AGJ-Positionspapier

Verantwortung tragen und Herausforderungen angehen – Leaving Care vor Ort verbindlich gestalten

Bezugnehmend auf die Transferkonferenz „Rechtsanspruch Leaving Care vor Ort verbindlich inklusiv gestalten“ der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ vom 30./31.05.2022, setzt sich die AGJ in ihrem aktuellen Positionspapier mit der Frage auseinander, wie eine bessere, verbindliche Gestaltung von Leaving Care auf kommunaler Ebene realisiert werden muss.

14.07.2022

Die AGJ sieht alle zuständigen Akteur:innen in der Politik, den Kommunen, der öffentlichen und freien Kinder- und Jugendhilfe wie auch in den rechtskreisübergreifenden Ressorts in der gemeinsamen Verantwortung, dass Care Leaver:innen von den rechtlichen Normierungen des KJSG profitieren und gleiche, diskriminierungsfreie Teilhabechancen erhalten. Dabei gilt grundlegend: Eine am Bedarf orientierte Qualität des Leaving Care lässt sich nur gewährleisten, wenn die Stimme der jungen Menschen wirkungsvoll Gehör findet!

Die Jugend und das junge Erwachsenenalter sind prägende Lebensphasen mit spezifischen Herausforderungen. Insbesondere der Übergang vom Jugend- in das Erwachsenenalter stellt für alle jungen Menschen eine große Entwicklungsaufgabe dar für deren Bewältigung sie Unterstützung brauchen. Die Lebenslagen von Jugendlichen sind dabei durch generationelle Gemeinsamkeiten wie auch durch soziale Ungleichheit gekennzeichnet. Leaving Care – der Übergang junger Menschen, die in stationären Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe aufwachsen, ins Erwachsenenleben – ist mit besonderen persönlichen und strukturellen Herausforderungen verbunden. Der Weg aus der stationären Hilfe ist häufig erschwert und von Brüchen gekennzeichnet. Junge Menschen erfahren dabei oftmals zu wenig Unterstützung – eine verlässliche Infrastruktur vor Ort ist vielfach nicht vorhanden.

Die Reform des SGB VIII bzw. das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG, 2021) hat anerkannt, dass eine bessere, verbindliche Gestaltung dieses Übergangs auf kommunaler Ebene realisiert werden muss. Das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) hat das Potenzial, den Prozess des Leaving Care deutlich positiv zu verändern. Es ist an der Praxis der Kinder- und Jugendhilfe, jetzt zu handeln und die neuen rechtlichen Regelungen vor Ort umzusetzen – auch und gerade in Corona-Zeiten! Eine Kinder- und Jugendhilfe, die für die Belange von Care Leaver:innen zuständig ist, versteht Leaving Care als fachliche und fachpolitische Aufgabe und damit als sozialpolitische Herausforderung. Bei der Weiterentwicklung der Hilfeplangespräche und Unterstützungsprozessen sind die Bedarfe der jungen Menschen in den Fokus zu stellen, alle Lebensbereiche einzubeziehen und dafür zu sorgen, dass keine Systembrüche zwischen Rechtskreisen auf dem Weg ins Erwachsenenleben entstehen.

Die AGJ sieht es in der gemeinsamen Verantwortung der zuständigen Akteur:innen in der Politik, den Kommunen, der öffentlichen und freien Kinder- und Jugendhilfe als auch in den rechtskreisübergreifenden Ressorts (z. B. Rechtsprechung, Agentur für Arbeit), dass alle jungen Menschen gleichermaßen von den rechtlichen Normierungen profitieren und an allen Gesellschaftsbereichen teilhaben können. Dabei gilt grundlegend: Eine am Bedarf orientierte Qualität des Leaving Care lässt sich nur gewährleisten, wenn die Stimme der jungen Menschen wirkungsvoll Gehör findet!

