Im Gespräch

Jugend und Corona – In der Pandemie in der stationären Jugendhilfe

Junge Menschen sind von der Corona-Krise und von ihren Folgen auf besondere Weise betroffen. Die Kinder- und Jugendhilfe leistet großen Einsatz, auch während eines Lockdowns als Begleiter an der Seite der Kinder und Jugendlichen zu bleiben. Besonders die stationären Jugendhilfeangebote sind derzeit mehr als sonst gefordert, für die jungen Menschen, die zurzeit oft in die Isolation rutschen, da zu sein. In unserer Interviewreihe „Im Gespräch“ geben uns Jennifer (19 Jahre) und Jordan (17 Jahre) Einblick in ihren Alltag des betreuten Jugendwohnens.

11.06.2021

Beeinträchtigungen, fehlende Förderung oder Probleme in der Familie sind oft Gründe dafür, dass junge Menschen nicht zu Hause wohnen können. Stationäre Angebote der Jugendhilfe nach § 34 SGB VIII können außerhalb der Familie einen alternativen Lebensraum bieten. Im Zentrum steht die Befriedigung von individuellen, entwicklungsbedingten, emotionalen, körperlichen und sozialen Bedürfnissen der jungen Menschen. 

Unabhängig zu sein, selbst zu entscheiden und selbstständig zu leben – das ist es, worauf Jugendliche hinauswollen. Stationäre Angebote können sie auch hierbei unterstützen. Betreutes Jugendwohnen ist eine Alternative zur Wohngemeinschaft und Heimunterbringung. Das Einzelwohnen richtet sich an junge Menschen im Verselbständigungsprozess, die keiner 24-Stunden-Betreuung bedürfen. Ziel ist, dass die Jugendlichen neue, angemessene Lebensstrategien entwickeln und sich selbst Perspektiven erarbeiten, inklusive ihrer schulischen und beruflichen Entwicklung. Darin werden sie von konstanten Betreuungs- und Bezugspersonen unterstützt. 

Ende 2020 hatte das Fachkräfteportal bereits aus Perspektive der Kinder- und Jugendhilfe über Jugendliche in betreuten Wohngruppen berichtet. Deutlich wurde: wegen Corona sind junge Menschen die meiste Zeit zu Hause. Strenge Hygienekonzepte ändern die Abläufe im Haus. Es ergeben sich aus Sicht der Fachkräfte einige Aspekte, die sich sowohl vor- als auch nachteilig zeigen. Um nur einen zu nennen: die jugendlichen Bewohner/-innen konzentrieren sich auf andere Dinge als sonst, sie stehen weniger unter Druck – sind mehr nach innen gekehrt. Dies ermöglicht Persönlichkeitsentwicklung. Gleichzeitig werden junge Menschen in die Isolation gedrängt und soziale Kontakte erschwert, die im Jugendalter unter Peers so wichtig sind. 

Liebe Jennifer, lieber Jordan: Vielen Dank, dass wir mit Euch über Euren Alltag im betreuten Jugendwohnen sprechen können. 

Jetzt ist mehr Zeit, sich mit seinen eigenen Problemen auseinanderzusetzen, mit denen man sich eigentlich nicht konfrontieren möchte

Einige Forschungsprojekte haben in letzter Zeit deutlich gemacht, dass die Konsequenzen der Corona-bedingten Einschränkungen vor allem junge Menschen betreffen. Sie sagen auch, dass die Bedingungen, unter denen wir derzeit leben, psychische Probleme verstärken. Was meint ihr dazu?

Jennifer: Ich stimme zu. Das hat auch etwas mit der fehlenden Alltagsstruktur zu tun. Schule fällt oft weg und einen Nebenjob oder ein Praktikum zu finden, ist schwieriger geworden. Man kann generell weniger Kontakt zu anderen Leuten halten, seine Familie weniger besuchen. Wenn man sowieso schon psychische Probleme hat, ist man sehr auf sich selbst fixiert. Es bleibt mehr Zeit, sich mit seinen eigenen Problemen auseinanderzusetzen, mit denen man sich eigentlich nicht konfrontieren möchte. In meinem Bekanntenkreis ist es teilweise so, dass die Leute gar nicht so recht wissen, was sie mit sich anfangen sollen. Manche Jugendliche versumpfen dann in ihrer Freizeit. 

Jordan: Wenn ich jetzt mal überlege, was wir vor Corona gemacht haben... Wir haben Freunde getroffen, waren tanzen – einfach als Ausgleich zum öden Alltag. Zurzeit ist es so, dass du dich eigentlich auch nicht mehr auf‘s Wochenende freuen brauchst. Denn die Woche ist genauso wie das Wochenende. Man ist vor allem mit sich selbst beschäftigt und auf sich allein gestellt. Dazu kommt noch diese Ungewissheit. Man fragt sich ständig: Wie lange geht das Ganze noch? 

Jennifer: Dazu kommt noch, dass wir bei uns seit über einem Jahr Besuchsverbot haben, um alle Bewohner*innen zu schützen. Freunde und Familie können also nicht vorbeikommen. Ich habe ein gutes Verhältnis zu meinen Großeltern und ich kann sie zurzeit leider kaum sehen.

Das heißt, wenn ihr Bekannte und Familie sehen wollt, dann müsst ihr euer Gelände verlassen und die Menschen dort besuchen, wo sie sind? Wie bleibt ihr mit den Menschen in Kontakt, die euch wichtig sind? 

