Kinderschutzhotline

Wo Kinder- und Jugendhilfe und Gesundheitswesen eine Sprache sprechen

Seit Anfang des Jahres steht die Medizinische Kinderschutzhotline auch Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Familiengerichte zur Verfügung. Oliver Berthold ist Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin und Kinderschutzmediziner und klinischer Teamleiter in der Hotline. Er erläutert im Interview deren Arbeit an der Schnittstelle zwischen Gesundheitswesen und Kinder- und Jugendhilfe.

29.04.2021

Die Medizinische Kinderschutzhotline berät seit 2017 Angehörige des Gesundheitswesens in Kinderschutzfragen. Das Team besteht aus Ärztinnen und Ärzten mit klinischer Erfahrung im medizinischen Kinderschutz. Seit Januar 2021 steht das Angebot auch Fachkräften aus der Kinder- und Jugendhilfe für medizinische Rückfragen in (potentiellen) Kinderschutzfällen zur Verfügung.

Herr Berthold, Sie sind Kinderschutzmediziner und in Berlin als klinischer Teamleiter bei der Hotline tätig. Erklären Sie uns kurz, wer hinter der Medizinischen Kinderschutzhotline steht?

Das Projekt wird finanziert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, die Umsetzung teilen sich die Uniklinik Ulm und die DRK-Kliniken Berlin. Gesamtprojektleiter ist Prof. Dr. Jörg M. Fegert, ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie an der Uniklinik Ulm. 

Medizinische Fragen abklären und einschätzen 

Können Sie die Aufgabe der Kinderschutzhotline näher beschreiben?

Unsere Berater/-innen sind Ärzte und Ärztinnen aus den Bereichen der Kinder- und Jugendmedizin, der Kinder- und Jugendpsychiatrie und der Rechtsmedizin mit klinischer Erfahrung im Kinderschutz und Fachweiterbildungen, zum Beispiel haben alle eine sechstätige Weiterbildung absolviert, wie sie auch Insoweit erfahrene Fachkräfte durchlaufen. Wir beraten alle Fachkräfte aus dem Gesundheitswesen, der Kinder- und Jugendhilfe und dem Familiengericht in Fragen des medizinischen Kinderschutzes. Wir beraten also vor allem bei medizinischen Fragen, unterstützen Fachkräfte aus dem Gesundheitswesen aber auch bei der Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung. Dabei ersetzen wir nicht die Beratung durch Insoweit erfahrene Fachkräfte aus der Jugendhilfe. Wir bereiten die Gespräche eher vor, in dem wir die medizinischen Fragen vorab klären oder bei der Einschätzung helfen, welche nächsten Schritte sinnvoll sein könnten. 

Wer wendet sich an Sie und mit welchen Fragen?

Aus dem Gesundheitswesen sind es natürlich Kinderärzte und -ärztinnen, Kinder- und Jugendpsychiater/-innen und –psychotherapeut(inn)en, die sich besonders häufig an uns wenden, aber zu einem Drittel auch Fachkräfte, die Erwachsene behandeln, wie Notfallsanitärer/-innen, Psychiater/-innen, psychologische Psychotherapeut(inn)en, Zahnärzte und -ärztinnen und andere. Aus Jugendämtern kommen häufig Anfragen zur Einschätzung medizinischer Befunde bzw. die Frage, welche medizinische Stelle welche Aufgabe in einem Hilfeplan übernehmen könnte. Auch ist oft nicht bekannt, wo die nächste Kinderschutzambulanz zu finden ist und was diese leisten kann. 

Ärztliche Befunde aus der Kinderschutzperspektive einordnen

Wo sehen Sie aus ärztlicher Sicht Beratungsbedarf?

Wir Mediziner/-innen sehen in der Zusammenarbeit mit Profis anderer Berufsgruppen immer wieder, dass wir nicht voraussetzen dürfen, dass der Schweregrad einer Verletzung automatisch richtig eingeschätzt wird. Zum Beispiel kann es sein, dass ein Schädelbruch bei einem Säugling aus kinderschutzmedizinischer Sicht wesentlich weniger alarmierend eingeschätzt würde als ein Rippenbruch, der ja von außen nicht zu sehen ist und medizinisch meist nicht behandelt werden muss. Und mir fällt auf, dass ich in Gesprächen mit Jugendämtern meine Besorgnis über Verletzungen eines Kindes viel besser vermitteln kann, wenn Blutergüsse oder sonstige Hautverletzungen sichtbar sind, als wenn von außen nicht sichtbare Knochenbrüche nachgewiesen wurden. Dabei sprechen die Knochenbrüche zuweilen für eine höhere Krafteinwirkung und damit für eine größere Gefahr für das Kind. Hier würde ich mir wünschen, dass wir mit der Kinderschutzhotline dazu beitragen können, ärztliche Befunde aus der Kinderschutzperspektive einzuordnen.

