Geschichtsbewusste Bildung

Gedenkarbeit im Unterricht – Der Film „Der Balkon“

Wie schulische Gedenkarbeit im deutsch-griechischen Kontext praktisch aussehen kann und ein Geschichtsbewusstsein bei Schüler:innen befördert, hat Bettina Münch-Rosenthal von der Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion Rheinland-Pfalz aufgeschrieben: Ein geeigneter Zugang zum Thema Gedenkarbeit gibt der Film „Der Balkon“. In Probeläufen an Schulen wurde getestet, ob sich der Film eignet und wie er im Unterricht eingesetzt werden kann.

17.04.2023

In diesem Artikel wird der Film vorgestellt und es werden Handreichungen für historische Bildungsarbeit an Schulen gegeben.

An der Schwelle zu einer Zeit ohne Zeitzeug:innen gewinnen Quellen, die jungen Menschen einen emotionalen Zugang zur Vergangenheit eröffnen, zunehmend an Bedeutung. Filmische Dokumentationen mit Zeitzeug:innenaussagen sind daher wichtige Bestandteile schulischer Gedenkarbeit. Leben und Schicksale einzelner realer Menschen erregen Aufmerksamkeit, Neugierde und Mitgefühl.  

Der Dokumentarfilm „Der Balkon – Wehrmachtsverbrechen in Griechenland“ des griechischen Regisseurs Chrysanthos Konstantinidis behandelt die Vernichtung des Dorfes Lyngiádes, das nahe der Stadt Ioannina liegt, am 3. Oktober 1943 und die Ermordung eines großen Teils der Dorfbewohner:innen. Er wurde 2018 produziert und 2020 von Konstantinidis für den Einsatz in der Bildungsarbeit von 101 Minuten auf 43 Minuten gekürzt (Original mit deutschen Untertiteln).

Worum geht es in dem Film „Der Balkon“?

Lyngiádes, ein Dorf in Nordgriechenland, wird wegen seiner exponierten Lage über dem See bei Ioannina der „Balkon“ genannt. Die Idylle war Schauplatz eines bisher kaum bekannten Massakers: Am 3. Oktober 1943 überfielen ca. hundert deutsche Gebirgsjäger den Ort. Sie ermordeten 82 Dorfbewohner:innen, überwiegend Kinder und alte Leute, und zerstörten fast alle Häuser. Die Ermordung unbeteiligter Zivilist:innen war eine sogenannte „Sühnemaßnahme“ für den gewaltsamen Tod des Regimentskommandeurs der Gebirgsjäger, Josef Salminger. Sein Tod wurde griechischen Partisanen zugeschrieben. 

Der Regisseur des Films stammt aus Lyngiades. Vor drei Jahrzehnten recherchierte der deutsche Rechtshistoriker Prof. Christoph Schminck-Gustavus die Hintergründe des Verbrechens und nahm Zeitzeugenaussagen auf einem Kassettenrekorder auf (Christoph Schminck-Gustavus, Feuerrauch: Die Vernichtung des griechischen Dorfes Lyngiádes am 3. Oktober 1943, JH Dietz Verlag, Bonn 2013). Im Film hören die nachgeborenen Generationen oft erstmalig Erinnerungen der überlebenden Verwandten. Vor dem Hintergrund eines kollektiven Traumas der Dorfbewohner:innen wird die unterlassene Aufarbeitung in Deutschland und die verweigerte Wiedergutmachung thematisiert.

Probelauf für den Praxiseinsatz

Um herauszufinden, ob der Film „Der Balkon“ für den Einsatz in der schulischen Bildungsarbeit geeignet ist, startete die Stabsstelle „Europa und Internationales“ an der Schulabteilung der Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion Rheinland-Pfalz in Kooperation mit der Landeszentrale für politische Bildung und dem Verein „Respekt für Griechenland“ (RfG) im September 2020 einen Probelauf, an dem sieben rheinland-pfälzische Schulen verschiedener Schularten mit elf Lerngruppen beteiligt waren. Die Lehrkräfte zeigten den Film in ihrem Unterricht und in Arbeitsgemeinschaften unter Einsatz des bereitgestellten Begleitmaterials.

Die im Probelauf gemachten Erfahrungen zeigten, dass sich der Film für die schulische Bildungsarbeit eignet. Trotz einer starken emotionalen Beanspruchung und eines hohen Grades vorausgesetzten Wissens, sprach sich die Mehrzahl der Schüler:innen dafür aus, den Film in Schulen zu zeigen. Aktuell hat eine Schüler:innengruppe einer hessischen Schule ebenfalls einen Probelauf absolviert und die Ergebnisse sowie benutzte Begleitmaterialien veröffentlicht.

Um den Film nicht auf eine Schockwirkung zu reduzieren, sondern sinnvoll und nachhaltig in den historisch-politischen Unterricht einzubetten, sollten unbedingt die Voraussetzungen der Lerngruppe geprüft sowie eine inhaltliche Vor- und Nachbereitung durchgeführt werden.

Die rheinland-pfälzische Bildungsbehörde hat die Kurzfassung des Filmes zusammen mit dem von RfG bereitgestellten Begleitmaterialien erworben. Den Schulen wird der Film kostenfrei in den schulischen Medienzentren des Landes und auf der Plattform OMEGA (Online Medien Gesamtangebot) zur Verfügung gestellt.

