Sozialforschung

Gesellschaftlicher Zusammenhalt verbessert sich in der Corona-Krise

Der gesellschaftliche Zusammenhalt in Deutschland hat sich in der Corona-Krise als robust erwiesen und ist in den ersten Monaten nach Ausbruch der Pandemie sogar noch gewachsen. Das geht aus dem „Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt 2020“ hervor. Doch zugleich macht die Ausnahmesituation soziale Unterschiede sichtbarer und verschärft die Probleme bestimmter Bevölkerungsgruppen.

19.08.2020

Die Menschen in Deutschland bewerten den gesellschaftlichen Zusammenhalt nach dem ersten Höhepunkt der Corona-Pandemie positiver als noch Anfang des Jahres. Dies geht aus dem neuen „Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt 2020“ der Bertelsmann Stiftung hervor.

Für die Studie wurden zunächst im Februar und März 3.010 Personen repräsentativ befragt, 1.000 hiervon dann noch einmal im Mai und Juni, also nach dem Ende der Kontaktbeschränkungen. Im Zeitverlauf zeigt sich, dass noch im Februar 46 Prozent der Befragten den Zusammenhalt in Deutschland als gefährdet ansahen. Dieser Anteil reduzierte sich bereits im März auf 40 Prozent und sank im Mai und Juni weiter auf 36 Prozent ab. Ebenso nahm der Eindruck ab, die Bürger/-innen würden sich nicht um ihre Mitmenschen kümmern. Während dies im Februar noch 41 Prozent sagten, äußerten im Mai und Juni nur noch 21 Prozent diese Auffassung. Auch das Vertrauen in die Bundesregierung hat über die Monate deutlich zugelegt: von 19 Prozent zunächst auf 30 Prozent im März und schließlich bis auf 45 Prozent beim dritten Befragungszeitpunkt.

„Viele Menschen sind zunächst erleichtert, dass die ersten Auswirkungen der Pandemie in ihren Augen bisher so glimpflich ausgefallen sind. Zugleich haben sie mehrheitlich große Solidarität und Rücksichtnahme erfahren,“ sagt Kai Unzicker, Experte der Bertelsmann Stiftung für gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Der Zusammenhalt in Deutschland ist weiterhin robust

Auch in der langfristigen Perspektive gibt die Studie Anlass zu Optimismus. Im Vergleich zur Vorgängeruntersuchung aus dem Jahr 2017 erweist sich der gesellschaftliche Zusammenhalt insgesamt als stabil. Die 36 Indikatoren, mit denen der Zusammenhalt auf einer Skala von 0 (gering) bis 100 (hoch) gemessen wurde, haben sich in den vergangenen drei Jahren kaum verändert. In der Tendenz ist der Durchschnittswert für die westdeutschen Bundesländer sogar von 60 auf 62 Punkte etwas angestiegen, während er in Ostdeutschland (einschließlich Berlin) nach wie vor bei 58 Punkten liegt. „Auch wenn viele Bürgerinnen und Bürger sich um das Miteinander Sorgen machen, zeigen unsere Daten: Der Zusammenhalt in Deutschland ist insgesamt weiterhin robust“, fasst Unzicker das Resultat des Zeitvergleichs zusammen.

Corona lässt bestehende Verwerfungen deutlicher zum Vorschein kommen

Andererseits zeigt die Erhebung aber, dass es soziale Gruppen gibt, die den Zusammenhalt in der Gesellschaft systematisch als geringer erleben. Rund 43 Prozent aller Befragten weisen mit Werten von weniger als 60 Punkten unterdurchschnittliche Ergebnisse auf. In dieser Gruppe sind Menschen mit geringerer formaler Bildung, niedrigem ökonomischem Status und Migrationshintergrund häufiger vertreten. Ebenso finden sich darunter vergleichsweise viele Personen, die allein leben oder Alleinerziehende sind. Menschen, die einen geringen Zusammenhalt erleben, zeichnen sich außerdem durch eine größere Zukunftsangst aus.

In der aktuellen Krisensituation bestätigen sich diese sozialen Unterschiede. „Wie unter einem Brennglas lässt Corona bereits bestehende soziale Verwerfungen noch deutlicher zum Vorschein kommen. Wer vorher schon benachteiligt war, für den stellt sich die Lage in der Krise noch schwieriger dar“, erklärt Kai Unzicker. Während über 90 Prozent der Teilnehmenden der Wiederholungsbefragung angeben, mit der Corona-Situation gut klar zu kommen, zeigen sich bei genauerem Hinsehen deutliche Unterschiede. So weisen diejenigen Personen, die bereits vor der Krise einen hohen Zusammenhalt erlebten, im Frühsommer geringere Sorgen um ihre eigene Zukunft oder die ihrer Familie auf, fühlen sich seltener einsam und haben weniger den Eindruck, die Pandemie belaste das Zusammenleben.

Anhänger von Linkspartei und AfD empfinden weniger Zusammenhalt

Insgesamt haben sich im ersten Halbjahr 2020 die Sorgen der Bürger trotz Pandemie und aufziehender Wirtschaftskrise eher reduziert. Waren im Februar noch über die Hälfte der Befragten in Sorge darüber, selbst arm zu sein oder zu werden, so sind es im Frühsommer nur noch 47 Prozent. Auch die Angst vor Arbeitslosigkeit hat deutlich abgenommen, von 44 Prozent auf 31 Prozent. Immer noch mehrheitlich, aber ebenfalls etwas weniger, sorgen sich die Menschen in Deutschland vor einer Wirtschafts- und Finanzkrise (63 statt 68 Prozent) und vor Erkrankungen (64 statt 67 Prozent).

Zudem ist ein überraschend eindeutiger politischer Trend erkennbar: Die Anhänger von Bündnis90/Die Grünen, CDU, CSU, SPD und FDP bewerten den Zusammenhalt deutlich positiver als die Anhänger der Linkspartei und insbesondere der AfD sowie politisch ungebundene Personen. Dabei zeichnen sich die Anhänger der AfD vor allem durch geringe Werte beim generellen Vertrauen, der Akzeptanz von Diversität und dem Vertrauen in Institutionen aus. Anhänger der Linkspartei empfinden im Vergleich am häufigsten Defizite bei der sozialen Gerechtigkeit.

Angebote für Alleinerziehende, Migranten und Personen mit geringerer Bildung ausbauen

Die Studienautoren empfehlen, das Augenmerk von Politik und Gesellschaft insbesondere auf die Bevölkerungsgruppen zu richten, die ein geringeres Maß von Zusammenhalt verspüren und von einer schlechteren Versorgung mit sozialer Infrastruktur in ihrem näheren Umfeld berichten. „Gerade durch die Erfahrungen der aktuellen Krisensituation drohen vor allem Alleinerziehende, Migranten und Personen mit geringerer Bildung aus dem sozialen Gefüge herauszufallen. Sollte sich beispielsweise die Situation bei der Kinderbetreuung oder dem Homeschooling in nächster Zeit nicht deutlich verbessern oder gar wieder verschärfen, so geht dies vor allem zu Lasten dieser Gruppen“, sagt Kai Unzicker. Notwendig seien daher gezielte Anstrengungen, die Versorgungs- und Unterstützungsangebote vor Ort auszubauen.

Quelle: Bertelmann Stiftung vom 12.08.2020

Redaktion: Kerstin Boller

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