Kinder- und Jugendhilfe im Kontext Rechtsextremismus

Kinder- und Jugendschutz im Kontext Rechtsextremismus

Für unsere Artikelreihe zum Thema „Rechtsextremismus und Kinderschutz“ widmet sich der Autor Ruben Falldorf in diesem Artikel der Frage, wie rechtsextreme Erziehung und Ideologieverbreitung Kinder prägen, welche juristischen Aspekte zwischen Kinder- und Elternrechten bestehen und welche Herausforderungen sich für Fachkräfte im Kinderschutz ergeben – vor dem Hintergrund zunehmender rechtsextremer Straftaten und Einstellungen in Deutschland.

18.03.2025

Wie in der gesamten Gesellschaft gibt es auch innerhalb der rechtsextremen Szene unterschiedliche Muster in der Erziehung. Dennoch sind Tendenzen zu einem autoritären, emotional- und bindungsarmen Erziehungsstil erkennbar. Dieser fußt auf einer rassistischen, antisemitischen, sexistischen, interdiskriminierenden völkisch-nationalistischen und sozialdarwinistischen Grundlage, die von einer Ungleichwertigkeit der Menschen ausgeht und damit auf die Abwertung und Verfolgung bestimmter Gruppen abzielt. Kinder sind von hoher Bedeutung in der rechtsextremen Szene und stellen ein politisches Instrument dar. Mit konkreten Inhalten, Regeln und Ritualen sollen Ideologie und Lebensweise an die Kinder weitergegeben werden.

Trotz des hohen Stellenwertes der Kinder überwiegt innerhalb der Erziehung der Leitspruch der Hitlerjugend: „Du bist nichts dein Volk ist alles“. Daran wird deutlich, dass das individuelle Leben des Kindes zurückgestellt wird. Die eigenständigen Entwicklungen des Kindes stellen keine Relevanz dar und werden nicht gefördert oder begleitet. Äußere Faktoren, welche auf die Lebensrealität der Kinder wirken könnten, werden systematisch beschnitten, womit massive Einschränkungen im Bereich der persönlichen Entwicklung einhergehen. 

Instrumentalisierter Kinderschutz und ideologische Vereinnahmung

Durch das gesellschaftliche Bild von Kindern als unschuldige und vulnerable Wesen hat der Bezug auf sie ein hohes moralisches Gewicht. So wird die Sorge um Kinder rhetorisch aufgeladen und politisch verwertet, etwa durch neonazistische Kampagnen mit Slogans wie „Todesstrafe für Kinderschänder“, die unter anderem auch von der NPD (heute „Die Heimat“) verbreitet wurden. Der Kinderschutz ist dabei weniger relevant und strukturelle Rahmenbedingungen und fachliche Expertisen werden ausgeblendet. Das Thema dient lediglich der Mobilisierung und Selbstinszenierung, um sympathisch und engagiert zu wirken.

Rechtsextreme Akteur*innen inszenieren sich als „Kümmerer“ und bieten vermehrt zielgruppenspezifische Angebote für Kinder und Jugendliche an (z. B. rechtsextreme Ferienlager und Fahrten). Sie unterwandern Jugendzentren, veranstalten Konzerte oder bieten Kinderaktionen, wie Kinderschminken oder Hüpfburgen auf Veranstaltungen an. Ebenfalls treten vermehrt Rechtsextreme in sozialen Berufen auf. Der Schutzauftrag wird dabei konsequent den ideologischen Zielen untergeordnet. Das bedeutet, dass die Weitergabe und Erfüllung der ideologischen Ziele über die Qualität der Betreuung und das Wohl des Kindes gestellt wird.

Rechtliche Bestimmungen zu Kindeswohl und Elternrecht

Kinder sind von Geburt an Rechtsträger*innen, womit das Recht auf Wohlergehen einhergeht. Das Kindeswohl ist in entsprechenden Rechten definiert. Hierbei sind insbesondere die im Grundgesetz festgeschriebene Menschenwürde (Art. 1 GG), das Recht auf Entfaltung der eigenen Persönlichkeit (Art. 1 GG), das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 GG) sowie die Glaubensfreiheit (Art. 4 GG) hervorzuheben. Parallel dazu müssen die Artikel der UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) betrachtet werden, die der Gewährleistung des Schutzes dienen und in Deutschland den Rang eines Bundesgesetzes haben. So ist in Artikel 3 der UN-KRK, das Wohl des Kindes festgehalten: „Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist“.