Einsatz des Films ab Klasse 10

Die Erprobungsphase zeigte, dass der Film ab Klasse 10 einsetzbar ist – je nach Wissenstand und Reife der Schüler:innen optional auch ab Klasse 9 an allgemeinbildenden Gymnasien, Gesamtschulen, beruflichen Gymnasien und Fachschulen (z. B. Polizeischulen), eingeschränkt auch Realschulen sowie Berufsschulen (abhängig von zuvor genannten Rahmenfaktoren). Vorkenntnisse zur NS-Zeit (Ideologie, Außenpolitik, 2. Weltkrieg etc.) sind Voraussetzung. 

Besondere Berücksichtigung finden sollte der Aspekt, dass in vielen Klassen Jugendliche mit Migrationshintergrund und Fluchterfahrung sitzen („Kopfkino“). Andere sozio-familiäre Faktoren, wie die Familiengeschichte in der NS-Zeit, Abstammung aus Griechenland bzw. die Familiengeschichte der griechischen Familie sollten bei der Entscheidung für einen Filmeinsatz und dessen Vorbereitung in Betracht gezogen werden.

Weitgehend unbekanntes Thema: Inhaltliche Vorbereitung nötig

Da es sich um ein weitestgehend unbekanntes Thema im schulischen Kontext handelt, ist sowohl für die Lehrkräfte als auch für die Schüler:innen eine inhaltliche Vorbereitung notwendig. Eine tiefergehende Vorbereitung für Lehrkräfte, aber auch für einen Oberstufenkurs ermöglicht das für diese Zwecke speziell von „Respekt für Griechenland“ zusammengestellte Begleitmaterial zur Bildungsarbeit mit dem Film DER BALKON.

Sehr gut einsetzbar für jüngere Schüler:innengruppen sind digital nutzbare Kurzeinführungen in die Geschichte der deutschen Okkupation Griechenlands von Schüler:innen für Schüler:innen („peer to peer“). Es handelt sich um preisgekrönte Beiträge zu einem Schüler:innenwettbewerb des Zeitzeugenarchivs „Erinnerung an die Okkupation Griechenlands“ in Form von Podcasts, Erklärvideos und kurzen Spielfilmen.

Ein kurzer Dokumentarfilm von Ulrich Jossner „Sie kamen nicht als Touristen – Hitlers Wehrmacht in Griechenland“ (7 Minuten) gibt Einblick in den deutschen Besatzungsterror in Griechenland. Ein längerer Hintergrundfilm „Erinnerungen an die Okkupation in Griechenland“ (1:14 Stunden) findet sich online.

Arbeitshilfe: Navigationstabelle strukturiert den Film

Für alle Phasen der Nachbereitung steht eine praktische Arbeitshilfe zur Verfügung: In einem Schüler:innenprojekt wurde eine Navigationstabelle zur Strukturierung des Filmes durch Unterkapitel und Überschriften und eine Verlinkung mit den transkribierten Interviews erarbeitet.

Sie erleichtert den Schüler:innen die vertiefende Bearbeitung des Themas (Referate, Hausaufgaben, Facharbeiten etc.), macht schwer verständliche Passagen nachvollziehbar und hilft, das Personengeflecht zu durchdringen. Sie ermöglicht den Lehrkräften, gezielt Teile des Films im Rahmen einer Unterrichtssequenz zu zeigen.

Nachbereitung nach der Filmvorführung

Es empfiehlt sich, direkt nach der Filmvorführung den Schüler:innen Gelegenheit zu geben, sich zu äußern und Fragen zu stellen mit dem Ziel, sie durch ein Gespräch in der Gruppe emotional aufzufangen. Als Impulse können (offene) Fragen dienen: 

  • Euer erster Eindruck? Habt Ihr konkrete Fragen zum Verständnis? 
  • Sollte dieser Film in allen Schulen gezeigt werden? 
  • Was würdet ihr den Regisseur fragen wollen?
  • Auch andere bekannte Methoden des Schüler-Feedbacks (Zielscheibe, stummer Impuls, Blitzlicht etc.) können Anwendung finden.

Für schriftliche Haus- und auch Projektarbeit bieten sich Leitfragen an, die den Schüler:innen ermöglichen, den Film emotional zu verarbeiten: Orientierung geben können entweder ein von der Lehrkraft erstellter Leitfragenkatalog oder Einzelfragen, die ausführliche Erörterungen und eine strukturierte Stellungnahme verlangen. Für jüngere Schüler:innen eignet sich das Sujet des Briefes, den sie an eine Person ihrer Wahl (Dorfbewohner:in, Regisseur, Bundespräsident etc.) schreiben.

Mehr als historische Fakten: Leben und Schicksale im Mittelpunkt

Ebenfalls geeignet ist die Arbeit mit Biographien: Indem sich Schüler:innen mit tatsächlichen oder erdachten Biographien auseinandersetzen oder auf Filmbiographien beruhende Erzählungen im jeweiligen geschichtlichen Kontext verfassen, setzen sie sich intensiv mit den Inhalten und dem geschichtlichen Kontext auseinander.

Historische Fakten sind und bleiben abstrakt und lassen Gefühle, Gedanken und die Herzen der Schüler:innen oft unberührt. Es sind Leben und Schicksale einzelner Menschen, an denen die Schüler:innen erkennen, welch zerstörerische Auswirkungen antidemokratische, radikale und rassistische Herrschaft hat. Auf diesem Wege lässt sich ein Geschichtsbewusstsein vermitteln, das sich tief verankert. Die Arbeit mit dem Film „Der Balkon“ ermöglicht, diesen Weg zu gehen.

Weitere Materialien

Quelle: Pressenetzwerk für Jugendthemen e.V. (PNJ) vom 04.04.2023

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