Interviewreihe Kinder- und Jugendhilfe im Kontext Rechtsextremismus
Im Gespräch – Mitarbeiter in einem Kinder-, Jugend- und Kulturzentrum
Herr F. arbeitet in einem Kinder-, Jugend-und Kulturzentrum in einer Kleinstadt in NRW und spricht mit uns über Interkulturalität und die tägliche Arbeit mit Heranwachsenden unterschiedlichster Herkunft. Im Interview erzählt er uns, welchen Einfluss Gespräche sowie das aktive Vorleben von Toleranz und Offenheit auf die Besuchenden haben. Ein Gespräch über das aktive Zuhören, das deutliche Grenzen setzen und einen klaren Wunsch an die kommunale Politik.
31.10.2024
Interview 3/4 – Mitarbeiter in einem Kinder-, Jugend-und Kulturzentrum in einer Kleinstadt in NRW
Im Gespräch
Erzählen Sie doch mal…
„Ich bin 42 Jahre alt und habe vier verschiedene Berufsausbildungen abgeschlossen. Nach dem Studium der sozialen Arbeit an der Fachhochschule arbeitete ich mehrere Jahre für Bildungsträger und bin nun seit acht Jahren bei diesem Träger beschäftigt. Zunächst in der aufsuchenden Kinder- und Jugendarbeit und anschließend hier im offenen Jugendzentrum. Hier bin ich Ansprechpartner für die Stadtverwaltung, für alle externen Anfragen, für administrative Tätigkeiten und für den pädagogischen Alltag. Ebenfalls bin ich Praxisanleitung für Praktikant*innen und BFDler*innen.“
Wie sieht ihr Arbeitstag im Jugendzentrum aus?
„Wir starten hier täglich um 12 Uhr und richten das Haus so her, dass wir es ab 14 Uhr für die Jugendlichen öffnen können. Ich tätige Einkäufe für den offenen Bereich, ich absolviere die Verwaltungsgänge und suche das Gespräch zu unseren Ansprechpartner*innen im Rathaus. Ich nehme an Netzwerktreffen teil. Von 14- 20 Uhr öffnen wir das Haus für die Besucherschaft. Während der Öffnungszeiten bieten wir pädagogische Gespräche an, meist geht es da um private Angelegenheiten oder Belange in der Ausbildung/Schule. Ebenfalls unterstützen wir die Jugendlichen bei Behördengängen und Antragsstellungen. Stichwort Flüchtlingshilfe: geflüchtete Menschen empfangen wir hier mit offenen Armen und unterstützen und begleiten in verschiedenen Lebenslagen, hier geht es meist um Wohnungssuche, Ausbildungsplatzsuche, Hilfe bei Anmeldung zu Deutschkursen. Die kulturelle Arbeit ist ebenfalls von großer Wichtigkeit, da wir ein Kinder-, Jugend- und Kulturzentrum sind, finden hier auch kulturelle Angebote statt. Die letzten Jahre haben wir an der „großen Nacht der Jugendkultur“ teilgenommen, wir sind bekannt für unsere Hip Hop Jams.“
Welche Kinder und Jugendlichen gehören hauptsächlich zu Ihrer Besucherschaft?
„Die offene Kinder- und Jugendarbeit lebt hier seit jeher von Besucherschaft mit Migrationshintergrund. Unsere besuchenden Jugendlichen sind ebenfalls sehr vielfältig zusammengewürfelt, wir haben Kinder ab acht Jahren bis hin zu einem Menschen jenseits der 70. Das macht uns als Kulturzentrum aus. Der 70-jährige Besucher kam in früheren Jahren aus dem Iran mit seinen Kindern in unser Jugendzentrum und engagiert sich nun ehrenamtlich hier. Größtenteils stammen die Besuchenden hier aus dem arabischen Raum, wir haben aber auch Jugendliche mit russischer und ukrainischer Herkunft, die völlig losgelöst von politischen Situationen zusammen Billard spielen oder kickern, sich super verstehen und es gibt keine Reibungspunkte.“
Gibt/gab es in Ihrem Arbeitskontext rechtsextreme Phänomene und Erscheinungen?
