Bildungsforschung

Interview: Schüler profitieren vom gemeinsamen Lernen

An der Gemeinschaftsschule lernen leistungsstärkere und schwächere Schüler gemeinsam. Im Interview mit dem Bildungsministerium Baden-Württemberg erklärt Bildungsexpertin Dr. Katrin Hille vom TransferZentrum für Neurowissenschaften und Lernen (ZNL) in Ulm, wie davon beide Seiten profitieren.

24.04.2014

In den Gemeinschaftsschulen im Land lernen Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher Leistungsstärke gemeinsam. Wie beurteilt das die Wissenschaft: Werden die stärkeren Schülerinnen und Schüler dadurch nicht gebremst?

Das ist eine Sorge, die es häufig zu hören gibt - was passiert mit den stärkeren Schülerinnen und Schülern, wenn sie plötzlich mit weniger Leistungsstarken zusammen lernen sollen? Diese Sorge kann durch die Wissenschaft kaum begründet werden. Wenn man die starken Schüler betrachtet, dann werden sie nicht gebremst, sondern gewinnen zum einen an Sozialkompetenz. Zum anderen muss ich als starker Schüler den Stoff, den ich einem anderem, schwächeren Schüler erklären will, zunächst einmal selbst verstanden haben. So verfestige ich mein eigenes Wissen.

Lernstarke Schülerinnen und Schüler profitieren also davon und lernen selbst, indem sie Schwächeren den Stoff erklären. Wie funktioniert das?

Bisher mussten Schüler anderen Schülern oder der ganzen Klasse selten mal etwas erklären. Sie haben sich den Stoff angehört und sich im Stillen gedacht ‚Ja, das habe ich gecheckt‘. Aber wenn man die Inhalte jemandem anders erklären muss, dann merkt man schnell, wo man bereits sicher ist oder wo man noch ins Schlingern gerät. Das festigt wunderbar das schon erworbene Wissen. Gleichzeitig hilft es mir auch, wenn ich während des Erklärens ins Stocken gerate oder neue Fragen aufkommen. Das Erklären ist eine Art Kontrolle für mich, ob ich den Stoff wirklich verstanden habe. Es ist also nicht so, dass die Stärkeren gebremst werden, auch wenn wir uns das in Deutschland noch immer kaum vorstellen können. Aber wenn wir einfach mal an unsere Grundschulen denken – da machen die Schülerinnen und Schüler das seit jeher genau so. Wieso sollte das ab Klassenstufe Fünf auf einmal zum Problem werden?

Aber wirkt das nicht demotivierend auf die schwächeren Schüler, wenn sie sehen, dass einige ihrer Klassenkameraden ständig schneller vorankommen?

Kinder und Jugendliche wissen sehr wohl, dass Menschen unterschiedlich sind und jeweils manche Dinge besser und andere Dinge schlechter können. Auch die Wissenschaft hat da eine klare Antwort: Für leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler ist es sehr schädlich, wenn sie nicht mit Leistungsstärkeren zusammen lernen. Die Leistungsschwächeren sind davon nicht etwa demotiviert, sondern sehen ganz im Gegenteil, was alles möglich ist. Sie haben positive Vorbilder. Gerade für die lernschwächeren Kinder ist eine Separierung nach Leistung extrem schädlich.

Was bedeutet das für die Lehrer, wenn sie solche heterogene Lerngruppen wie etwa an den Gemeinschaftsschulen unterrichten? Wie müssen sie sich umstellen?

Die erste Umstellung muss in den Köpfen passieren: homogene Lerngruppen gibt es nicht und es gab sie noch nie, auch nicht auf dem Gymnasium. Es gäbe sie selbst dann nicht, wenn alle Kinder einer Klasse bis auf den Tag genau gleichaltrig wären. Jeder Lehrer, der jemals vor einer Klasse gestanden hat, weiß das eigentlich. Sobald sich diese Erkenntnis durchgesetzt hat, kann man anfangen, Konzepte für heterogene Lerngruppen zu entwickeln. Grundschullehrer zum Beispiel leisten das in ihrem Arbeitsalltag schon immer. Ich kenne ebenfalls viele Gemeinschaftsschulen, die bereits gute Konzepte entwickelt haben, wie sie mit der Heterogenität ihrer Schülerinnen und Schüler umgehen. Eine von vielen Möglichkeiten ist es, die bereits angesprochenen Lerngruppen zu bilden, in denen sich die Kinder gegenseitig Dinge erklären oder gemeinsam Dinge erarbeiten.

Die Gemeinschaftsschule setzt auf individuelles Lernen. In welchen Merkmalen unterscheidet sich individuelles vom „herkömmlichen“ Lernen?

Neurowissenschaftlich gesehen gibt es gar nichts anderes als individuelles Lernen. Es lernt das Gehirn des Einzelnen – oder es lernt eben nicht. Lernen war also schon immer individuell, anders geht es gar nicht. Der Knackpunkt liegt darin, dass ich diese Erkenntnis erstmal gewinnen muss. Dann kann ich mir überlegen, wie ich mich mit entsprechenden Konzepten darauf einstelle.

Für Gemeinschaftsschulen ist es, außer in den Abschlussklassen, nicht verpflichtend, Noten zu geben. Was sagt die Wissenschaft, sind Lernende durch die fehlende Bewertung nicht weniger motiviert?

Menschen strengen sich gerne an, wenn sie sehen, dass das, was sie tun, von Erfolg gekrönt ist. Durch Noten ist das aber nicht gut darstellbar. Es gibt eine schöne Zusammenstellung von empirischen Studien, die alle zeigen dass Noten ihren beabsichtigten Effekt verfehlen und sogar negative Nebeneffekte haben. Noten sollen ja eigentlich eine Kompetenz widerspiegeln, zeigen aber nur die Performance, also das was eine Schülerin oder ein Schüler in einer Prüfungssituation geleistet hat. Die Performance darf man nicht mit dem tatsächlichen Können des Kindes gleichsetzen, Noten tun aber genau das.

Des Weiteren versuchen die Schülerinnen und Schüler nicht, ihre Leistung zu perfektionieren, sondern die Note. Sie machen immer genau so viel, wie sie für eine Eins machen müssen oder damit sie nicht sitzenbleiben. Lernen wird so zu einer Kosten-Nutzen-Abwägung. Eigentlich sollten Kinder aber nicht auf Prüfungen vorbereitet werden, sondern darauf, immer mehr wissen zu wollen, immer besser zu werden. Stellen wir uns mal einen Fünferkandidaten vor, der sich in zwei aufeinander folgenden Diktaten von 30 Fehlern auf 15 Fehler verbessert. Das ist doch ein toller Fortschritt, aber in Noten ausgedrückt sowohl vorher als auch nachher eine Fünf. So etwas ist richtig demotivierend, wieso sollte er oder sie sich da weiter anstrengen?

Hintergrundinformation

Dr. Katrin Hille ist Diplom-Psychologin und geschäftsführende Gesamtleiterin des TransferZentrums für Neurowissenschaften und Lernen (ZNL) in Ulm. Ihre Forschungsthemen sind die Evaluation von Lern- und Lehrkonzepten. Außerdem beschäftigt sie sich mit der Übertragung von Ergebnissen und Impulsen aus den Neurowissenschaften auf die Praxis des Lernens und engagiert sich in der Weiterbildung für pädagogische Fach- und Lehrkräfte.
Weiterführende Links

TransferZentrum für Neurowissenschaften und Lernen (ZNL) in Ulm

Quelle: Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg vom 23.04.2014

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