Interview

Menschen mit Behinderung vor Übergriffen schützen

Das Thema „Kinderschutz“ ist in aller Munde. Auch SOS-Kinderdorf e.V. hat bundesweit in beinahe allen 38 Einrichtungen spezialisierte Kinderschutzkräfte eingestellt. Doch nicht nur Kinder sind besonders vulnerable Gruppen, deren Rechte gestärkt werden müssen, auch Menschen mit Beeinträchtigungen gehören dazu.

12.12.2023

Deshalb hat SOS-Kinderdorf auch in seinen drei Dorfgemeinschaften, in denen Menschen mit geistiger Behinderung leben, Fachkräfte für den Betreutenschutz engagiert. Eine von ihnen ist Sozialpädagogin Leonie Grabke aus der Dorfgemeinschaft SOS-Hof Bockum in Niedersachsen. Anlässlich des „Tages der Menschen mit Behinderung“ erklärt sie, warum dieses Thema unerlässlich ist, mit welchen Konzepten die Betreutenschutz-Fachkräfte Grenzüberschreitungen vorbeugen und wie sie Menschen mit Behinderung einbeziehen können.

SOS-Kinderdorf: Frau Grabke, Sie sind „Betreutenschützerin“ – zu welchem Zweck wurde Ihre Stelle eingerichtet?

Sozialpädagogin Leonie Grabke: SOS-Kinderdorf startete im Jahr 2020 einen großangelegten Aufarbeitungsprozess, der sich mit Grenzüberschreitungen und Unrechtsfällen in der Vergangenheit beschäftigt. Um zukünftig Übergriffen und pädagogischem Fehlverhalten besser vorzubeugen und dies zu verhindern, etablierte der Verein in fast allen Einrichtungen Fachkräfte für den Kinder- und Betreutenschutz. Zusätzlich gibt es seit Mitte 2021 eine gesetzliche Vorgabe, die stationäre Einrichtungen dazu verpflichtet, geeignete Maßnahmen zum Schutz ihrer Klienten zu implementieren.

Warum braucht es neben dem pädagogischen Personal Ihre Stelle?

Alle Mitarbeitenden vereint der Wille, Bewohner und Werkstattbeschäftigte, also unsere Betreuten, in ihrer Persönlichkeitsentwicklung und dem Erreichen ihrer Ziele zu fördern und zu begleiten. Das birgt besondere Herausforderungen – gerade in Zeiten des Fachkräftemangels. Lassen Sie mich das veranschaulichen: Unsere Arbeit fordert und fördert Nähe und Beziehung, bei Gesprächen genauso wie bei körperlicher Unterstützung. Das ist gut und wertvoll. Aber es kann auch eine Herausforderung sein.

Um Überforderung vorzubeugen, braucht es einen professionellen Blick auf diese Aufgaben und die Mitarbeitenden. Wir müssen Nöte der Mitarbeitenden frühzeitig erkennen und ihnen begegnen – das kommt im Endeffekt den Betreuten zugute.

Doch nicht nur auf personeller Ebene sind präventive Strukturen und Angebote wichtig, sondern auch auf institutioneller Ebene. Haben die Mitarbeitenden genug Möglichkeiten zur Reflexion über ihre Arbeit und ihre Ressourcen, gibt es genug Supervision? Wird eine fehlerfreundliche Kultur und Haltung gefördert? Werden Mitarbeitende gut begleitet und frühzeitig aufgefangen, wenn es zu Überforderung kommt?

Beteiligung grundlegend für die Arbeit

Das bedeutet für Ihre tägliche Arbeit?

Ich nenne Ihnen wieder ein Beispiel: Aus einem Workshop mit den hier betreuten Menschen mit Behinderungen ergibt sich, dass sie Unterstützung im Bereich „Schutz im Internet“ benötigen. Für die Einrichtung und natürlich auch mich schließt sich damit die Frage an, ob wir bereits jetzt in diesem Bereich adäquat helfen können.