„Es gibt zum Beispiel hin und wieder mal Aufkleberaktionen mit rechtspolitischem Hintergrund die hier in unmittelbarer Umgebung stattfinden. Wir sehen uns als Verfechter dessen, diese Aufkleber zu entfernen. Wir bekommen durch die Jugendlichen mit, dass es immer mal wieder in der Schule zu Schwierigkeiten kommt. In der Flüchtlingswelle 2015 gab es hier vor Ort Jugendliche, die sehr empfänglich waren für rechte Parolen. Mit denen sind wir sehr viel in den Diskurs gegangen, um immer wieder zu besprechen, dass es genug Platz gibt, um nebeneinander, am liebsten aber miteinander, zu existieren und ein gutes Leben zu führen. Das waren Gespräche, die schon sehr intensiv, zeitintensiv und dennoch produktiv waren. Aber hier mussten wir als Pädagog*innen ganz klar intervenieren. Mittlerweile müssen wir diese Gespräche hier in der Intensität nicht mehr führen, und es ist ein recht tolerantes Miteinander.“
Wie begegnen Sie diesen Phänomenen, Äußerungen und Handlungen?
„Wir leisten hier in erster Linie Aufklärungs- und Beratungsarbeit. Das letzte prägnante Erlebnis hinsichtlich dieses Themas war die Europawahl 2024, da dort ja auch Jugendliche ab 16 Jahren ihre Stimme abgeben durften. Es gab im Vorfeld hier Äußerungen von Jugendlichen, hinsichtlich der Tatsache, eine Alternative wählen zu wollen. Hier sind wir immer wieder ins Gespräch gegangen und ich habe mich erkundigt, in welcher Hinsicht die entsprechenden Jugendlichen eine Alternative in bestimmten Parteien sehen und was sich ihrer Meinung nach zu ihren Gunsten ändern oder bessern wird. Ich bin hier mit Jugendlichen Wahlprogramme durchgegangen und diese Konfrontation und diese Auseinandersetzung hat zu sehr guten Gesprächen und guten Beratungen geführt. Nach der Europawahl 2024 haben wir das Ergebnis ebenfalls zum Thema vor Ort gemacht und mit den Jugendlichen besprochen. Wenn wir hier allerdings merken, dass wir überhaupt nicht weiterkommen oder zu sehr anecken, haben wir Netzwerke auf die wir zurückgreifen können. Wir sind sehr eng mit dem Netzwerk NRWeltoffen hier im Landkreis verbunden und haben auch Kontakt zur mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus, die bei Bedarf auch in unser Jugendzentrum kommt.“
Wie sieht es aus mit Besuchenden, die in eher autoritären Strukturen aufgewachsen sind? Sind Sexismus und Queerfeindlichkeit Erscheinungen im Arbeitsalltag?
„Definitiv. Sexismus ist hier definitiv ein Thema, welches wir sehr rigoros behandeln. Wir sind da durchaus sehr deutlich zu den entsprechenden Besucher*innen, indem wir sagen: „Entweder du änderst etwas an deiner Einstellung oder du besuchst uns hier nicht mehr!“. Dieses Haus ist ein Ort der Toleranz und der Offenheit. Wir hatten einen Besucher, der ein Problem damit hatte, mit weiblichen Mitarbeiterinnen zu sprechen, dies auch sehr offenkundig gemacht hat und auch relativ harsch zu ihnen war. Im Endeffekt haben wir festgestellt, dass die Ansichten in diesem Fall so verhärtet waren und sich so manifestiert hatten, dass wir mit pädagogischem Mitteln nicht weiter kamen. Wir haben in diesem Fall sehr klar sagen müssen, dass dieses Haus dann nicht das Richtige für den entsprechenden Jugendlichen ist.
