Nationaler Jugendrat warnt vor Kriegsfolgen
Kinder und Jugendliche leiden am meisten unter dem Krieg
Millionen von Menschen sind auf der Flucht. Die russischen Angriffe auf zivile Ziele in den ukrainischen Städten gehen unvermindert weiter. Kinder und Jugendliche gehören zu den Opfern. Aber junge Menschen gehören auch zu denjenigen, die jetzt tatkräftig mit anpacken. Welche Zukunft haben sie? IJAB hat darüber mit Natalia Shevchuk vom Nationalen Jugendrat der Ukraine, dem Dachverband der Jugendorganisationen, gesprochen.
08.04.2022
ijab.de: Was bedeutet die russische Aggression für die Zukunft der jungen Menschen in der Ukraine?
Natalia Shevchuk: Das ist nicht so leicht zu beantworten. Der Krieg hat ja nicht erst am 24. Februar angefangen, er begann schon 2014 mit der Annexion der Krim und der Ausrufung der sogenannten Volksrepubliken in Luhansk und Donezk. Gegenwärtig ist die Situation auf dem gesamten Gebiet der Ukraine recht unterschiedlich, aber unsere Generation und künftige Generationen werden sicher nicht vergessen, wie viele Ukrainer*innen durch russische Hand getötet wurden. Wenn wir über Gebiete sprechen, die seit 2014 unter russischer Besatzung stehen, kann ich sagen, dass Vertreter*innen verschiedener Organisationen den Kontakt mit jungen Menschen dort gehalten haben und so darüber berichten können, was dort geschah und weiterhin geschieht. Es gibt keinen freien Zugang zu Information, die persönliche Sicherheit ist in Frage gestellt und Menschenrechtsverletzungen sind an der Tagesordnung. Solche Kontakte zu halten ist sehr schwierig, denn die Menschen dort reden nur mit denjenigen, denen sie absolut vertrauen. Bereits jetzt erhalten junge Menschen in den besetzten Gebieten Einberufungsbefehle aus Russland zur Armee für den Krieg gegen die Ukraine.
Derzeit berührt der Krieg in der Ukraine jeden jungen Menschen durch persönliche Tragödien, aber auch wegen des allgemein großen Leids für das ganze Land. Hunderte und Tausende gefolterter junger Menschen leben in Bucha, Vorzel, Irpin, Gostomel, Borodyanka, Mariupol, Tschernihiw, Charkiw und Melitopol. Ukrainische Frauen wurden vor den Augen ihrer eigenen Kinder, junge Mädchen vor den Augen ihrer Familien bis zur Erschöpfung und zum Tod, vergewaltigt. Dieser Krieg, der Völkermord an den Ukrainer*innen, und alle anderen schrecklichen Kriegsverbrechen werden über Generationen hinweg nicht vergessen werden. Es ist nicht das Versagen von Putin, es ist das Versagen, für das ganz Russland als Nation verantwortlich ist.
Viele junge Menschen in der Ukraine haben bereits die Laute von Sirenen, Bombardements und Granateinschläge erlebt. Es ist total schwierig, etwas zur mentalen Gesundheit unserer ukrainischen Jugend zu sagen.
Drei Millionen Frauen, Kinder und junge Menschen sind auf der Flucht. Viele davon sind Schüler*innen und Studierende. Wann werden sie zurückkehren? Werden sie sich vielleicht in den Ländern, in die sie jetzt fliehen, so integrieren, dass sie gar nicht mehr zurückwollen? Sollte es zu einem eingefrorenen Konflikt kommen und Teile der Ukraine dauerhaft von Russland besetzt werden, dann wird der Wunsch nach Rückkehr in diese Gebiete gering sein. Die von dort Geflüchteten werden sich dann ein normales Leben im europäischen Ausland wünschen, leben und studieren wollen.
