Analyse
Vor dem Familiengericht sind nicht alle gleich
Der Soziologe Dr. Wolfgang Hammer hat mit einem anonym bleibenden Team familienrechtliche Fälle in der Medienberichterstattung analysiert. Das Team kommt zu dem Schluss, dass Mütter in Verfahren häufig mit Vorverurteilungen zu kämpfen haben, die dem Schutz ihrer Kinder zum Nachteil getraten.
21.11.2024
Erstmals weist eine Studie eine vorurteilsgeleitete Grundannahme gegenüber Müttern in Familiengerichten und Jugendämtern nach. Diese führt zu fehlendem oder unzureichendem Schutz vor Gewalt für Kinder und Mütter, Betroffene verlieren dadurch ihre Stimme vor Gericht. Das verletzt den grundgesetzlich garantierten Gleichheitsgrundsatz und nimmt Betroffenen die Chance auf ein faires Verfahren. Die neue Studie des Hamburger Soziologen Wolfgang Hammer erscheint anlässlich des Tages der Kinderrechte am 20. November und dem Tag gegen Gewalt an Frauen am 25. November. Sie ist ein Follow-Up seiner 2022 publizierten Studie „Familienrecht in Deutschland“. Unter dem Titel „Macht und Kontrolle in familienrechtlichen Verfahren. Eine Analyse medialer Falldokumentationen“ werten Hammer und sein Team 154 familienrechtliche Fälle aus, die lokale, regionale und bundesweite Medien unabhängig voneinander recherchiert haben. Darunter sind 49 Investigativrecherchen. Die Analyse basiert auf 269 Quellen. Sie inkludieren 19 Tötungsfälle von Müttern und Kindern, die im Zusammenhang mit Sorge- und Umgangsrechtsverfahren stehen – ein Anteil von 12 Prozent der analysierten Fälle, bei denen familienrechtliche erfahren für Frauen oder/und Kinder mit dem Tode endeten.
Befund: Ideologie gefährdet Frauen und Kinder
Die Analyse der deutschlandweit von Medien recherchierten Fälle dokumentiert in der Gesamtschau erstmals klar, dass bundesweit in Jugendämtern und Familiengerichten eine vorurteilsgeleitete Grundannahme gegenüber Müttern verwendet wird. Die Studienautor*innen benennen das Phänomen als PAS-Vorannahme (vgl. Info-Box). Ihre Wirkweise in Verfahren macht nach Einschätzung der Studienautor*innen die Rechte von Müttern und Kindern unsichtbar. Das PAS-Konzept (Parental Alienation Syndrome) wird z.B. unter Begriffen wie Bindungsintoleranz, Bindungsfürsorge oder Entfremdung in etlichen Familiengerichten und Jugendämtern unhinterfragt angewandt. Die Studie zeigt, dass in der Praxis dadurch Kinder und Mütter als Gewaltopfer kein Gehör finden. Durch die PAS-Vorannahme erleben Mütter und Kinder statt Schutz eine Fortsetzung des Macht- und Kontrollverhaltens von Vätern durch die Institutionen, die sie eigentlich schützen müssen. Die Studie arbeitet außerdem heraus, dass die in Verfahren von Jugendämtern und Familiengerichten involvierten Fachleute nicht oder nur eingeschränkt über wissenschaftsbasierte Fachkenntnisse verfügen oder diese nicht anwenden. Stattdessen greifen sie auf pseudowissenschaftliche Deutungs-Schablonen wie das PAS-Konzept zurück. Dadurch hat sich an etlichen Familiengerichten in Deutschland ein ideologiebasiertes Schema in familiengerichtlichen Verfahren etabliert, das den gesetzlichen Auftrag zur Sachaufklärung missachtet und Frauen und Kinder gefährdet. So werden in 147 der 154 analysierten Fälle unwissenschaftliche Begriffe wie „Bindungsintoleranz“, „Entfremdung“, „Mutter-Kind-Symbiose“ oder behauptete (widerlegte) „psychische Störungen der Mutter“ vom Familiengericht zur Begründung von Inobhutnahmen, Heimunterbringungen, Umplatzierungen oder von Zwangsvollstreckungen unter Gewaltanwendung gegen Kinder, Zwangswechselmodellen und Umgängen unter Zwang von altersgerecht entwickelten, sozial gut integrierten und gesunden Kindern herangezogen.