„Man muss irgendwie Glück haben mit dem Jugendamt – das ist doch unfair!“

Care Receiver:innen und Care Leaver:innen berichten davon, dass es oftmals vom Glück abhänge, ob und wie vor Ort Hilfen gewährt und bestehende Rechte in der Praxis der Kinder- und Jugendhilfe tatsächlich umgesetzt werden: Glück mit dem Jugendamt, das die Hilfe über das 18. Lebensjahr hinaus bewillige, mit der stationären Einrichtung, die ihre Beteiligung und Selbstvertretung aktiv unterstütze oder mit der betreuenden Fachkraft oder den Pflegeltern, die sogar noch nach der Beendigung der Hilfe mit „Rat und Tat zur Seite stehen“.

Bedarfsgerechte Unterstützung darf aber keine Glückssache sein! Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ ist davon überzeugt, dass der Staat und die Kinder- und Jugendhilfe die Verantwortung dafür übernehmen müssen, dass den jungen Menschen ein Leben nach eigenen Vorstellungen als junge Erwachsene ermöglicht wird. Diese Verantwortung hört mit der Volljährigkeit der jungen Menschen ebenso wenig auf, wie sie an den institutionellen Grenzen der Kinder- und Jugendhilfe enden kann.  

Einer der Schwerpunkte des Mitte 2021 in Kraft getretenen Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes (KJSG) zur Änderung des SGB VIII war, Kinder und Jugendliche, die in Pflegefamilien oder in Einrichtungen der Erziehungshilfe aufwachsen, zu stärken. Mit den Neuregelungen sollen sich die Intensität und Qualität der öffentlichen Unterstützung für junge Menschen zu deren Wohl und Entwicklung verbessern bzw. an die Unterstützung Jugendlicher und junger Erwachsener in Familien annähern.

Neuregelungen des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes

  • Der Rechtsanspruch für junge Volljährige ist gestärkt worden und gilt bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres. Erst wenn „eine selbstbestimmte, eigenverantwortliche und selbständige Lebensführung“ (§ 41 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII) gewährleistet ist, kann eine Hilfe seitens des Jugendamts beendet werden. Treten nach der Beendigung einer Hilfe neue Probleme auf, so gibt es eine Rückkehroption (§ 41 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII), die nicht auf eine Hilfeform oder einen Zeitraum begrenzt ist. Darüber hinaus kann weiterhin allerdings nur in begründeten Einzelfällen eine Hilfe über das 21. Lebensjahr hinaus fortgeführt werden.
  • Kommt nach dem Ende der Hilfe die Hilfe eines anderen Sozialleitungsträgers in Betracht, so soll mit der Übergangsplanung bereits 1 Jahr vor dem voraussichtlichen Ende der Hilfe begonnen werden (§ 41 Abs. 3 SGB VIII). Generelle Regelungen zur Übergangsplanung im Rahmen der Hilfeplanung finden sich in § 36b SGB VIII.
  • Die vorher in einem Absatz des § 41 SGB VIII enthaltene und weitgehend in der Praxis unbeachtete Nachbetreuung wird jetzt in einem eigenen, konkretisierten Paragraphen 41a SGB VIII geregelt. Das Jugendamt ist ausdrücklich verpflichtet, in einem angemessenen Zeitraum in regelmäßigen Abständen Kontakt zum jungen Menschen zu halten. Die Details sollen im Hilfeplan festgeschrieben werden, der somit auch diesbezüglich eine rechtsichernde Bedeutung bekommt.
  • Junge Volljährige werden nicht mehr aus ihrem Vermögen herangezogen – es sei denn sie erhalten eine Leistung nach § 19 SGB VIII.
  • Die Heranziehung junger Menschen wird von 75% ihres Einkommens auf „höchstens 25%“ abgesenkt. Darüber hinaus werden Einkommen aus Ferienjobs und ehrenamtlicher Tätigkeit nicht angerechnet und 150 € unberücksichtigt, wenn der junge Mensch eine Ausbildungsvergütung, Geld aus Schülerjobs oder Praktika bezieht. Kindergeld – auch wenn es direkt an das Kind gezahlt wird – wird allerdings eingezogen. Das maßgebliche Einkommen ist aber nach neuem Recht nicht mehr der Vorjahres-Zeitraum, sondern der jeweilige Monat, in dem die Leistung bezogen wird.