Es gibt keinen Raum mehr für unsere normale Arbeit
Kinder und Jugendliche gehören schon jetzt zu den Bevölkerungsgruppen, die am meisten unter dem Krieg zu leiden haben. Kinder verlieren ihre Eltern, sie werden zu Waisen. Sie könnten adoptiert werden, aber Adoptionsprozesse kommen in Zeiten des Kriegsrechts nicht in Gang. Die Abschlussprüfungen für Schüler*innen und Studierende wurden ausgesetzt. In einigen Regionen sind Schulen und Universitäten geschlossen, Unterricht und Vorlesungen finden, soweit es möglich ist, digital statt. Dies wirft generell die Frage nach der Qualität der Bildung auf, denn wegen der Corona-Pandemie gehen wir nun in das dritte Jahr der Schulschließungen. Junge Männer werden zur Armee eingezogen und dürfen weder arbeiten noch das Land verlassen, selbst wenn sie keine Berufssoldaten sind. Es gab auch einen Fall, in dem ein Vater als verbleibender Erziehungsberechtigter mit seiner Tochter nicht über die Grenze durfte, während seine Frau an der Front kämpft. Dies hat zu einer Kontroverse in der Gesellschaft geführt, denn irgendjemand muss ja noch arbeiten und Steuern zahlen, und selbst in Kriegszeiten sollte die Gesetzgebung auf die tatsächlichen Bedürfnisse eingehen und die Rechte der Menschen in der Gesellschaft ohne geschlechterspezifische Stereotypen sicherstellen.
Der Krieg verursacht einen großen kulturellen Wandel und Bedingungen, unter denen eine neue Architektur für die Zukunft geschaffen werden muss. Der Krieg in der Ukraine hat Auswirkungen auf jeden jungen Menschen auf der ganzen Welt. Er wirkt sich auf die Bewältigung festgefahrener Konflikte in anderen Teilen der Welt aus, in die Russland in der ein oder anderen Weise verwickelt ist. Er hat direkten Einfluss auf das Ausmaß der Nahrungsmittelkrise in ärmeren Ländern. Bereits erreichte Fortschritte bei der Gleichstellung der Geschlechter drohen zu scheitern.
Was können Jugendorganisationen in einer solchen Situation überhaupt noch tun?
Alle unsere Projekte sind zum Stillstand gekommen, es gibt keinen Raum mehr für unsere normale Arbeit. Viele unserer Mitglieder sind jetzt im humanitären Bereich tätig, weil sie das gerade leisten können und ihren Mitmenschen in dieser schwierigen Zeit helfen wollen. Sie liefern Hilfsgüter aus oder kümmern sich um die Unterbringung und Versorgung von Geflüchteten im Land. Allerdings können sie nur unter Schwierigkeiten unabhängig agieren. Es gibt Fälle, in denen Armeeverwaltungen auf regionaler Ebenen versuchen, die Hilfsleistungen auf allen Ebenen zu kontrollieren. Das betrifft zum Beispiel Lagerhallen für Hilfsgüter. Wir müssen sehr aufpassen, dass sich hier nicht ein neues Einfallstor für Korruption öffnet. Eine weitere Herausforderung ist, dass wir keine staatlichen Mittel mehr erhalten und auch keine breitere Unterstützung durch internationale Geldgeber erfahren. Das bringt unsere Mitglieder an ihre Grenzen, denn sie müssen auch das Überleben ihrer Familien absichern und können nicht ausschließlich ehrenamtlich arbeiten.
Sollten Jugendorganisationen nach dem Krieg verschwunden sein, dann fehlt ein Ort, an dem Demokratie erlernt wird. Das hat Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft. Diejenigen mit internationalen Partnerorganisationen können noch weiterarbeiten. Sie suchen Unterkünfte für Geflüchtete und helfen ihnen, eine neue vorübergehende Bleibe zu finden, sich in einer neuen Umgebung zurechtzufinden oder helfen ihnen dabei, ins Ausland zu gehen. Vor allem die Menschen aus der Ostukraine haben damit wenig Erfahrung. Wenn sie kein Englisch sprechen, können sie schon an der Grenze Schwierigkeiten bekommen. Hier in Berlin, wo ich gerade bin, sehe ich ähnliche Probleme.