Wo würden Sie die Unterschiede Ihrer Beratung zu einer ISEF-Beratung im Jugendamt sehen?

Wir beraten ja ausschließlich telefonisch und es findet in der Mehrzahl der Fälle ein einmaliger Kontakt statt. Das beschränkt die Beratung in der Regel auf eine klar umrissene medizinische Fragestellung. Eine Begleitung von Fällen können wir so natürlich nicht übernehmen, zumal wir als Ärzte und Ärztinnen ja auch die medizinischen Fragen abdecken, aber nicht den gesamten Prozess in der Kinder- und Jugendhilfe beraten können. Manchmal genügt das den Anrufenden bereits, oft empfehlen wir aber auch zusätzlich, eine ISEF-Beratung über die örtlichen Jugendämter in Anspruch zu nehmen.

Nicht jede Gefährdungsmeldung mündet in eine Inobhutnahme

Gibt es häufige Fragen bzw. wiederkehrende Probleme an der Schnittstelle?

Die Kinder- und Jugendhilfe und die Kinder- und Jugendpsychiatrie haben oft gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen zu tun, die psychische Auffälligkeiten aufweisen und vereinzelt auch über möglichen Selbstmord sprechen. Dann erscheint es für Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe manchmal schwer nachvollziehbar, wenn diese jungen Menschen nicht umgehend in der Kinder- und Jugendpsychiatrie stationär aufgenommen werden. Selbstverständlich muss bei jeder (auch fraglichen) Suizidalität umgehend eine kinder- und jugendpsychiatrische Vorstellung erfolgen, aber es resultiert nach einer sorgfältigen Einschätzung nicht automatisch eine stationäre Aufnahme (zum Beispiel, wenn sich in der Exploration keine akuten Gefährdungsaspekte ergeben und eine Absprachefähigkeit hinsichtlich eines Notfallplanes deutlich wird). Dies ist mit dem Procedere der Jugendämter vergleichbar, dass nicht jede Gefährdungsmeldung in eine Inobhutnahme mündet, was wiederum bei Ärztinnen und Ärzten zu Irritation führt. Mitunter sind auch hier ambulante Maßnahmen zielführender. Die Entscheidung obliegt in beiden Fällen dem jeweiligen Profi. In solchen Fällen empfehlen wir in der Regel zunächst eine persönliche Kontaktaufnahme, in komplizierten Fallkonstellationen auch einen gemeinsamen Runden Tisch.
Ansonsten werden wir auch oft als Lots(inn)en ins Gesundheitswesen angefragt: wie schnell benötigt ein junger Mensch nach einem sexuellen Übergriff eine medizinische Betreuung, wer kann das leisten, wo gibt es eine vertrauliche Spurensicherung, welche Untersuchungen sind notwendig, wie ist ein bestimmter Knochenbruch bei einem kleinen Kind zu bewerten und ähnliches.

Vielen Dank, Herr Berthold, für das Gespräch!

Zum Hintergrund

Bereits seit Oktober 2016 fördert das Bundesfamilienministerium die bundesweite, kostenfreie und 24 Stunden erreichbare Medizinische Kinderschutzhotline. Die Hotline richtete sich zunächst ausschließlich an heilberufliches Fachpersonal. Seit erhalten dort Beratung bei Verdachtsfällen von Kindesmisshandlungen, Vernachlässigungen oder sexuellem Kindesmissbrauch. Im Zentrum stehen dabei Fragen zum Umgang mit dem Verdacht auf Kindeswohlgefährdung, zu Handlungsmöglichkeiten und Ansprechpartner(inne)n. Mit der Zielgruppenerweiterung des Projekts auf die Kinder- und Jugendhilfe sowie die Familiengerichtsbarkeit erhalten dort Tätige seit Januar 2021 ebenfalls fachliche Expertise und niedrigschwellige Unterstützung bei Fragen zum medizinischen Kinderschutz.

Rufnummer der Medizinischen Kinderschutzhotline: 0 800 / 19 210 00

Weitere Informationen: www.kinderschutzhotline.de

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