Türkei
Kommunalwahlen in der Türkei: Hoffnung auf Veränderung
Im Interview zwischen Özge Erdoğan, stellv. Vorsitzende des Deutschen Bundesjugendrings, und Hasan Oğuzhan Aytaç, Geschäftsführer von GoFor, spricht Aytaç über die lokale Jugendpolitik in der Türkei. Er betont Erfolge in Izmir und das „Local Youth Policy Program“, das Jugendbeteiligung in Städten wie Antalya und Eskişehir stärkt.
09.09.2024
Özge Erdoğan: Hasan, die Kommunalwahlen liegen hinter euch. Was sind einige der wichtigsten Aktivitäten von GoFor auf der kommunalen Ebene?
Hasan Oğuzhan Aytaç:
„Seit dem Regimewechsel in der Türkei hat GoFor seine Strategie der politischen Interessenvertretung an die lokale Ebene angepasst. Da es in der Türkei kein Vorbild für eine lokale Jugendpolitik gab, hat GoFor zuerst ein für den türkischen Kontext geeignetes Modell entwickelt. Das erste Projekt dieses Modells wurde in Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung von Izmir erprobt.
Nach großen Erfolgen bei der lokalen Beteiligung in Izmir haben wir in diesem Jahr das „Local Youth Policy Program“ aufgesetzt. Derzeit beginnen die Stadtverwaltungen von Izmir, Antalya und Eskişehir mit der Umsetzung des Programms. Zum Programm gehören verschiedene Aktivitäten. Zum einen sollen lokale Jugendringe und Jugendforen gefördert und unterstützt werden. Wir wollen sicherstellen, dass junge Menschen eine Plattform haben, bei der sie ihre Anliegen äußern und an der lokalen Entscheidungsebene teilnehmen können. Zum Programm gehört die Organisation von Workshops und Schulungen zum Thema Jugendrechte für Fachkräfte der Jugendarbeit. Eine weitere Säule ist die Durchführung von Kampagnen zur Förderung von Jugendrechten. Dazu gehört Lobbyarbeit für bessere Bildung, Beschäftigungsmöglichkeiten und jugendfreundliche Politik. Wir wollen auch Probleme sichtbar machen, mit denen junge Menschen auf kommunaler Ebene konfrontiert sind. Außerdem sollen Programme durchgeführt werden, die die Beteiligung von Jugendlichen an lokalen Entscheidungsprozessen fördern, einschließlich Haushaltsberatungen und Sitzungen zur Politikentwicklung mit kommunalen Führungskräften.“
Wie habt ihr die politische Situation für Jugendorganisationen unmittelbar vor den Kommunalwahlen erlebt?
„Die Stimmung nach den Parlamentswahlen – übrigens nicht nur bei Jugendorganisationen, sondern auch in der weiteren Zivilgesellschaft – würde ich als mit den Worten „allgemeine Verzweiflung“ beschreiben. Vor diesem Hintergrund haben wir uns verstärkt auf den Wahlkampf vor den Kommunalwahlen konzentriert. Wir führten zum Beispiel die Kampagne #CounttheYouth durch. Im Rahmen der Kampagne entwickelte GoFor ein „Jugendmanifest“, das die wichtigsten Forderungen und politischen Empfehlungen für Jugend als Querschnittsthema enthält. Dieses Dokument wurde an alle Kandidaten verteilt und veröffentlicht. 88 Kandidat*innen unterzeichneten die „Vereinbarung über die Rechte der Jugend“. Diese Vereinbarung wurde auch von der Parteiführung der CHP [Anmerkung: größte oppositionelle Partei] und der DEM [Anmerkung: oppositionelle prokurdische Partei] unterzeichnet. Dies war ein wichtiger politischer Schritt für die Rechte junger Menschen. Allerdings wurden wir von regierungsnahen Medien direkt ins Visier genommen, da diese Vereinbarung auch die Rechte von LGBTI+-Jugendlichen umfasst. Unsere Büroadresse wurde daraufhin in den Nachrichten veröffentlicht. GoFor wurde von der Regierung einem Schnellprüfverfahren unterzogen.“
Oppositionelle und pro-kurdische Parteien haben auf kommunaler Ebene Wahlsiege eingefahren, zum ersten Mal seit ihrer Gründung wurde die Regierungspartei nur zweitstärkste Kraft. Welche Auswirkungen erwartet ihr von dieser Veränderung für die Zivilgesellschaft vor Ort und für eure Arbeit?
„Die Ergebnisse dieser Wahl haben vor allem den Glauben der Menschen an den politischen Wandel verändert. Wenn die Menschen nicht an den Umbruch glauben, werden sie sich nicht organisieren. Wenn die Menschen nicht organisiert sind, verliert die Zivilgesellschaft ihre Funktion. Wenn wir den Druck auf und die Einschränkung von der Zivilgesellschaft in der Türkei betrachten, wird dieses Problem leider noch größer.