Jennifer: Den meisten Kontakt, den wir momentan pflegen, haben wir zurzeit zu den anderen Bewohner*innen hier auf dem Gelände. Meine beste Freundin und auch meine Schwester wohnen beispielsweise in einer anderen Stadt – jeweils eine Stunde entfernt. Normalerweise haben wir uns regelmäßig gegenseitig besucht. Da man sich gerade vor allem draußen aufhalten soll, ist es schwierig – die letzten Monate war es einfach zu kalt, so ein Treffen dauert dann nicht lange. Dafür lohnt der Weg nicht. Und auch die Fahrt dorthin müsste ich selbst bezahlen. Vorher hat meine Schwester mich hier besucht, damit ich das Geld sparen kann. Das heißt, zurzeit bleibt nur der WhatsApp Kontakt. Mit weiteren Menschen würde ich mich gar nicht treffen wollen. Man minimiert ja seine Kontakte, um niemanden zu gefährden. Wenn ich dann mal meine Großeltern sehe, möchte ich kein Risiko für sie sein. 

Jordan: Die Freunde, mit denen ich vor Corona unterwegs war, sehe ich regelmäßig über Zoom. Da nehmen dann an einem Abend acht bis zwölf Personen teil. Im Videochat können wir uns wenigstens alle treffen. Wir reden dann hauptsächlich einfach miteinander. Außerdem habe ich mit einem Freund ein Online-Projekt gestartet – im Rahmen einer Anti-Rassismus-Woche laden wir zu einem Empowerment-Workshop über Zoom ein.

Die Freizeitgestaltung findet jetzt vor allem online statt

Meint ihr, junge Menschen nutzen zurzeit stärker digitale Medien als vor Corona? 

Jordan: Ja, auf jeden Fall. Die Freizeitgestaltung findet vor allem online statt: mir fallen sofort Instagram, TikTok und Netflix ein. Und alle Veranstaltungen werden auf‘s Digitale verlegt – auch Schule und Uni.

Wie läuft denn bei euch Homeschooling? 

Jennifer: Bei uns im Haus haben viele Dienste und Webseiten, die man braucht, um zuhause Schule zu machen, schonmal gar nicht funktioniert. Das WLAN hat öfters mal gestreikt oder bestimmte Seiten waren nicht zugänglich. Dafür mussten wir dann den technischen Dienst holen. Für ein paar Tage klappte das dann und danach passierte wieder irgendetwas Unvorhersehbares. Dann kam auch immer wieder die Frage auf: Wann können wir wieder in die Schule gehen? Auch die Lehrer*innen sind häufig ausgefallen. Es war und ist alles ganz schön wuselig, ein einziges Durcheinander. Aber mittlerweile gewöhnt man sich irgendwie daran.

Findet ihr, Homeschooling ist etwas, das sich auch ohne Corona in der Zukunft – wenigstens zum Teil – anbietet? 

Jennifer: Ich finde es besser, in die Schule zu gehen. Dann weiß ich auch, dass ich aus dem Haus komme. Das ist auch ein Ansporn für mich, jeden Tag in Bewegung zu kommen. Ich brauche einen strukturierten Alltag und ich wünsche mir, dass das Lernen bald wieder in der Schule möglich ist.

Jordan: Ich würde mir auch wünschen, dass wir wieder in Präsenzunterricht gehen. Es lernt sich leichter, wenn jemand vor dir steht, der dir die Sachen erklärt und dich unterstützt, wenn es nötig ist. Im Homeschooling ist teilweise unklar, was überhaupt erwartet wird und welche Aufgaben wie zu bearbeiten sind. 

„Ein strukturierterer Alltag wäre wichtig für mich“

Wenn ihr etwas Konkretes an der jetzigen Situation ändern könntet, was wäre das?

Jennifer: Ein strukturierter Alltag wäre wichtig für mich. Ich muss mehr rauskommen. Im letzten Herbst ist mein Vater verstorben. Daraufhin bin ich in eine Depression gerutscht und hatte keine Möglichkeiten mich abzulenken. Es ist nicht gut für mich, wenn ich weiß, dass ich den ganzen Tag im Bett liegen kann. Aber ich habe mit Hilfe meiner Betreuer und meiner Freunde hier vor Ort andere Wege und Möglichkeiten für mich gefunden. Ich weiß jetzt eher, was mir wichtig ist. Ich habe früher viel gezeichnet und es dann aus den Augen verloren. Jetzt zeichne ich wieder und konzentriere mich auch im positiven Sinne auf mich. Ich hatte die letzten Monate Zeit, intensiv an mir selbst zu arbeiten. Das ist Fluch und Segen gleichzeitig. 

Jordan: Ich glaube auch, dass das ganze letzte Jahr auch positive Auswirkungen hatte, weil man mehr auf sich selbst geschaut hat. Aber wenn ich etwas verändern dürfte, würde ich das Besuchsverbot in unserem Haus abschaffen. Und ich wünsche mir Freizeitmöglichkeiten zurück. Ich hätte es gerne so, wie es vorher war. Es wäre einfach schön, wenn man wieder – ohne Angst und die Sorge sich gegenseitig anzustecken – miteinander umgehen könnte.  

Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Nadine Salihi

Redaktion: Iva Wagner

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