Meine Aufgabe ist es nun, entsprechende Angebote im Rahmen unseres Gewaltschutzkonzepts für unsere Bewohner und Werkstattbeschäftigten zu schaffen. Wichtig ist dabei immer, dass die Betreuten selbst überprüfen, ob unsere Maßnahmen in der Praxis taugen.

Wenn wir uns beispielsweise mit dem Beschwerdemanagement beschäftigen und der Meinung sind, dass es Symbolkarten braucht, damit sie sich besser ausdrücken können, dann muss auch überprüft werden, ob die Idee in der Umsetzung wirklich sinnvoll ist und sie das Symbol eindeutig zuordnen können. Das können die Bewohner am besten selbst tun, mit meiner Hilfe. Hier ist auch das Thema Beteiligung grundlegend!

Wo liegen die Herausforderungen speziell in Hof Bockum beim Betreutenschutz?

In Bockum stellen die unterschiedlichen Bereiche mit ihren entsprechenden Bedarfen und Möglichkeiten eine besondere Herausforderung dar. Im Wohnbereich in den Hausgemeinschaften besteht das Risiko, dass die Mitarbeitenden oft allein und lange am Stück arbeiten, also seltener die Möglichkeit für Reflexion und Abstand haben. Gleichzeitig haben die Bewohner durch diese Struktur weniger wechselnde Ansprechpersonen, was aber zum Teil auch gewollt ist, um verlässliche Bezugspersonen zu ermöglichen.

Eine weitere Herausforderung ist der ländliche Standort in einem kleinen Dorf, was natürlich Vorteile, aber auch Grenzen mit sich bringt. Beispielsweise ist die Möglichkeit von selbständiger Mobilität eingeschränkter als in der Stadt. Kontakt zu anderen Menschen und Ausweichmöglichkeiten sind hier zwar in der Fläche durch die wunderschöne Landschaft gegeben, aber es gibt weniger Kontakt zu Menschen von außen, denen man sich anvertrauen könnte.

Wie wollen Sie in Zukunft für mehr Schutz sorgen?

Wichtig ist, sich dessen bewusst zu sein, dass auch eine Gewaltschutzfachkraft nicht verhindern kann, dass es zu Grenzüberschreitungen kommt. Denn hier arbeiten Menschen mit Menschen – und Menschen machen Fehler.

Meine Aufgabe ist es, Strukturen und Bedingungen zu verbessern, um diesen Fehlern bestmöglich vorzubeugen: Vielfältige Angebote für die Klienten anzubieten, die sie befähigen und stärken. Ein offenes Ohr für die Bedarfe auch seitens des Kollegiums haben und das nötige Engagement, diesen zu begegnen und die fachliche und kollegiale Auseinandersetzung zu fördern. Und auch die Einrichtung durch ein gutes, umfassendes Gewaltschutzkonzept mit präzisen Inhalten und Zuständigkeiten auf dem steten Weg zu immer besserer Arbeit zu unterstützen.

Können Sie Menschen mit Behinderung dort einbeziehen?

Aber natürlich! Egal, ob aus der Perspektive eines Kindes, eines Arbeitnehmers, einer ganzen Gesellschaft oder eben unserer Klienten: Jede Entscheidung, jede Regel wird am besten akzeptiert und mitgetragen, wenn sie partizipativ entstanden ist, also jede Person selbstwirksam den eigenen Teil dazu beitragen konnte.

Deshalb ist dies ein fester Bestandteil unseres Gewaltschutzkonzepts. Wir haben selbstverständlich alle gesetzlich vorgeschriebenen Gremien wie den Werkstattrat, den Bewohnerrat und die Frauenbeauftragten und fördern und unterstützen diese auch in der Ausübung. Aber auch im alltäglichen Miteinander, im Wohnen oder in der Werkstatt für behinderte Menschen eröffnen sich immer wieder Möglichkeiten, unsere Klienten zu beteiligen.

Quelle: SOS-Kinderdorf e.V. vom 30.11.2023

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