Diese Wahl hat gezeigt, dass es noch Hoffnung auf Veränderung gibt. Wir glauben, dass diese Hoffnung der wesentliche Katalysator für Mobilisierung und Organisation ist. Darüber hinaus hat der Regierungswechsel den Jugendorganisationen die Möglichkeit gegeben, über Menschenrechte zu sprechen und Beteiligungsmechanismen zu schaffen. Auch die Oppositionsparteien haben verstanden, dass der Kampf gegen die Autokratie ohne die Zivilgesellschaft nicht möglich wäre. Wir glauben, dass dieses gegenseitige Verständnis der Beginn der Gestaltung der lokalen städtischen Politik in vielen Bereichen sein wird, insbesondere im Bereich der Jugend.“
GoFor hat sich im Vorfeld der Wahl mit Kandidat*innen getroffen und sie zu Jugendbeteiligung auf kommunaler Ebene befragt. Gibt es seit der Wahl eine Zusammenarbeit mit den Parteien, die neu in Regierungsverantwortung sind?
„Unsere Kooperationsverhandlungen mit den Gemeinden Diyarbakır und Mardin haben begonnen. Gemeinsam bauen wir eine partnerschaftliche Zusammenarbeit im Einklang mit den Grundsätzen der Menschenrechte auf. Diese beiden Städte wurden acht Jahre lang von Treuhändern verwaltet. Nach acht Jahren sind diese Städte, die nicht von gewählten Vertretern regiert wurden, in Bezug auf die lokale Beteiligung und die Menschenrechte stark unterentwickelt. Die Zivilgesellschaft und die gewählten Vertreter müssen große Anstrengungen unternehmen, um diesen Schaden zu beheben und die demokratischen Werte wiederherzustellen. Deshalb werden wir uns im Rahmen des „Local Youth Policy Program“ verstärkt auf diese Städte konzentrieren.“
Was sind eure Erwartungen in Bezug auf den Austausch mit Partnerorganisationen aus Deutschland? Wie können Organisationen in Deutschland euch in euren Bemühungen für mehr Demokratie und die Einhaltung der Menschenrechte unterstützen?
„Unser wichtigster Partner in Deutschland ist der DBJR. Unsere zentrale Erwartung ist Solidarität. Vor kurzem haben wir gemeinsam mit dem DNK [Anmerkung: Das Deutsche Nationalkomitee für internationale Jugendarbeit (DNK) repräsentiert Jugendorganisationen aus Deutschland im Europäischen Jugendforum. Der Deutsche Bundesjugendring (DBJR) ist Mitglied im DNK.] einen Antrag zu den Haushaltskürzungen und dem zunehmenden politischen Druck auf die Jugendorganisationen in Europa vorbereitet. Es ist sehr wichtig, dass Beispiele wie diese mehr werden. Jedes Jahr haben wir mit Hilfe des DBJR die Möglichkeit, den politischen Druck, dem junge Menschen in der Türkei ausgesetzt sind, im Deutschen Bundestag zu erläutern. Wir brauchen mehr solcher und ähnlicher politischer Entwicklungsfelder. Wir haben erlebt, was die radikale Rechte mit der Zivilgesellschaft eines Landes anstellen kann. Diese Gefahr ist leider für Nichtregierungsorganisationen in ganz Europa ein wichtiges Thema. Deshalb brauchen wir Solidarität auf internationaler Ebene, unabhängig vom Namen des jeweiligen Landes.“
Das Interview führten:
- Özge Erdoğan, stellv. Vorsitzende des Deutschen Bundesjugendrings. Sie ist insbesondere aktiv in den Themenfeldern der europäischen Jugendpolitik und in bilateralen Partnerschaften.
- Hasan Oğuzhan Aytaç, Geschäftsführer des türkischen Jugendrings GoFor
Hintergrund zu Jugendringen in Europa
In den meisten europäischen Staaten gibt es einen nationalen Jugendring. Innerhalb des Jugendrings schließen sich Jugendorganisationen und -verbände zusammen, die sich in vielfältigen Bereichen der Gesellschaft engagieren. Nationale Jugendringe zeichnen sich in der Regel dadurch aus, dass sie eigenständig und demokratisch organisiert sind. Ein gewählter ehrenamtlicher Vorstand gestaltet die Arbeit des Jugendrings oft gemeinsam mit einer hauptamtlichen Geschäftsstelle. Das Ziel von Jugendringen ist es, junge Menschen in ihrer Vielfalt zu repräsentieren, ihre Interessen gegenüber politischen Verantwortungsträger*innen zu vertreten und politische Bildungsarbeit zu gestalten.
Der Deutsche Bundesjugendring pflegt enge Partnerschaften zu zahlreichen internationalen Jugendringen. Ein Beispiel dieser Partnerschaften ist die Zusammenarbeit mit dem türkischen Jugendring GoFor. GoFor hat sich 2015 in der Türkei gegründet und wird von der türkischen Regierung nicht als nationaler Jugendring anerkannt. Dennoch engagieren sich die Vertreter*innen dort in der nationalen Jugendpolitik. Ein Fokus ist politische Bildung sowie die Arbeit zu Demokratie und Menschenrechten. Darüber hinaus setzen sie sich dafür ein, als Jugendring in der Türkei anerkannt zu werden.
Quelle: Deutscher Bundesjugendring vom 30.08.2024
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