Kinderschutz
Vorstellung der Zahlen kindlicher Gewaltopfer
Kinder haben ein Recht auf Schutz in der digitalen Welt, doch Soziale Medien verschärfen die Gefahr von Missbrauch. Das zeigen die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) 2022 zu Gewalttaten gegen Kinder und Jugendliche, die auf der gemeinsamen Pressekonferenz der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) und des Bundeskriminalamtes (BKA) vorgestellt wurde.
26.05.2023
Laut PKS sind im Jahr 2022 die Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch mit 15.520 Fällen auf einem gleichbleibend hohen Niveau wie in 2021 (15.507 Fälle). Einen Anstieg um 10,3 % auf über 48.800 Fälle gab es bei den Missbrauchsdarstellungen von Kindern und Jugendpornografie. Laut PKS 2022 hat sich auch die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die Missbrauchsdarstellungen und jugendpornografische Inhalte besaßen, herstellten, erwarben oder insbesondere über die sozialen Medien weiterverbreiteten, in Deutschland seit 2018 mehr als verzwölffacht – von damals 1.373 Tatverdächtigen unter 18 Jahren auf 17.549 Tatverdächtige (davon 5.553 Kinder unter 14 Jahren und 11.996 Jugendliche über 14 Jahre) in 2022. Das Dunkelfeld insgesamt und auch der Anteil an Straftaten, von denen die Polizei keine Kenntnis erhält, ist um ein Vielfaches größer.
Holger Münch, Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA):
„Wenn in Deutschland noch immer jeden Tag 48 Kinder Opfer sexueller Gewalt werden, können wir mit stagnierenden Fallzahlen nicht zufrieden sein. Sie bedeuten ein gleichbleibend hohes Leid für wehrlose kindliche Opfer. Gewalt gegen Kinder zu unterbinden und sexuellen Missbrauch zu beenden, sind unsere obersten Prioritäten. Doch für erfolgreiche Ermittlungen brauchen wir den passenden rechtlichen Rahmen und die notwendigen Befugnisse. Darum bleibe ich dabei: Uns fehlt ein entscheidendes Instrument für unsere Ermittlungen, das uns zur Verfügung stehen muss – die so genannte Mindestspeicherung von IP-Adressen. Häufig ist die IP-Adresse unser einziger Ermittlungsansatz, der überhaupt zum Täter führen kann. Kommen wir über die IP-Adresse nicht weiter, müssen Verfahren eingestellt werden – mit dem Risiko, dass noch andauernde Missbrauchstaten nicht unterbunden werden können.“
Anstieg von Missbrauchsdarstellungen auf Schülerhandys
Zahlen zeigen, dass Minderjährige im Umgang mit Gewaltphänomenen im Netz oft überfordert sind und unreflektiert agieren. Die meisten tatverdächtigen Minderjährigen handelten nicht vorsätzlich oder sexuell motiviert, so die Missbrauchsbeauftragte Kerstin Claus, sondern aus einer digitalen Naivität heraus: Vermeintlich „coole“ Bilder oder Clips werden mit Musik, Geräuschen, Texten oder Animationen versehen und tausendfach weitergeleitet. Vielfach werde gar nicht verstanden, dass es sich um Darstellungen von sexueller Gewalt handelt. Die aktuelle Ausgestaltung des § 184b StGB als Verbrechen – also als Straftat, die mindestens mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr bedroht ist – erschwere den Umgang mit dem Phänomen. Denn es handele sich gerade nicht um „klassische Straftäter:innen“, sondern um Minderjährige, die Missbrauchsdarstellungen teilen, mit denen sie in der digitalen Welt in Massen ungefiltert konfrontiert werden. Der Fokus auf strafrechtliche Konsequenzen verkenne das Problem: „Hier braucht es (medien-)pädagogische Ansätze: Kinder und Jugendliche müssen in die Lage versetzt werden“, so Claus, „das Material klar als sexuelle Gewaltdarstellungen einzuordnen und ihr eigenes Handeln und das ihrer Peer Group zu hinterfragen. Hier sind vor allem Eltern und pädagogische Fachkräftekräfte gefragt.“ Aktuell binde die strafrechtliche Verfolgung in diesen Fällen bei der Polizei wie den Staatsanwaltschaften enorme Ressourcen, die dann für die Verfolgung von klassisch kriminellen Täterkreisen, die solches Material erstellen oder auch mit kommerziellen Interessen verbreiten, fehlten. Der § 184b StGB müsse deswegen zeitnah angepasst werden, so Claus. „Ziel muss sein, dass eindeutig ausbeuterische Taten zu Lasten von Kindern oder Jugendlichen weiterhin mit hohen Strafen geahndet werden, gleichzeitig aber Fälle mit geringem Unrechtsgehalt frühzeitig eingestellt werden können.“