Staatliche und pädagogische Maßnahmen dürfen das Elternrecht nicht verletzen. Das Elternrecht ist jedoch an das Wohl des Kindes gebunden. Ist das Wohlergehen gefährdet, darf der Staat einschreiten. Das Elternrecht ist im Grundgesetz im Recht auf Pflege und Erziehung (Art. 6 Abs. 2 GG), der Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) und dem Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 5 Abs. 1 GG) verankert. Konkretisiert wird das Elternrecht im Bürgerlichen Gesetzbuch (§§ 1626 ff. BGB) mit der elterlichen Sorge. Diese Rechte sind vor dem Hintergrund der autoritären und diktatorischen Erfahrungen im Nationalsozialismus entstanden: Während im Nationalsozialismus der Staat von Geburt an einen intensiven Einfluss auf die Erziehung ausübte und so die Kinder im Sinne der „Volksgemeinschaft“ erzogen wurden, wurden mit der Gründung der Bundesrepublik keine bestimmten Erziehungsziele in der Verfassung festgehalten. Stattdessen sollen Eltern ihre Kinder selbstbestimmt erziehen. Das bedeutet, dass der im Grundgesetz verankerte hohe Wert der Familie, die einen besonderen verfassungsrechtlichen Schutz genießt, eine demokratische und antifaschistische Errungenschaft ist, die es zu verteidigen gilt und die nicht leichtfertig eingeschränkt werden darf. Der Staat übernimmt dabei ein Wächteramt und hat die Aufgabe, die Rahmenbedingungen zu schaffen, dass Kinder unter der Obhut der Eltern gesund aufwachsen können und zu selbstständigen Menschen werden. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass die Eltern das Wohl des Kindes und seine Interessen wahrnehmen und sichern, auch wenn die Entscheidungen oder Weltanschauungen der Eltern das Kind benachteiligen können.

Was genau bedeutet Kindeswohl und Kinderschutz

Das Spannungsverhältnis liegt für Fachkräfte darin, zwischen Kinderrechten und Elternrechten abzuwägen und festzustellen, ab wann die Kinder durch die Weltanschauung der Eltern und den damit einhergehenden Erziehungsmethoden so betroffen sind, dass ein Eingreifen gerechtfertigt ist. Das „Wohl des Kindes“ stellt aus juristischer Perspektive einen unbestimmten Rechtsbegriff dar, der nicht allgemeingültig angewandt werden kann. Die Auslegung, ab wann von einer Kindeswohlgefährdung gesprochen werden kann, richtet sich nach einem gesellschaftlichen Werteverständnis. Die Beurteilung über das Wohl des Kindes wird in eine „Bestvariante“, eine „Genug-Variante“ und eine explizite Gefährdung differenziert.

Es bedarf stets einer Einzelfallprüfung, ob eine Gefährdung vorliegt. Lediglich Einstellungen, Lebensweise oder Erziehungsstil reichen nicht aus, um den Tatbestand der Kindeswohlgefährdung zu erfüllen. Der Staat darf erst eingreifen, wenn aufgrund der Erziehung von einer psychischen oder physischen Schädigung des Kindes auszugehen ist. „Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet und sind die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage, die Gefahr abzuwenden, so hat das Familiengericht die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind“ (§1666 BGB). Die in verschiedenen Aussteiger*innenberichten, szeneinternen Ratgeber*innen und wissenschaftlichen Analysen beschriebene Erziehung in rechtsextremen Familien bietet Anlass für den Verdacht auf eine Kindeswohlgefährdung nach § 8a SGB VIII. Insbesondere in Abgleich mit den Kinderrechten und einer Einhaltung der drei Grundprinzipien von Förderungs-, Schutz- und Beteiligungsrechten.

