Offener Brief
„Keine Kürzungen im Kinder- und Jugendplan und im Sozialgesetzbuch II!“
IN VIA, der Katholische Verband für Mädchen- und Frauensozialarbeit Deutschland e.V. fordert, die angekündigten und bereits vollzogenen Kürzungen im Kinder- und Jugendplan und im Sozialgesetzbuch II zurückzunehmen. An sechs Praxisbeispielen zeigen sie Folgen für die betroffenen Zielgruppen auf und vedeutlichen so die Folgen der Kürzungen auf.
30.10.2023
Die Pressemittelung von IN VIA wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit nicht umgeschrieben und wortwörtlich wiedergegeben:
„Im Juli 2023 erreichten uns erste Nachrichten aus der Bundespolitik zu Kürzungsvorhaben im Kinder- und Jugendplan, weitere im Bereich des Sozialgesetzbuch II (Grundsicherung) folgten. Teils sind die Einschnitte bereits vollzogen. Die Kürzungen treffen (junge) Menschen unvorbereitet und hart.
Vor allem unter den Nachwirkungen der Pandemie, in Zeiten von Kriegsgeschehen und Fluchtbewegungen in Europa sowie der Klimakrise und den damit verbundenen (Zukunfts-)Ängsten und Unsicherheiten brauchen Jugendliche und junge Erwachsene Beratungs- und Förderangebote der Jugendsozialarbeit. Jetzt an dieser Stelle zu kürzen, so dass Träger der Jugendsozialarbeit ihre Angebote zurückfahren müssen, kann keine Lösung sein! Aufgebaute Strukturen und Netzwerke werden durch die geplanten Kürzungen zerschlagen - und das gerade in dieser Zeit, in der sie so dringend gebraucht werden.
Menschen, die Bürgergeld beziehen, sind häufig in prekären Lebenslagen und benötigen ein ganzheitliches Unterstützungsangebot zur Bewältigung ihres Alltags, ein Angebot zur gesellschaftlichen sowie beruflichen Teilhabe und zur schrittweisen Integration in die Erwerbsarbeit. Bei dieser ohnehin vulnerablen Gruppe den Rotstift anzusetzen ist ungerecht und unsolidarisch.
Alle geplanten Kürzungen würden hohe Folgekosten nach sich ziehen: Die Einsparungen auf dem Rücken von jungen Menschen - unserer Zukunft - auszutragen, schwächt die gesamte Gesellschaft und birgt das Risiko von mittelfristig viel höheren Kosten durch Langzeitarbeitslosigkeit, Armut und nicht genutztem Fachkräftepotential.
Auch zeigt der Blick auf die kürzlich stattgefundenen Wahlen in Hessen und Bayern mit der dort erfolgten Stärkung rechtskonservativer Parteien, wie unverzichtbar frühzeitige politische Beteiligung und Demokratiebildung sind.“
Welche Folgen die Kürzungen konkret für die Teilhabe der Betroffenen haben, aber auch welche gesellschaftlichen Folgen sie nach sich ziehen, zeigt IN VIA an sechs Beispielen aus der verbandseigenen Einrichtungen bzw. Dienste:
Beispiel 1 - Krefeld
Junge Menschen im Casemanagement der Jugendberufshilfe
„Das Jobcenter Krefeld fördert mit diesem Programm die Arbeitsaufnahme für derzeit 23 junge Menschen im Bürgergeldbezug. Unterstützung durch IN VIA Krefeld erhalten sie u.a. bei der Bewältigung von Krisen (auch Hilfen bei Schwangerschaft), Wohnungssuche, Schulden/Schuldenregulierung sowie der Suche nach gesundheitlichen und therapeutischen Hilfsangeboten. Durch diese ganzheitlichen, lebensweltorientierten Hilfen wird die Basis geschaffen, mit der beruflichen Orientierung zu beginnen. Casemanagement ist wichtig für Menschen mit multiplen Vermittlungshemmnissen. Die jetzt schon arbeitsmarktfernen jungen Menschen hätten ohne die Unterstützung durch das Casemanagement keine Möglichkeit mehr, aus ihrer schwierigen Lage herauszukommen. Die Kürzungen würden zu einem Anstieg der Langzeitarbeitslosigkeit führen.“
Beispiel 2 - Hamburg
Menschen, die langzeitarbeitslos und in Arbeitsgelegenheiten (AGH) tätig sind
„Das Jobcenter team.arbeit.hamburg fördert bei IN VIA Hamburg e.V. u.a. zwei Sozialkaufhäuser mit angeschlossenen Holz- und Textil-Werkstätten, Café fair sowie einem Schreibservice für Zugewanderte. Die aktuell 135 Teilnehmenden dieser Einrichtungen haben bedingt durch multiple Problemlagen kaum Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt. Diese Beschäftigungsangebote ermöglichen ihnen gesellschaftliche und berufliche Teilhabe. Sie dienen zur Selbsterprobung, (Wieder-) Erlangung der Arbeitsfähigkeit, Förderung der sozialen Teilhabe und Vorbeugung von Isolation. Die Projekte leisten zudem gemeinnützige Dienste und haben dadurch auch eine wichtige Funktion für die Gesellschaft. Sozialkaufhäuser leisten darüber hinaus einen Beitrag zu einem nachhaltigen Umgang mit Ressourcen. Die geplante Streichung bedeutet den Wegfall von sinnstiftenden Beschäftigungsmöglichkeiten für Langzeitarbeitslose. Das Angebot ist ein wichtiger Teil der sozialen Infrastruktur und mit dem Wegfall entstünden Versorgungslücken, etwa Einkaufsmöglichkeiten für Bedürftige.“
Beispiel 3 - Hamburg
Junge Ratsuchende in den Jugendmigrationsdiensten