Es braucht eine fundamentale Stärkung des Kinder- und Jugendschutzes im Netz
Medienkompetenz allein könne und dürfe laut Claus jedoch nicht die einzige Antwort auf Gewaltphänomene im Netz sein. „Es ist absurd, dass wir in der realen Welt durchdeklinieren, welche Räume ab welchem Alter von Kindern und Jugendlichen genutzt werden können beziehungsweise welche aus guten Gründen versperrt bleiben – wir aber gleichzeitig in der digitalen Welt Kinder und Jugendliche weitgehend ungeschützt lassen.“ Es sei doch gerade das Ziel von Prävention, überall dort, wo Kinder und Jugendliche sich aufhalten, Risiken zu identifizieren und über geeignete Schutzkonzepte bestmöglich den notwendigen Kinder- und Jugendschutz konsequent umzusetzen. Genau das sei Kern der EU-Verordnung zur Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern. Jetzt gelte es, diesen Kern bestmöglich und rechtskonform umzusetzen. Deswegen sei es richtig, dass Anbieter verpflichtet werden sollen, die Risiken ihrer Plattformen und der digitalen Angebote für minderjährige User fortlaufend zu identifizieren und auch dafür zu sorgen, sie altersangemessen vor Gewaltdarstellungen oder auch potentieller Täteransprache zu schützen. Gesetze, die wir heute verankern, müssten zudem technologieoffen sein, damit künftige Entwicklungen im Bereich der KI im Kampf gegen digitale sexuelle Gewalt effektiv eingesetzt werden können. Claus fordert einen tragfähigen Konsens: „Wir müssen uns politisch wie gesellschaftlich dringend darauf verständigen, wie umfassend wir den Kinderschutz im Netz ausgestalten wollen, wo rote Linien verlaufen und wie wir den Kinderschutz mit den Rechten und Freiheiten im Internet in Einklang bringen.“
Verantwortungsbewusste Politik braucht gute Daten
Claus beklagte zudem, dass bis heute zum Thema sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche keine validen Aussagen möglich seien. Es fehle an Daten zu tatsächlichen Gefährdungslagen, zu Tatorten und zu Tatkontexten sowie darüber, ob und wie Präventionsmaßnahmen oder Hilfeangebote wirken. Hierfür brauche es regelmäßige Erhebungen zum Ausmaß sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen. Erst so könnten Handlungsfelder priorisiert und Veränderungen zeitnah erkannt werden. Claus fordert vor diesem Hintergrund eine nationale Strategie zur Erhebung dieser Zahlen. Es brauche dringend ein eigenes Zentrum für Prävalenzforschung1. Hier schließe sie sich der Forderung des Nationalen Rates gegen sexuelle Gewalt an. Klares Ziel müsse sein, sexuelle Gewalt möglichst aktuell zu erfassen. Deswegen sollten vor allem junge Menschen insbesondere im schulischen Bereich befragt werden. Wesentlich sei, Befragungen mit umfassenden Präventions-, Hilfe und Unterstützungsangeboten gut zu begleiten. Claus erwarte hier ein klares Signal seitens der Politik. Diese müsse die erforderlichen finanziellen Mittel für Dunkelfeldforschung zur Verfügung stellen: „Gute, verantwortliche Politik, zielgerichtete Polizeiarbeit und guter Kinder- und Jugendschutz auf Bundes- und Landesebene können nur gelingen, wenn auch Daten aus der Dunkelfeldforschung verlässlich vorliegen und auf dieser Grundlage die notwendigen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden.
Quelle: Arbeitsstab der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs vom 23.05.2023
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