Die Kinder- und Jugendhilfe ist jetzt gefordert, die rechtlichen Normierungen vor Ort umzusetzen. Ausgehend von den jeweiligen Lebenslagen, Interessen und Bedarfen der jungen Menschen, können gleiche, diskriminierungsfreie Teilhabechancen jedoch nicht nur aus der Perspektive von einzelnen Zuständigkeiten (Kinder- und Jugendhilfe, Schule, Agentur für Arbeit usw.) verwirklicht werden. Im Kontext einer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung sind bspw. Schnittstellen und Unterstützungsstrategien aufeinander abzustimmen sowie integrierte Angebote zu schaffen. Besonders deutlich wird dies z. B., wenn es um Anschlusshilfen, Übergänge in Ausbildung oder die Sicherstellung von Wohnraum und des Lebensunterhaltes geht.

Was aus Sicht der AGJ zu tun ist

Mit dem KJSG sind die in der Fachdiskussion geforderten Eckpunkte für die Unterstützung von Care Leaver:innen neu reguliert worden. Die Neuregelungen bieten eine gute Grundlage, um viele Herausforderungen für diese Zielgruppe besser zu meistern. In der Praxis wird jedoch sichtbar, dass die Umsetzung der Neuregelungen auf sich warten lässt. Gleichzeitig gibt es nach wie vor rechtlichen Weiterentwicklungsbedarf, um der Situation von Care Leaver:innen gerecht zu werden. Es muss von der Grundannahme ausgegangen werden, dass die Ausgangslage von Care Leaver:innen und entsprechende Herausforderungen für den Übergang nicht allein individuell zu verorten sind, sondern eher die Friktionen im System sichtbar machen. Eine Grundursache für die Schwierigkeiten im Übergang aus der Hilfe in die Selbstständigkeit oder in andere Leistungssysteme liegt, trotz klarer wissenschaftlicher Erkenntnislage, in der oftmals fehlenden Anerkennung der benötigten Übergangszeiträume für junge Erwachsene. Dies betrifft nicht nur die Kinder- und Jugendhilfe, sondern ist professionsübergreifend zu beobachten (z. B. bei Richter:innen). Es muss stärker in den Blick genommen werden, dass junge Frauen* ihr Elternhaus durchschnittlich mit 23 Jahren verlassen, junge Männer* mit 24 Jahren. Warum sollten Care Leaver:innen ausgerechnet so viel früher in der Lage sein (im Schnitt mit 18 Jahren), diesen Übergang unter schwierigsten materiellen Voraussetzungen, oftmals fehlenden sozialen Netzwerken, niedrigeren Bildungsabschlüssen etc. zu bewältigen?

Die AGJ ist der Ansicht, dass folgende Voraussetzungen geschaffen werden müssen, um die Rechte der jungen Menschen umzusetzen und deren gleichberechtigte soziale Teilhabe zu gewährleisten:

  • Erfahrungen evaluieren und nutzbar machen – Infrastruktur für junge Erwachsene als zentrale Herausforderung kommunaler Sozialpolitik,
  • Vorantreiben der Umsetzung der Neuregelungen und Weiterentwicklungen im SGB VIII,
  • Grundsätzlicher Anspruch auf Nachbetreuung,
  • Förderung und Unterstützung jedes einzelnen jungen Menschen,
  • Beschwerdekultur als Motor für Weiterentwicklung und Passgenauigkeit,
  • Selbstvertretung als selbstverständliche Möglichkeit der Selbstpositionierung,
  • Gewährleistung des Rechtes auf Wohnen – Alternative Wohnformen entwickeln,
  • Anerkennung und Förderung sozialer Beziehungen und Netzwerke als essentielle Grundlagen für die psychosoziale Gesundheit und einen gelingenden Übergang,
  • Wissen über Care Receiving und Care Leaving generieren und vermitteln,
  • Ein verbindliches System für Leaving Care braucht die Anstrengung vieler.

Das Positionspapier „Verantwortung tragen und Herausforderungen angehen! Leaving Care vor Ort verbindlich gestalten." (PDF: 437 KB)  ist in Gänze auf der AGJ-Website zu lesen.

Quelle: Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ vom 01.07.2022

Redaktion: Pia Kamratzki

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