieren. Vieles ist dabei sicherlich gelungen, anderes nicht. Ein guter Umgang mit eigenen Fehlern aber auch den Fehlern anderer kann heilsam und gleichzeitig ermutigend sein. Vielleicht kann es auch helfen, in kleineren Kreisen zu denken, eher lokal statt global. Sein Gegenüber öfter mal ehrlich und interessiert „Wie geht es Dir?“ zu fragen und dabei auch etwas Zeit für die Antwort mitzubringen.

Resilienz in der Jugendhilfe: Beziehung als Schlüssel

Welche langfristigen Lehren können Ihrer Meinung nach aus der Corona-Krise für die Jugendhilfe gezogen werden?

Sicherlich ist Digitalisierung diesbezüglich ein großes Thema, auch wenn wir festgestellt haben, dass der direkte Kontakt durch nichts zu ersetzen ist. Vielleicht finden sich aber gute Ansätze, die die digitale Welt mit der realen besser verknüpfen können. Auf jeden Fall müssen Kinder dabei unterstützt werden, sich besser und sicherer im digitalen Raum zu bewegen.

Wie können die während der Pandemie gewonnenen Erkenntnisse genutzt werden, um die Jugendhilfe in Zukunft resilienter zu machen?

Für mich sind die drei wesentlichen Punkte meiner Arbeit Beziehung, Beziehung und Beziehung. Die Mitarbeitenden müssen auch in Zukunft zuhören, sprechen, und „sich zeigen“, um insgesamt die Beziehungsfähigkeit der Kinder zu stärken. Darauf lässt sich dann alles andere aufbauen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Nadine Salihi.

Link zu unserer fünfteiligen Interviewreihe

In unserer Interviewreihe bieten wir spannende Einblicke in die Folgen der Corona-Pandemie für die Kinder- und Jugendhilfe. Die Interviews umfassen verschiedene Perspektiven und sollen einen Beitrag zur aktiven Aufarbeitung dieser kritischen Zeit leisten.

Link zur Magazinseite „Auswirkungen der Corona-Pandemie“

  • Mit einem Dossier zum Thema Mentale Gesundheit 
  • Mit aktuellen Nachrichten
  • Mit weiteren Interviews aus der Akutphase der Pandemie.

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Redaktion: Sofia Sandmann

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