60 Jahre Deutsches Jugendinstitut

Neue Forschungsergebnisse zum Thema „Jungsein in unsicheren Zeiten“

Die Coronapandemie, Kriege, Preissteigerungen und die Klimakrise belasten junge Menschen. Zusätzlich zu globalen Unsicherheiten erleben sie individuelle Krisen, z.B. durch Migration, Armut und instabile Beziehungen. Expert*innen des Deutschen Jugendinstituts diskutierten am 7. und 8. November die Herausforderungen für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene sowie die zu bewältigenden Probleme in Kinder- und Jugendhilfe, Kommunen und Politik.

23.11.2023

Die wissenschaftliche Tagung war gleichzeitig Anlass, das 60-jährige Bestehen des DJI zu feiern. Am ersten Abend der Fachtagung hielt Lisa Paus, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), ein Grußwort. DJI-Direktorin Prof. Dr. Sabine Walper präsentierte Einblicke in die Geschichte des DJI und erläuterte Forschungsthemen und Herausforderungen der Zukunft. Auch der neu eingerichtete Jugendbeirat des DJI wurde vorgestellt.

Am 8. November, stellten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Forschungsprojekte und -ergebnisse vor, unter anderem zu den Themen „Folgen der Pandemie und anderer Krisen für Schulen“, „Kommunale Unterstützungsstrukturen und Perspektiven junger Geflüchteter und Migrantinnen und Migranten“, „Langzeitstudien für die Kinder- und Jugendhilfe“, „Familien in Umbruchsituationen“, „Armutserfahrungen von Kindern und Jugendlichen“ und „Politische Sozialisation“. Im Folgenden eine Auswahl an Forschungsthemen und -ergebnissen.

Ergebnisse der Ukraine-Forschung am DJI

Aktuelle Forschungsbefunde des DJI geben Einblick in die Lebenslagen von Kindern, Jugendlichen und Müttern, die aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet sind, und analysieren die Unterstützungsstrukturen, vor allem in der Kinder- und Jugendhilfe sowie in den kommunalen Verwaltungen.

Die Befunde zeigen: Die Kommunen bieten vielfältige Hilfen an und versuchen, durch Netzwerkarbeit ihre zu geringen Ressourcen und Kapazitäten zu kompensieren. Helferinnen und Helfer aus der Zivilgesellschaft sind eine wesentliche Säule der Integration. Die Jugendlichen betonen die Bedeutung von Freunden, Familie und Lehrkräften als wichtiges Unterstützungsnetzwerk. Mitarbeitende der Kommunen heben die Bildungsmotivation der Geflüchteten hervor, sehen aber Hindernisse in der angespannten Situation des deutschen Bildungssystems. Jugendliche spüren die Limitationen durch die begrenzten Ressourcen der Schulen. Sprach-, Kultur- und Freizeitangebote seien essentiell für Integration und Normalitätserfahrungen.

Auch zum Thema Gesundheit liegen Ergebnisse der DJI-Ukraine-Forschung vor: Laut der Mitarbeitenden der Kommunen ist der allgemeine Gesundheitszustand Geflüchteter bei ihrer Ankunft gut. Interviews zeigen jedoch einen hohen psychischen Beratungsbedarf bei den Jugendlichen. Auch die Frage der Ungleichbehandlung zwischen Geflüchteten-Gruppen, also Geflüchteten aus der Ukraine und Geflüchteten, die unter den Rahmenbedingungen des Asylbewerberleistungsgesetzes in Deutschland leben, beschäftigt die jungen Menschen. Die Ungleichbehandlung ist den Mitarbeitenden der Kommunen bewusst. Sie suchen nach Lösungen und werfen die Frage auf, ob Angebote für alle gleich zugänglich gemacht und bedarfsgerecht gestaltet werden könnten.

Trotz vieler Koordinationsanstrengungen aller Beteiligten fehlt es an Platzangeboten, Fachkräften und finanziellen Ressourcen sowie teilweise auch an ausreichender Angebotskenntnis seitens der Zielgruppe. Positiv bewertet werden die zügige Unterbringung der Geflüchteten sowie die Möglichkeit, ihre Bildungskarrieren möglichst bruchlos fortzusetzen. Zudem erweisen sich niedrigschwellige, mehrsprachige Angebote der Zivilgesellschaft häufig als Schlüssel für eine gelungene Integration.

