Inobhutnahme

Notvertretung für unbegleitete minderjährige Geflüchtete: AGJ fordert Rollenklarheit und Beschwerdeakzeptanz

Das Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ „Notvertretung für unbegleitete minderjährige Geflüchtete – nur zur Not vertreten?“ greift das im Rahmen des Gesetzgebungsprozesses 2015 u.a. von der AGJ kritisierte Notvertretungsrecht des Jugendamtes während der vorläufigen Inobhutnahme junger Geflüchteter auf und beleuchtet es nach dreieinhalb Jahren Umsetzungserfahrung. Die Praxis wird aufgefordert, das eigene Handeln kritisch zu reflektieren und das Problembewusstsein hinsichtlich der Verfahrensabläufe und der eigenen Doppelrolle zu steigern. Jugendamtsleitungen sollten die bestehenden Organisationsstrukturen hinterfragen und einen Fachdiskurs innerhalb des eigenen Amtes stärken, der Rollenklarheit und Beschwerdeakzeptanz fördert. Außerdem bedarf es an Qualifizierungsangeboten für all jene, die in der rechtlichen Vertretung der unbegleitet geflüchteten Kinder und Jugendlichen tätig werden.

10.07.2019

Unbegleitete minderjährige Geflüchtete werden während der vorläufigen Inobhutnahme und auch nach Abschluss des Verteilverfahrens im Rahmen des sogenannten Notvertretungsrechts durch das für sie zuständige Jugendamt bis zur Bestellung einer Vormundschaft vertreten. Diese Konstruktion wurde schon während des Gesetzgebungsprozesses 2015 stark kritisiert, da Interessenkollisionen drohen. Befragungen der Praxis zeigen, dass die in Gesetzesbegründung und Literatur geforderten personellen und organisatorischen Vorkehrungen in einem erheblichen Anteil unterlassen wurden.

Rechte der Kinder und Jugendlichen werden verkürzt

Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ zeigt in ihrem Positionspapier auf, dass die Rechtslage eine Praxis befördert, bei der die Verteilungsabläufe möglichst nicht gestört und in der Konsequenz Rechte der Kinder und Jugendlichen verkürzt werden. Der Verweis auf informelle statt rechtsstaatliche Wege wird als besorgniserregend eingeschätzt, auch weil Quotenauslastung kein Drehpunkt für den Zugang zu (Beschwerde-)Rechten sein darf.

Zusammenfassende Empfehlungen der AGJ

Unbegleitete geflüchtete Kinder und Jugendliche werden bis zur Bestellung eines Vormunds / einer Vormundin durch das für sie zuständige Jugendamt vertreten (§§ 42a Abs. 3, § 42 Abs. 2 Satz 4 SGB VIII). Insbesondere während der Zeit der vorläufigen Inobhutnahme kann es zu Interessenkollisionen kommen, da das Jugendamt in einer Doppelrolle agiert, die die Wahrnehmung eines ggf. erforderlichen Rechtschutzes für den jungen Menschen gefährdet. Das Jugendamt muss in für die jungen Menschen hochrelevanten Fragen Entscheidungen treffen und ist im Rahmen seiner Aufgabe als rechtliche Vertretung gleichzeitig berufen, diese ggf. sofort wieder in Frage zu stellen bzw. anzugreifen. Es geht um Alterseinschätzung, Gesundheitsmaßnahmen, Anmeldung zum Verteilverfahren, Verteilentscheidung des Bundesverwaltungsamtes oder der Landesstelle des zur Aufnahme verpflichten Landes, nachträgliche Zuständigkeitsänderungen, ggf. den Start des Asylverfahrens.

