Präventionskonzept
Netzwerk will psychische Gesundheit von Kindern verbessern
Jedes fünfte Kind in Deutschland ist psychisch auffällig. Ein besonderer Risikofaktor für psychische Störungen ist das Aufwachsen in städtischen Ballungsräumen. Im Bochumer Stadtteil Wattenscheid entwickelt das Forschungs- und Behandlungszentrum für psychische Gesundheit (FBZ) der Ruhr-Universität Bochum deshalb ein neuartiges Präventionskonzept.
08.03.2024
Das Projekt „Urban Mental Health“ (UMH) bringt erstmals Wissenschaft, Politik und Praxis zusammen, um die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen nachhaltig zu verbessern. Es ist eines der Leuchtturmprojekte des Deutschen Zentrums für Psychische Gesundheit (DZPG) und soll zur Blaupause für ganz Deutschland werden. Erste Ergebnisse zeigen eine hohe Akzeptanz des Ansatzes.
„Wir schaffen erstmals ein Netzwerk, das über Sektorengrenzen hinweg zur Förderung der psychischen Gesundheit beiträgt“, sagte Prof. Dr. Silvia Schneider, Professorin für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie und Direktorin des FBZ bei einem Pressetermin im Märkischen Gymnasium in Bochum-Wattenscheid. Die Fachkräfte der Schule gehören zu den ersten, die im Rahmen des UMH-Projekts für sie maßgeschneiderte Schulungsangebote erhalten.
Gemeinsam mit ihrem Team kommt Silvia Schneider regelmäßig mit Vertreter*innen der Stadt Bochum, mit Schulleitungen und pädagogischen Fachkräften zusammen, um den Verlauf des Projekts auszugestalten „Dieser partizipative Ansatz ermöglicht es uns, voneinander zu lernen und Bestehendes zu stärken.“ Die wissenschaftliche Begleitung diene der Qualitätssicherung und trage dazu bei, ein lernendes System zu schaffen und damit nachhaltig zu wirken.
Mit seiner Zielvorgabe passe das Projekt gut zu Bochums Konzept der „Ermöglicherstadt“, erklärte Britta Anger, städtische Beigeordnete für Jugend, Soziales, Arbeit und Gesundheit. „Es ist uns ein besonderes Anliegen, die Gesundheit der Bochumer Bevölkerung zu fördern. Wattenscheid geht hier als Stadtteil voran, der sich in besonderem Maße um das Wohl von Kinder, Jugendlichen und ihren Familien bemüht.“ Besonders erfreulich sei das Engagement der Einrichtungen vor Ort: „Sie alle öffnen ihre Türen und schaffen zeitliche Kapazitäten, um an dem Projekt mitzuarbeiten.“
Vor allem zuhören
Anders als sonst üblich beginnt die Projektarbeit nicht mit einem von den Forschenden vorgegebenen Präventionsprogramm. Vielmehr wollen die Wissenschaftler*innen vor Ort zunächst zuhören: In Interviews schildern die Einrichtungen ihre Situation und formulieren Unterstützungswünsche. „Dieses Vorgehen erlaubt es, die Interventionen passend für die jeweilige Institution zu entwickeln“, so Silvia Schneider. Der Austausch auf Augenhöhe wirke sich positiv auf die Arbeit der Fachkräfte aus. „Werden Fachkräfte entlastet, geht es auch den Kindern besser. So tragen wir dazu bei, dass psychische Störungen gar nicht erst entstehen.“
Zentraler Bestandteil der Schulungsmodule sind Grundkompetenzen im Bereich der mentalen Gesundheit. Im Mittelpunkt stehen Fragen zum eigenen Handeln und Erleben: Warum gerate ich immer wieder an meine Grenzen? Wie kann ich beeinflussen, wie es mir geht? Darauf aufbauend erhalten die Fachkräfte vertiefende Schulungen, die zu ihren Bedürfnissen passen – etwa zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen durch positive Psychologie. So hätten viele Schüler*innen noch immer mit den Folgen der Corona-Pandemie zu kämpfen, berichtete die Leiterin des Märkischen Gymnasiums, Dr. Kerstin Guse-Becker. „Einige zeigen Anzeichen von Angst oder Unsicherheit, insbesondere in Bezug auf soziale Interaktionen. Um ihnen unterstützende Maßnahmen anbieten zu können, brauchen auch wir als Kollegium Unterstützung.“
Kontinuierlich Daten sammeln
Um die Wirksamkeit der Methoden wissenschaftlich zu überprüfen, trägt das FBZ-Team kontinuierlich Daten zusammen. Fachkräfte, Kinder und Jugendliche werden zu Belastungen, individuellem Wohlbefinden und der Nachhaltigkeit der Schulungsinhalte befragt. Zwar hätten 45 Prozent der Fachkräfte angegeben, sich oft oder meistens körperlich erschöpft oder ausgelaugt zu fühlen, so Silvia Schneider. Doch die Befragungen brächten auch Ressourcen zutage: „94 Prozent der Befragten teilten mit, dass sie oft oder meistens von ihren Kolleg*innen Hilfe erhalten.“ Zugleich sei auch eine hohe Zufriedenheit mit den bisher durchgeführten Maßnahmen im UMH-Projekt ablesbar: Mehr als 95 Prozent der Fachkräfte würden die Interventionen weiterempfehlen; über 80 Prozent erachteten die Inhalte als relevant für die eigene mentale Gesundheit oder Fachkompetenz.
Und so planen die Forschenden bereits die nächsten Schritte. Mit den Fachkräften der Wattenscheider Kindertageseinrichtungen wird in Kürze eine weitere Gruppe in das Projekt starten. Parallel dazu entsteht ein Gesamtkonzept. „Unser Ziel ist ein Programm, das nicht nur in anderen Bochumer Stadtteilen, sondern auch weiteren Ballungsräumen in ganz Deutschland eingesetzt werden kann“, sagte Silvia Schneider. Langfristig sollten dafür einzelne Module auch in digitaler Form verfügbar sein – wenngleich sich nicht jede Intervention eins zu eins in den digitalen Raum übertragen lasse. Denn für manche Ziele sei der persönliche Austausch mit den Menschen vor Ort unersetzlich.
Quelle: Informationsdienst Wissenschaft e. V. vom 04.03.2024
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