Gaststatus beim Youth7 Summit
Einige wenige Projekte funktionieren noch. In Iwano-Frankiwsk gibt es zum Beispiel ein schönes Projekt zum digitalen Storytelling. Dafür wurden Stimmen aus den besetzten Gebieten gesammelt – Zitate und SMS – und auf einer Webseite zusammengefügt, die auf Ukrainisch und Englisch ist. Aber das ist eine Ausnahme.
Wir als internationale Gemeinschaft sollten schon jetzt gemeinsam daran arbeiten, Jugendorganisationen bei ihren Bemühungen um ein normales Leben zu unterstützen und sie auf die Situation nach dem Sieg vorzubereiten. Internationale humanitäre Organisationen sollten ihre Transparenz sicherstellen und ihre Tätigkeit unter Berücksichtigung der Lehren aus dem russisch-ukrainischen Krieg neu aufstellen und mehr junge Menschen in Entscheidungsprozesse einbeziehen. Jugendorganisationen in der Ukraine sollten die Chance erhalten, sich wieder auf die "inhaltliche" Jugendarbeit und nicht-formale Angebote zu konzentrieren anstatt auf humanitäre Hilfe.
Die Rolle der Jugendorganisationen ist es, Hass entgegenzuwirken, junge Künstler*innen und diejenigen zu unterstützen, die einen wichtigen Teil der Gesellschaft bilden, aber noch sehr beeinflussbar sind und zusätzliche Unterstützung brauchen, Frauen und junge Menschen zu wirtschaftlichen Aktivitäten zu befähigen, bei der Wiedereingliederung von Kindern und Jugendlichen zu helfen, nicht-formale Bildungsangebote durchzuführen, die aktuelles, zeitgemäßes Wissen vermitteln und eine Chance auf soziale Integration bieten.
Mittel der EU und der UN für die Jugendarbeit gibt es weiterhin, aber die sind nicht für den Nationalen Jugendrat der Ukraine oder andere Selbstorganisationen von Jugendlichen bestimmt. Vielleicht gibt es über den Europarat eine Möglichkeit, Jugendorganisationen finanziell zu unterstützen. Das ukrainische Ministerium für Jugend und Sport setzt sich dafür ein, dass alle Mittel, die für Projekte mit Russland bestimmt waren, in Zukunft für Projekte mit der Ukraine zu verwenden. Auf der anderen Seite ist durch den Austritt Russlands eine Finanzlücke entstanden. Wir werden sehen und uns für die Anerkennung der Jugendorganisationen und ihrer Bemühungen um Frieden und Demokratie einsetzen. Der beste Weg, die Zukunft zu gestalten, liegt darin, jetzt in junge Menschen zu investieren.
Der Nationale Jugendrat der Ukraine wird voraussichtlich zum Youth7, dem Jugendgipfel der G7, eingeladen werden. Welche Erwartungen verbindest du damit?
Ja, wir werden wohl einen Gaststatus bekommen und es wird eine eigene Arbeitsgruppe zu Jugend, Frieden und Sicherheit geben, die sich auch mit dem Krieg gegen die Ukraine befassen wird. Dazu gibt es kaum internationale Dokumente, so dass eine UN-Resolution als Grundlage dafür dient. Das ist natürlich schön, aber wir müssen auch sehen, dass etwas Praktisches dabei herauskommt. Ein politisches Papier zu schreiben und es dem deutschen Bundeskanzler vorzustellen ist auch schön, aber es muss auch umgesetzt werden. Wir haben viel Erfahrung mit unseren europäischen Partnern, aber keine mit, zum Beispiel, den USA und Kanada. Die Ukraine ist ein globaler Akteur, ein demokratisches Land mit Menschenrechtswerten, deshalb werden wir nicht nur im Namen der Jugend in der Ukraine sprechen, sondern auch laut über die Bedürfnisse der Länder, die gesehen haben, was Krieg ist, und die sich auf der Schwelle zur Entwicklung befinden. Ich hoffe, dass die Jugend der G7 auch versteht, was wir brauchen, und wir dasselbe Verständnis von Jugend, Frieden und Sicherheit haben.
Quelle: IJAB – Fachstelle für Internationale Jugendarbeit der Bundesrepublik Deutschland e.V., Christian Herrmann
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