Corona
Soziale Defizite vor Leistungsdefiziten ausgleichen


Im Interview zieht Prof. Dr. Helena Dimou-Diringer von der SRH Heidelberger Akademie für Psychotherapie Bilanz über das vergangene Corona-Schuljahr in Baden-Württemberg.
28.07.2021
Ein denkwürdiges Schuljahr neigt sich dem Ende: Von 187 Schultagen fielen in Baden-Württemberg 35 flächendeckend in den virtuellen Raum. Das ist rund ein Fünftel des Schuljahres. Die weiteren Schultage gerieten zu einer Schlitterbahn zwischen Wechselunterricht, hybriden Modellen, Teststrategien und Kontaktbeschränkungen. Die Kinder und Jugendlichen waren nicht nur in der Schulzeit massiv von den Einschränkungen betroffen, sondern auch in den Ferien und an den Wochenenden – eine konstante Belastung und Stresserfahrung. Was Isolation und sich ständig ändernde Bedingungen für die junge Generation bedeutet, erfuhr Prof. Dr. Helena Dimou-Diringer, Leiterin der SRH Heidelberger Akademie für Psychotherapie sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin aus Gesprächen mit ihren Patientinnen und Patienten.
Welche Störungen beobachten Sie seit diesem Schuljahr vermehrt?
Nicht nur die Schulzeit, sondern auch die Freizeit bedeutet für die Kinder und Jugendlichen seit Pandemie-Ausbruch eine große Belastung: Schule nur am Computer, keine Sportveranstaltungen, keine Partys, jedes Wochenende im engen Familienkreis, und all dies verstärkt durch eine negative Grundstimmung, die auf allen Ebenen vermittelt wird. Dieses zweidimensionale Leben, die Monotonie hat sehr auf die Psyche geschlagen. In unserer Ambulanz für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie haben wir festgestellt, dass die Kinder unter Einsamkeit litten, auch gelangweilt waren, einige waren depressiv, aber vor allem kam es zu mehr Zwangserkrankungen: Bei Essstörungen, Wasch- oder Kontrollzwängen habe ich das Gefühl, die Situation selbst kontrollieren zu können, was in der Pandemie ja vielfach verloren ging. Zudem hatten wir den Eindruck, dass die Kinder und Jugendlichen insgesamt massiver krank sind, die Ausprägungen der Symptome haben zugenommen.
Viele Lehrerinnen und Lehrer berichten, dass die Beschulung der Kinder nach dieser langen Corona-Zeit ein Problem sei. Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation in den Schulen kurz vor den Sommerferien?
Das ist richtig, manche Störungsbilder haben sich verstärkt: Die Konzentrationsfähigkeit hat nachgelassen, die Unruhe ist größer. Kinder mit einer ADHS-Erkrankung fallen nun verstärkt im Unterricht auf. Der Leistungsdruck hat wieder zugenommen, auch die Lerndefizite werden jetzt deutlich, setzen zusätzlich unter Druck und sorgen vielfach für ein Auseinanderklaffen innerhalb der Klassenverbände. Die vielen sozialen Kontakte sind noch ungewohnt, sodass zum Teil auch die sozialen Ängste wachsen. Lange Zeit fehlte durch das Homeschooling die dritte Dimension: Wir haben ein Defizit von eineinhalb Jahren sozialer Erfahrung! All dies sorgt auch für psychosomatische Erkrankungen wie Kopf- oder Bauchschmerzen.
Wie schätzen Sie die psychische Situation nach den Ferien ein?
Die Kinder werden sich rasch wieder an die neue Situation gewöhnen, sie sind anpassungsfähiger als manch ein Erwachsener. Die Schulen haben es jedoch meiner Meinung nach versäumt, nach den langen Lockdown-Monaten das Augenmerk auf die Sozialisation zu legen. Ausflüge, gemeinsame Erlebnisse und Teambuilding, das gemeinsame Arbeiten an sozialen Kompetenzen sind doch jetzt zunächst viel wichtiger als die Leistung! Denn letztendlich leidet auch die Leistung unter den sozialen Problemen. Wir müssen die sozialen Defizite daher zuerst ausgleichen! Ich hoffe, dass diese Dimension zu Beginn des neuen Schuljahres verstärkt mit in den Fokus genommen wird.
Was können die Eltern gegen die depressive Stimmung oder andere psychischen Pandemie-Folgen bei ihren Kindern unternehmen?
Die Eltern sollten sich nicht auf das Leistungsdefizit ihrer Kinder konzentrieren. Vielmehr können sie ihren Kindern helfen, indem sie sie motivieren, sich nicht wieder nur digital über WhatsApp oder andere digitale Kanäle auszutauschen, sondern sich persönlich zu treffen und gemeinsam etwas zu unternehmen. Auch sportliche Aktivitäten sind wichtig, die man ja auch gemeinsam ausüben kann. In den Ferien sollte die Zeit dafür da sein. Der Shift vom virtuellen in den realen Raum muss aber auch von den Erwachsenen vorgelebt werden. Ihre Vorbildfunktion ist sehr wichtig. Bei langanhaltenden Problemen sollten sich Eltern an eine psychologische Beratungsstelle wenden oder einen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten kontaktieren.
Quelle: Hochschule Heidelberg vom 27.07.2021
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