Bundesweites Muster: Systematische Täter-Opfer-Umkehr
Die analysierten Falldokumentationen decken ein Muster auf, das bisher in den „Black Boxen“ Jugendämter und Familiengerichte verborgen blieb, da diese Verfahren nicht öffentlich sind. Dem in der Studie herausgearbeiteten Muster liegt eine systematische Täter-Opfer-Umkehr durch Jugendämter und in Familiengerichten zugrunde. Sobald die PAS-Vorannahme in familienrechtlichen Verfahren angewandt wird, besteht für Kinder und Mütter kaum eine Chance, dieser Deutungs-Schablone zu entkommen. „Das stellt eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes zulasten von Frauen und damit auch den Kindern dar“, urteilt Studienautor Wolfgang Hammer.
Weitere Befunde
Die vorgelegte Studie bestätigt den Erstbefund von Kartellbildungen an Familiengerichten aus der ersten Studie von 2022: Aus dem analysierten Material ergibt sich, dass sich an Familiengerichten teils feste Kartelle aus Richtern, erfahrensbeiständen und Gutachtern etabliert haben, die dauerhaft und folgenschwer zusammenarbeiten. Die Studie dokumentiert darüber hinaus, wie gewissenhaft und aufwändig deutsche Medien – von der Lokalzeitung bis zu bundesweiten Medien – ihrer Verantwortung als vierter Gewalt nachkommen und gerecht werden. Umso erstaunlicher ist es, dass die breite Berichterstattung bisher zu keiner Veränderung in der Bewertung der Problemlage seitens der Politik geführt hat.
Dokumentationen des Grauens
Die analysierten Medienberichte sind „Dokumentationen des Grauens“, sagt Studienautor Wolfgang Hammer. Sie zeigen jedoch nur die Spitze des Eisbergs, denn Medien berichten über Familienrechtsfälle meist auf Initiative von Betroffenen – die sich jedoch aus Angst vor negativen Folgen im Familiengericht meist nicht an Medien wenden. Die Medienrecherchen geben einen Einblick in die Lebensrealitäten Betroffener und ermöglichen eine humanistische Perspektive auf die familienrechtliche Entwicklung. Diese Entwicklung steht national und international in Wissenschaft, Politik und Praxis seit Jahren vermehrt und deutlich in der Kritik. Die analysierte Berichterstattung zu Strafprozessen, die Investigativrecherchen sowie die sich zeigenden
Muster in den Medienberichten über Familienrechtsfälle stellen ein Zeugnis über den Verbreitungsgrad des Geschehens an Jugendämtern und Familiengerichten dar und machen sichtbar, was bisher von der Politik nicht gesehen wird:
„Praktiken geschlechtsspezifischer Gewalt und Marginalisierung der Mutter-Kind-Bindung sind an der Tagesordnung“,
fasst Studienautor Wolfgang Hammer die Ergebnisse zusammen. Seine Einschätzung fällt deutlich aus:
„Aufgrund von Einstellungen, Meinungen und ideologischer Zielrichtungen wird systematisch und inzwischen auch systemisch Machtmissbrauch betrieben. Systeme, in denen Unrecht geschieht, wachsen zunächst im Verborgenen. Wenn Legislative, Exekutive und Judikative es zulassen, dass rechtsstaatliche Grundsätze infrage gestellt, und Gewaltformen an Kindern und Müttern juristisch legitimiert werden, dann versagt der Staat in seinem Schutzauftrag, der Rechtsstaat erodiert.“
Hammer fordert daher eine sofortige Untersuchung und gründliche Aufarbeitung der Lage durch die Politik:
„Das ist unabdingbar und unerlässlich vor einer Reform des Kindschaftsrechts.“
Er mahnt:
„Die bestehende Praxis in Familiengerichten und Jugendämtern gefährdet das Vertrauen in unsere rechtsstaatlichen, demokratischen Institutionen nicht nur heutiger Erwachsener, sondern auch der heranwachsenden Generationen. Sie gefährdet konkret Kinder und Mütter – und im Großen den Bestand unserer Demokratie.“
Weitrere Informationen
Die Pressemeldung als PDF (146 KB)
Artikel zur Studie in der Tageszeitung taz vom 19.11.2024
Kontakt
Dr. Wolfgang Hammer
Telefon: 040 523 54 22
E-Mail: kontakt@familienrecht-in-deutschland.com
Quelle: https://www.familienrecht-in-deutschland.de/ vom 19.11.2024
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