Unsichere Zeiten: Gestaltungsmuster und Beratungsbedarfe von Familien in Umbruchsituationen

Trennung, Scheidung oder Flucht stellen Umbruchsituationen dar, die das Familienleben stark verändern können. DJI-Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler untersuchen in einer Vielzahl von Projekten die Lebenslagen der Familienmitglieder, ihren Zugang zu Unterstützungsangeboten und deren Wirkung – von der Kindertagesbetreuung über Frühe Hilfen bis zur Beratung von konfliktbelasteten Nachtrennungsfamilien. Ob und welche Unterstützungsangebote gesucht und angenommen werden, erweist sich dabei oft als selektiv, das heißt als abhängig von Ressourcen der Betroffenen, aber auch von regionalen Faktoren.

Alleinerziehende sind im Alltag besonders gefordert und haben oft nur eingeschränkte Möglichkeiten, zusätzliche Erschwernisse abzufedern. In der Coronapandemie verloren insbesondere alleinerziehende Mütter an Wohlbefinden und waren weniger mit ihrem Leben zufrieden als Mütter in Paarhaushalten. Aktuell sind viele aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtete Mütter alleinerziehend. Sie tragen neben der Alleinverantwortung für die Kinder auch die Sorge um zurückgelassene Angehörige und müssen oft belastende Kriegs- und Fluchterfahrungen verarbeiten. Trotz überwiegend mäßiger Deutschkenntnisse sind die Erwerbswünsche der Mütter hoch. Unkenntnis, Sprachdefizite und fehlende Kitaplätze stehen der Inanspruchnahme von Unterstützungsangeboten entgegen.

Armutserfahrungen bei Kindern und Jugendlichen

Mit dem Nationalen Aktionsplan „Neue Chancen für Kinder in Deutschland“ (NAP) setzt Deutschland die EU-Ratsempfehlung zur Ein­füh­rung einer Europäischen Garantie für Kinder um. Ziel ist es, Kindern und Jugendlichen, die von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht sind, bis zum Jahr 2030 Zugang zu hochwertiger frühkindlicher Bildung, Betreuung und Erziehung, zu schulbezogenen Aktivitäten, einer hochwertigen Gesundheitsversorgung, ausreichender und gesunder Ernährung sowie angemessenem Wohnraum zu gewährleisten. Dabei sollen Kinder und Jugendliche kontinuierlich als Experten in eigener Sache an der Umsetzung des NAP beteiligt werden.

Forscherinnen und Forscher der am DJI angesiedelten Service- und Monitoringstelle (ServiKiD), die die Ausgestaltung und Umsetzung des NAP unterstützt, erörterten im Rahmen der wissenschaftlichen Jahrestagung unterschiedliche Blickwinkel von Kindern und Jugendlichen auf gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten. Sie zeigten, wie wichtig es ist, die befragten Kinder und Jugendliche über ihre Bedürfnisse, Wünsche und Bedarfe im Kontext von Armutslagen zu Wort kommen zu lassen. Kinder und Jugendliche, die von Armut betroffen sind, berichten häufig von familialen Konflikten sowie gesundheitlichen und psychischen Belastungen in Familien, die ihre gesellschaftliche Teilhabe maßgeblich beeinträchtigen. Eines von vielen Beispielen sind hierbei die Perspektiven aus einer Jugendeinrichtung aus dem Münchner Norden. Sowohl die pädagogische Leitung als auch die Jugendlichen selbst berichteten – als wahre Expertinnen – über ihre Erfahrungen.

Folgen der Pandemie und andere Krisen verändern Schule

Gesellschaftliche Wandlungsprozesse der vergangenen Jahre haben im Leben und der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen deutliche Spuren hinterlassen. Umfassende wissenschaftliche Befunde zeigen, wie sehr Kinder und Jugendliche unter den Zeiten strenger Einschränkungen der Sozialkontakte während der Pandemie gelitten haben und dass die anhaltenden Krisen wie Kriege, Inflation sowie Klimakrise zu Unsicherheit, Frustration und Resignation bis hin zu deutlichen Beeinträchtigungen des Wohlbefindens führen. Wenngleich sich in einigen Bereichen des psychischen Wohlbefindens eine leichte Erholung gegenüber den Einschränkungen der Pandemie abzeichnet, bestehen in anderen Bereich doch bedenkliche mittelfristige Folgen.