„Jugendmigrationsdienste (JMD) unterstützen junge Menschen mit Migrationshintergrund zwischen 12 und 27 Jahren durch Beratung beim Übergang von der Schule in Ausbildung/ Beruf, bei Vermittlung in Integrations-/ Sprachkurse, bei der Schulplatzsuche, bei aufenthaltsrechtlichen Fragen und Behördenangelegenheiten. Mit dem JMD verbessern sich die sozialen und beruflichen Integrationschancen junger Menschen. Chancengerechtigkeit, Teilhabe, Selbstwirksamkeit sowie der faire Umgang miteinander werden gefördert. Die Partizipation junger Migrantinnen und Migranten in sämtlichen Bereichen des sozialen, kulturellen und politischen Lebens wird nachweislich verbessert. Allein bei IN VIA Hamburg werden aktuell 340 junge Menschen begleitet. Bei geplanten Kürzungen würden bewährte Präventions- u. Beratungsangebote teils wegfallen. Ohne diese Hilfen zur schulischen, beruflichen und gesellschaftlichen Integration schaffen viele der Ratsuchenden nicht den Schritt in ein eigenverantwortliches Leben in Deutschland.“
Beispiel 4 - Stuttgart
Schüler*innen im Bundesprogramm Respekt Coaches
„IN VIA Stuttgart leistet im Ostalbkreis Präventionsangebote an Schulen gegen jede Form von Extremismus, Rassismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Ziel des Programms"Respekt Coaches" ist es, Vorurteile abzubauen und Demokratie zu fördern. Schülerinnen und Schüler erfahren den Wert einer vielfältigen Gesellschaft. Sie lernen unterschiedliche Weltanschauungen und Lebensweisen besser zu verstehen. Damit trägt das Programm langfristig zu einem gesunden Klassenklima und Zusammenhalt in der Schule bei. Nicht zuletzt werden Jugendlichen Grundlagen für ein friedliches und respektvolles Miteinander in einer demokratischen Gesellschaft vermittelt. Die Region Ostalbkreis ist ländlich geprägt und der Zugang zu Jugendlichen mit Diskriminierungstendenzen nur über gezielte Arbeit an Schulen möglich. Wird das Angebot wie geplant eingestellt, werden Konflikte zunehmen, so dass eine Verfestigung und ein Anstieg von Diskriminierungen mit allen negativen Folgen für die Betroffenen zu erwarten sind. Darüber hinaus gefährden die Entwicklungen die Errungenschaften unserer Demokratie; Anzeichen hierfür gibt es aktuell genug.“
Beispiel 5 - Paderborn
Junge Menschen im Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ)
„Jährlich werden ca. 300 junge Menschen im Erzbistum Paderborn in ein freiwilliges soziales Jahr vermittelt. Sie engagieren sich in ihrem Freiwilligendienst in unterschiedlichen Einsatzstellen (Kinder- und Jugendhilfe, Bahnhofsmissionen, Alten-/ Behinderten-/ Bildungseinrichtungen/ Krankenhäusern, Pfarrgemeinden). Dabei werden sie sowohl individuell als auch in fünf Seminarwochen pädagogisch beraten und begleitet. Die Freiwilligen bringen sehr unterschiedliche Bildungsvoraussetzungen mit. Sie erhalten Einblicke in viele Felder der sozialen Arbeit. Sie lernen sich selbst in ihren Stärken und Schwächen kennen und können entscheiden, ob dieses Feld für ihre eigene Zukunft ein Beruf sein kann. Die Absolvent*innen des FSJ erleben ihr Engagement als Bereicherung für ihre Persönlichkeitsentwicklung und die Erfahrungen prägen ihren weiteren Weg. Unsere Gesellschaft basiert auf zivilgesellschaftlichem Engagement. Junge Menschen, die ein FSJ absolviert haben, engagieren sich auch längerfristig. Einschränkungen des zivilgesellschaftlichen Engagements führen zwangsläufig zu abnehmendem gesellschaftlichen Zusammenhalt.“
Beispiel 6 - Stuttgart
Bildungsberatung Garantiefonds Hochschule (GF-H) für Zugewanderte, die ein Studium aufnehmen möchten
„Die Bildungsberatung Garantiefonds Hochschule (GF-H) richtet sich an alle Zugewanderten, die ein Studium in Deutschland aufnehmen möchten. Allein bei IN VIA Stuttgart sind in diesem Jahr schon 215 Personen zu einem möglichen Hochschulzugang beraten worden. Geflüchtete, Spätaussiedler*innen, jüdische Migrant*innen und seit 2022 auch Geflüchtete aus der Ukraine können zudem eine finanzielle Förderung für einen Deutsch-Intensivkurs Niveau C1 als Voraussetzung für ein Studium erhalten.
Ein großer Teil der Ratsuchenden kommt aus Ländern, die von Kriegen betroffen sind. Die Berater*innen des GF-H können diesen Menschen berufliche Perspektiven aufzeigen, wie ihre Zukunft in Deutschland aussehen kann. Das Programm soll zum 31.12.2023 eingestellt werden. Den Ratsuchenden bietet das Programm eine notwendige Orientierung und die großen Hürden der Bürokratie können sie ohne Unterstützung kaum bewältigen. Oft wurde bereits im Herkunftsland ein Studium aufgenommen. Dem deutschen Arbeitsmarkt gehen durch die Programmstreichung akademisch ausgebildete Fachkräfte von morgen verloren.“
Quelle: IN VIA Katholischer Verband für Mädchen- und Frauensozialarbeit Deutschland e.V. vom 26.10.2023
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