Kindeswohlgefährdung und rechtsextreme Weltanschauung

Trotz zahlreicher Anzeichen existieren bisher keine juristischen Präzedenzfälle, welche eine Kindeswohlgefährdung in Bezug auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit im Zusammenhang mit einer rechtsextremistischen Erziehung konstatieren. Als Vergleichsgruppe können fundamentalistische Elternhäuser herangezogen werden, bei welchen Beeinträchtigungen innerhalb der Entwicklung durch physische und psychische Gewalt anerkannt wurden. Vermehrt herrschte in diesen spezifischen Elternhäusern ein autoritärer Erziehungsstil, der auf Disziplin und Unterordnung ausgerichtet war. An dieser Stelle kann eine Parallele zu rechtsextremen Elternhäusern gesehen werden, in welchen ebenso eine vollständige Unterordnung aller Lebensbereiche unter die „Volksgemeinschaft“ gefordert wird. 

Anzeichen einer Gefährdung können an verschiedenen Stellen sichtbar werden, wie beispielsweise das Tragen von zu dünner Kleidung zur Abhärtung, Schulverweigerung, Unterbinden von sozialen Kontakten zu Gleichaltrigen, Förderung von Gewalt oder das Verwenden und Erlernen von verfassungsfeindlichen Texten. In diversen Publikationen wird zudem auf die erlernte Ablehnung humanistischer Werte sowie einen Loyalitätskonflikt zwischen der Herkunftsfamilie und äußeren Anforderungen hingewiesen, die häufig auf früh indoktrinierte Freund-Feind-Konstruktionen zurückzuführen sind und den Erfahrungsraum der Kinder massiv einschränken. 

Das Beispiel der Aussteigerin Tanja Privenau behandelt das komplexe Verhältnis des staatlichen Wächteramtes gegenüber Kindern aus einem rechtsextremen Milieu. 2005 stieg sie mit ihren Kindern aus der rechtsextremen Szene aus, während ihr Mann weiter im völkischen Neonazi-Kader aktiv blieb. Neben mehreren Identitätswechseln und Bedrohungssituationen gegen Tanja Privenau, welche sich aus der weitreichenden Vernetzung der rechten Szene und der Aufdeckung sämtlicher vom Verfassungsschutz geschaffenen Schutzräume ergaben, lief ein mehrjähriger Rechtsstreit um das Sorgerecht der Kinder. Erst in letzter Instanz wurde dem Vater auch das anteilige Umgangsrecht aberkannt. Begründet wurde diese Entscheidung jedoch nicht mit seiner ideologischen Einstellung, sondern da: „Gefahr für Leib und Leben der Kindesmutter und damit eine mittelbare Gefährdung für die Kinder bestand“. Damit wird deutlich, dass allein die Ideologie nicht ausreichend war, um eine Gefährdung des Kindeswohls festzustellen. Erst durch eine konkrete Bedrohungssituation bestand eine juristische Handhabe für den Entzug des Umgangsrechts. Dies kann jedoch in vielen Fällen für Kinder und Jugendliche zu spät sein, da die Ideologisierung durch die Eltern ab dem Moment der Geburt beginnt und die damit einhergehenden psychischen Belastungen oftmals erst zu einem späteren Zeitpunkt ersichtlich werden.

Rechtsextremer Kinderschutz: Ein trügerisches Konzept

Verschiedene rechtsextreme und rechtsoffene Initiativen, wie zum Beispiel „Eltern stehen auf“, agieren oft unter dem Deckmantel des Kinderschutzes, dabei geht es jedoch nicht um die Umsetzung der Kinderrechte oder ihre Aufnahme ins Grundgesetz. Gegenstand sind vielmehr verschiedene Szenarien, die Angst schüren sollen, wie beispielsweise „Kinderraub durch Jugendamt“. Dabei wird eine überproportionale Betroffenheit von nicht systemkonformen Eltern proklamiert. Hierbei wird das Narrativ des zu schützenden „deutschen“ Kindes bedient. Gefahren für Kinder werden hauptsächlich in äußeren Einflüssen durch Schule, Gesellschaft und pädagogische Praktiken gesehen. Daraus wird ersichtlich, wie einschränkend die rechtsextreme Betrachtung des Kindeswohls ist.