Dazu zählen gravierende Lernrückstände, fehlende Lern- und Arbeitstechniken sowie Auffälligkeiten in der Selbstregulationsfähigkeit und im Sozialverhalten für substanzielle Anteile der jetzigen Generation von Schülerinnen und Schülern. Die Forscherinnen und Forscher kombinieren Befunde aus der Wissenschaft, der Bildungsadministration und der Schulpraxis, um zu überlegen, welche Konsequenzen dies für die Gestaltung von Bildungsprozessen haben muss und wie Forschung, Steuerung und Fachpraxis darauf reagieren können.

Kinder- und Jugendhilfe im Wandel – 30 Jahre Forschung zur Kinder- und Jugendhilfe

Die Kinder- und Jugendhilfe hat in den vergangenen dreißig Jahren erheblich an Bedeutung gewonnen und ist heute für junge Menschen und ihre Familien ein normaler Bestandteil des Aufwachsens und der Unterstützungsinfrastruktur. Im DJI-Projekt „Jugendhilfe und sozialer Wandel“ werden seit dreißig Jahren Angebote, Strukturen und Verfahren der Kinder- und Jugendhilfe empirisch abgebildet und analysiert. Dazu werden Jugendämter sowie Einrichtungen und Dienste in öffentlicher und freier Trägerschaft verschiedener Arbeitsfelder, zum Beispiel in der Kinder- und Jugendarbeit oder auch den Hilfen zur Erziehung, wiederholt befragt. Hinsichtlich vieler Aspekte zeigt sich in der Kinder- und Jugendhilfe Stabilität. Veränderungen werden oft erst über einen längeren Zeitraum sichtbar.

Ein Beispiel für Neuerungen insbesondere als Folge der Fachdiskussion und der Konkretisierung der gesetzlichen Vorgaben des Sozialgesetzbuches SGB VIII sind Mitbestimmungsgremien in Einrichtungen der stationären Hilfen zur Erziehung. Im Jahr 2019 haben fast zwei Drittel der größeren Einrichtungen ein solches Gremium und damit doppelt so viele wie im Jahr 2004. An diesem Beispiel zeigt sich auch, dass die Umsetzung gesetzlicher Regelungen in der Praxis Zeit benötigt. Ein anderes Beispiel für längerfristige Veränderungen ist die Trägerstruktur. Im Bereich der offenen Kinder- und Jugendarbeit, vor allem in Jugendzentren, ist über einen langen Zeitraum eine Abnahme der Trägerpluralität erkennbar. An der Entwicklung der Aufnahmehindernisse und Ausschlusskriterien, die von Einrichtungen der stationären Hilfen zur Erziehung benannt werden, ist erkennbar, wie die Bearbeitbarkeit von Problemkonstellationen eingeschätzt wird und sich das Ausmaß der Spezialisierung von Einrichtungen entwickelt.

Politische Sozialisation, Demokratie und Engagement im Jugendalter

Das Jugendalter ist geprägt von zahlreichen Entwicklungen der Selbstwahrnehmung, Selbstpositionierung und Verselbstständigung. Auch in Bezug auf ihre Haltungen zu Politik und Engagement durchlaufen Jugendliche zahlreiche Veränderungen, die sie teils für lange Zeit prägen. Der Begriff politische Sozialisation beschreibt diese Entwicklungen und verweist auf empirische Befunde und Forschungen, die diese Prozesse sichtbar und verstehbar machen wollen. Schule, Kinder- und Jugendhilfe, außerschulische politische Bildung sind Systeme und Ansätze, in und mit denen politische Sozialisation verläuft. DJI-Forscherinnen und Forscher begleiten diese Entwicklungsschritte und empirischen Befunde und machen die unterschiedlichen Facetten sichtbar. Im Mittelpunkt steht zum einen die Frage, wie die politische Sozialisation von Jugendlichen verläuft. Zum anderen werden aber auch institutionelle Sozialisationskontexte betrachtet. Mit Blick auf verschiedene Bundesprogramme des BMFSFJ wird analysiert, wie Sozialisationskontexte gezielt gestaltet werden sollen, um die politische Sozialisation von Jugendlichen zu beeinflussen. Dabei wird deutlich, dass sich die Schwerpunktsetzungen wie auch die Ziele der Programme im Laufe der Zeit verändert haben.

Quelle: Deutsches Jugendinstitut vom 07.11.2023

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