Kürzlich hatten wir hier aber auch eine tolle Erfahrung dahingehend. Es gab einen Praktikanten, dem bei der Geburt das weibliche Geschlecht zugewiesen wurde. Die Besucherschaft „beschnupperte“ ihn zu Anfang und man konnte schon etwas Skepsis ihm gegenüber feststellen. Gegen Ende seines Jahrespraktikums holten genau diese Jugendlichen ihn abends zu der Kirmes in der Stadt ab, um gemeinsam mit ihm eine gute Zeit zu haben. Das wäre zu Anfang nicht denkbar gewesen. Diesen Prozess aber hier zu beobachten und zu begleiten, ist ein absolutes, pädagogisches Highlight für mich und uns gewesen und war eine tolle Bestätigung, dass wir hier mit unserem pädagogischen Handeln richtig liegen!“
Wie ist das mit den Jugendlichen untereinander? Kommt es zu Diskriminierungen?
„Wir bekommen hier viel mit und im Jugendslang gibt es immer wieder Beschimpfungen, die wir nicht tolerieren, sofort ansprechen um die Jugendlichen dadurch zum Nachdenken anzuregen. Beispielsweise die Frage „Bist du behindert?“ Tatsächlich hat auch hier das Gespräch darüber in der Vergangenheit zu guten Resultaten geführt.“
Gibt es (erfolgreiche) Projekte oder Aktionen die das Thema Rassismus und Diskriminierung aufgreifen und veranstaltet wurden?
„Aufgrund der politischen Entwicklungen haben wir gemeinsam mit dem evangelischen Jugendzentrum vor Ort die Köpfe zusammengesteckt und uns überlegt, dass wir hier im Landkreis und auch darüber hinaus etwas ins Leben rufen möchten, das ein Zeichen gegen Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit setzt. Dabei herausgekommen ist ein Manifest, welches man auch in den Händen halten kann. Es ist ein in Leder gebundenes Buch mit einem Einleitungstext zur Erklärung, in welchem Menschen sich verewigen können. Wir konnten den Landrat und den Bürgermeister vor Ort relativ schnell als Schirmherren gewinnen und zur Auftaktveranstaltung kamen 300 Besucher*innen. Initiiert worden ist das Ganze von der politischen Kinder- und Jugendarbeit der beiden Jugendzentren und das Schöne daran war, dass Kinder und Jugendliche somit am Prozess partizipieren konnten. Daraus erwachsen ist eine Manifestgruppe, die regelmäßig tagt und immer neue Aktionen plant. Immer mit dem Grundgedanken der politischen Kinder- und Jugendarbeit. Es gab hier bereits Graffiti-Workshops und wir nehmen an den jährlich stattfindenden Aktionswochen gegen Rassismus teil. An der hiesigen Realschule haben wir ein Theaterstück mit einem Ensemble aus Witten aufführen lassen, welches Flucht, Fluchtursachen und Rassismus zum Thema hatte.“
Welche Wünsche und Ziele haben und verfolgen Sie hinsichtlich dieses Themas in Ihrer Arbeit?
„Eine sehr wichtige Frage. Ich wünsche mir, dass Kommunalpolitik losgelöst von anstehenden Wahlen mehr auf Kinder und Jugendliche zugeht. Es wäre wünschenswert auf Jugendveranstaltungen mehr Präsenz zu zeigen und an Aktionen für Jugendliche teilzunehmen. Es gibt Wege mit Kindern und Jugendlichen ins Gespräch zu kommen und vor Ort Wünsche und Bedürfnisse von Heranwachsenden wahr und ernst zu nehmen. Man kann junge Menschen dort abholen, wo sie sich befinden und man muss nicht darauf warten, dass sie auf Politiker*innen zugehen. Sie wollen gesehen und gehört und in erster Linie ernst genommen werden, dass ist das was ich mir hinsichtlich dieses Themas für die Jugendarbeit wünsche.“
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Sophie Westerheide (freie Journalistin).
Link zu unserer InterviewreiheIn den kommenden Wochen widmen wir uns intensiv den Herausforderungen, denen die Kinder- und Jugendhilfe angesichts des wachsenden Rechtsextremismus in Deutschland und Europa – sowohl innerhalb als auch außerhalb der Parlamente – gegenübersteht. Wir beleuchten nicht nur die Probleme, sondern diskutieren auch konkrete Strategien im Umgang mit Rechtsextremis-mus sowie wertvolle Praxiserfahrungen aus dem Feld. Link zur Magazinseite „Kinder- und Jugendhilfe im Kontext Rechtsextremismus“
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