Rechtsextremismus wird von einem Großteil der Gesellschaft lediglich als Randphänomen wahrgenommen. Deshalb ist vielen nicht klar, dass rechtsextreme Ideologien massive negative Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung haben können. Dies wurde besonders deutlich in den Reaktionen der Boulevardpresse (z. B. der „Bild“) und des politisch-nationalkonservativen Lagers auf die 2018 veröffentlichte Broschüre Ene mehne muh und raus bist du – Ungleichwertigkeit und frühkindliche Pädagogik der Amadeo Antonio Stiftung . Die Konfrontation mit den in der Broschüre behandelten rechtsextremen Sozialisationsbedingungen löste bei breiten Teilen der Gesellschaft die Sorge vor einem „Generalverdacht für die ordentliche deutsche Familie“ aus. So wird eine strengere Kontrolle des Kindeswohls bei anderen gesellschaftlichen Subgruppen, wie Familien mit Migrationsgeschichte, minderjährigen Müttern oder gleichgeschlechtlichen Paaren gefordert. Damit gehen eine Diskursverschiebung und Verharmlosung rechtsextremer Sozialisationsbedingungen einher. Soziale Arbeit stellt einen Spiegel der Gesellschaft dar. Die Praxis kann dabei helfen, (rassistische) Stereotype zu durchbrechen. Aber es besteht auch die Gefahr einer Reproduktion dieser Vorurteile. Dementsprechend ist es wichtig, dass Fachkräfte darin geschult sind rechtsextreme Erziehungsmuster bei Kindern frühzeitig zu erkennen und zu intervenieren.

Die Erziehung und Sozialisation in rechtsextremen Familien ist nicht auf Freiheit, Menschen- oder Kinderrechten, Gewaltfreiheit oder auch dem Schutz des Individuums ausgelegt. Neben einer konsequenten Abschottung und Distanzierung von andersdenkenden Gleichaltrigen wird bereits früh in „Wir“ gegen „die Anderen“ unterschieden. Dadurch werden für die Kinder Feindbilder konstruiert, welche zu einem dauerhaften Misstrauen führen und sie verschiedenen Entwicklungsrisiken aussetzen.

Ausblick und Forderungen

Angelehnt an die Förderungs-, Schutz- und Beteiligungsrechte ist es wichtig, Kinder vor rechtsextremistischen Weltanschauungen zu schützen, indem sie zur aktiven Auseinandersetzung befähigt werden. Eine konsequente Schaffung von Transparenz und Aufklärung über extrem rechte Strukturen und Erziehungsmethoden erfordert einen flächendeckenden Ausbau und die Förderung von demokratischen Projekten. Die (Weiter-) Entwicklung und Förderung solcher Projekte existiert zwar, doch gibt es insbesondere in ländlichen Gebieten erhebliche Leerstellen. Dies ist oft auf die fehlende finanzielle Unterstützung durch die Politik zurückzuführen. In Anlehnung daran ist es sinnvoll, weiterführend insbesondere die Institution Schule in den Fokus zu nehmen, da sich dieser schwer entzogen werden kann und die meisten Kinder dort anzutreffen sind. Demokratische Projekte sollten mit externen Beratungen und Kooperationen weiterentwickelt werden, die sich zielgruppenspezifisch der Thematik widmen. Pädagogische Fachkräfte sollten dahingehend geschult werden, auffälliges Auftreten und Verhalten, was auf einen extrem rechten Hintergrund hinweist, zu erkennen. Auch müssen im Kinder- und Jugendhilfesystem kindgerechte Anlaufstellen geschaffen werden, die, sofern es vom Kind gewünscht oder durch die Feststellung einer Kindeswohlgefährdung notwendig ist, auf Beratung und Ausstiegshilfen für Kinder aus rechtsextremen Familien spezialisiert sind. Fachkräfte aus der Kinder- und Jugendhilfe sollten sich stets der Risiken bewusst sein, die mit der Arbeit mit rechtsextremen Familien einhergehen. Sie haben jedoch auch die Chance mit einer klaren Haltung und einem sicheren und emotional nahbaren Auftreten, den Kindern demokratische Grundlagen zu vermitteln und ihnen alternative Weltanschauungen näher zu bringen und somit ihr Weltbild zu irritieren.

Autor des Artikels ist Ruben Falldorf.

Redaktion: Paula Joseph