Die Gesetzesbegründung zum sog. Verteilungsgesetz und die entsprechenden Handlungsempfehlungen fordern dazu auf, in den Jugendämtern organisatorische und personelle Vorkehrungen für etwaige Interessenkollision zu treffen. Dies hat sich als zu unverbindlich erwiesen. Befragungen der Praxis zeigen, dass in einem erheblichen Anteil der Jugendämter die Aufgaben im gleichen Dienst angesiedelt sind. Das Reformziel einer schnellen Verteilung ist zwar zu unterstützen, verschärft die Situation aber. Die aktuelle Ausgestaltung der Notvertretung durch das Jugendamt gewährleistet pragmatisch zwar eine unverzügliche, aber in erster Linie formal sichergestellte rechtliche Vertretung. Sie kollidiert mit den im internationalen Recht und der Verfassung hochrangig verankerten Rechten der geflüchteten Minderjährigen auf wirksamen Rechtschutzes durch rechtliche Vertretung und eine umfangreiche Beteiligung. So wird eine Praxis befördert, bei der die Verteilungsabläufe möglichst nicht gestört werden, was aber in Konsequenz die Rechte der Kinder und Jugendlichen verkürzt.

Rechtlich wäre eine definierte Stellung als Interessenvertreter deutlicher zum Ausdruck gebracht über eine kurzfristig erfolgende Vormundbestellung auch während der vorläufigen Inobhutnahme. Im Kontext von Vormundschaft und Betreuung wäre das nach Einschätzung der AGJ die systemgerechtere Lösung, auf die der Gesetzgeber durch das Notvertretungsrecht des Jugendamts wohl insbesondere unter Rücksichtnahme auf eine gerichtliche Praxis verzögerter Vormundschaftsbestellungen verzichtete.

Bleibt es grundsätzlich bei der Konstruktion des Notvertretungsrechts ist aus Sicht der AGJ sowohl bei der Umsetzung im Jugendamt als auch ausdrücklich im SGB VIII sicherzustellen, dass keine Personalunion zwischen der Person besteht, welche die rechtliche Vertretung innehat, und der Person, die für das Jugendamt die Alterseinschätzung oder Aufgaben des Verteilverfahrens betreibt. Der Gesetzgeber sollte zum Notvertretungsrecht zumindest eine explizite Pflicht zur personellen Trennung von Fallzuständigkeit und Interessenvertretung in § 42a Abs. 3 SGB VIII vorsehen.

Im Verteilverfahren braucht es zudem ein durchsetzbares Recht der jungen Geflüchteten, bei besonderen Bedarfen (etwa bei Familienzusammenführung im Inland) eine Abänderung der Verteilentscheidung bewirken zu können.

Die AGJ fordert ferner die Praxis auf, das eigene fachliche Handeln kritisch zu reflektieren und das Problembewusstsein hinsichtlich der Verfahrensabläufe und der eigenen Doppelrolle zu steigern. Jugendamtsleitungen sollten die bestehenden Organisationsstrukturen hinterfragen und einen Fachdiskurs innerhalb des eigenen Amtes stärken, der Rollenklarheit und Beschwerdeakzeptanz fördert. Es braucht Qualifizierungsangebote für all jene, die in der rechtlichen Vertretung der unbegleitet geflüchteten Kinder und Jugendlichen tätig werden.

Informationen zum Papier und Download

Das vollständige Positionspapier „Notvertretung für unbegleitete minderjährige Geflüchtete – nur zur Not vertreten?“ (PDF, 189 KB) steht auf den Seiten der AGJ zum Download zur Verfügung.

Das 15-seitige Positionspapier enthält Ausführungen zu:

  • Hintergrund und Anstoß des Papieres
  • Inhalt des Notvertretungsrechts
  • Ausübung des Notvertretungsrechts während der vorläufigen Inobhutnahme sowie zu Problempunkten der Notvertretung während der vorläufigen Inobhutnahme:
    • Alterseinschätzung
    • Verteilungsverfahren
    • „freiwilliger“ Zuständigkeitswechsel nach erfolgter Verteilung
    • Asylverfahren

Quelle: Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ

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