Interviewreihe Kinder- und Jugendhilfe im Kontext Rechtsextremismus

Im Gespräch – Koordinatorin des Studiengangs „Beratung im Kontext Rechtsextremismus“

Im Interview gibt Tina Dürr Einblicke in die Inhalte des Studiengangs und berichtet über den Fachtag „Rechtsextremismus und Demokratiegefährdung – Herausforderungen für Arbeitsfelder der Pädagogik, Beratung und Sozialen Arbeit“ im November 2024. Ein Gespräch über die Wichtigkeit der Aneignung von Wissen, um sich im Arbeitsalltag gut gewappnet zu fühlen.

17.10.2024

Interview 1/5 – Studiengangskoordinatorin und stellvertretende Leitung des Demokratiezentrums Hessen


Im Gespräch

Erzählen Sie doch mal…

„Ich arbeite an der Philipps-Universität in Marburg und koordiniere den Materstudiengang „Beratung im Kontext Rechtsextremismus“. Seit über zehn Jahren bin ich stellvertretende Leitung des Demokratiezentrum Hessen. Das ist die Koordinationsstelle für das Beratungsnetzwerk in Hessen für Demokratie und gegen Rechtsextremismus und wir sind für die Beratung gegen Rechtsextremismus, Rassismus etc. in Hessen zuständig. Das läuft im Wesentlichen über die Mobile Beratung gegen Rechts oder über die Opfer- oder die Distanzierungsberatung. Aus dem Erfahrungsschatz haben wir vor zwei Jahren den Masterstudiengang entwickelt, den ich seither koordiniere.“

Wie sieht Ihre tägliche Arbeit aus?

„Im Demokratiezentrum erreichen uns täglich Anfragen von Ratsuchenden. Die allermeisten Anfragen kommen aus der Schule, sprich von Lehrer*innen, aber auch von Seiten der Schulsozialarbeit. Bereits vor der Pandemie haben die Anfragen aus dem Kita-Bereich zugenommen, hier nehmen wir eine verstärkte Sensibilität für das Thema Rassismus wahr. Träger und Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe fragen uns vermehrt zu Situationen im Arbeitsalltag an, in denen es um Antisemitismus, Rassismus usw. geht. Verstärkt kommen auch Anfragen von Kommunen. Es ist ein breites Feld in dem wir beraten und aktuelle gesellschaftliche Themen schlagen sich immer in unserem Beratungsalltag nieder. Wir sind die Anlaufstelle und verweisen dann z. B. an die Mobile Beratung oder die entsprechende themenspezifische Stelle weiter.
In meiner Funktion als Studiengangskoordinatorin sind die Aufgaben ebenfalls sehr vielfältig. Im Wintersemester 24/25 startet der zweite Durchlauf des Studiengangs. Im Vorfeld gehört z. B. die Beratung der Interessent*innen, die Beschaffung der Literatur, sowie Absprachen und Kommunikation mit den Lehrenden zu meinen Aufgaben. Während des Studiengangs begleite ich die Präsenzveranstaltungen in Marburg, beantworte Fragen und koordiniere Räume etc. Ein Teil der Aufgaben in der Studiengangskoordinierung ist es auch, die finanziellen Mittel für den Studiengang zu akquirieren.“

Wie ist der Masterstudiengang „Beratung im Kontext Rechtsextremismus“ aufgebaut?

„Der Studiengang geht über vier Semester, sprich zwei Jahre. Es gibt drei große Studienbereiche. Der eine beschäftigt sich mit Rechtsextremismus im weitesten Sinne, also Rechtsextremismustheorien und verschiedene Ideologieelemente, z. B. Antisemitismus, Rassismus, Antifeminismus. Es geht hier hauptsächlich um Erklärungsansätze auf psychologischer und soziologisch-gesellschaftlicher Ebene, warum sich Menschen rechtsextrem positionieren oder radikalisieren. Im späteren Verlauf des Studiums geht es um die Anwendung des gelernten Wissens in der Praxis. Der zweite Studienbereich ist die Beratung. Der Fokus liegt hier auf der systemischen Beratung, dem Kennenlernen und Anwenden der Methoden in der eigenen Berufspraxis z. B. der
Sozialen Arbeit. Die Studierenden erlernen verschiedene Analyseelemente, z. B. Netzwerkanalyse, Sozialraumanalyse und das Anwenden dergleichen. Der dritte Bereich ist die Beschäftigung mit der eigenen Haltung, bzw. die Reflektion des eigenen Menschenbildes. Am Ende des Studiums steht dann die Masterarbeit.“

Welche Inhalte erwarten Studierende im Studiengang „Beratung im Kontext Rechtsextremismus“? Und welche davon sind für Fachkräfte der Kinder & Jugendhilfe interessant?

„Im Studienbereich, der sich mit der systemischen Beratung beschäftigt, gibt es einige Ansatzpunkte und Reflektionsflächen für die eigene Arbeit, da es hier viele praktische Themenbereiche gibt. Sowohl in der Kinder- und Jugendhilfe als auch in der Beratungstätigkeit werden Fachkräfte immer wieder mit der Frage nach ihrer Neutralität konfrontiert. Das Kontroversitätsgebot wird von der AfD immer wieder als vermeintliches Neutralitätsgebot deklariert und missinterpretiert. Fakt ist, dass weder die politische Bildung noch die Soziale Arbeit neutral in dem Sinne ist, sondern menschenrechtsorientiert. Im Studiengang findet eine intensive Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex statt, um sich in der eigenen Arbeit theoretisch fundiert positionieren und agieren zu können.“

Welche Strategien und Fähigkeiten im Umgang mit Rechtsextremismus erlernen Student*innen?

„Im Endeffekt ist es ein wissenschaftliches Studium und wir geben den Studierenden die Möglichkeit, das Wissen vor dem Hintergrund der eigenen praktischen Arbeit zu betrachten und zu vertiefen. Im systemischen Ansatz lernen die Studierenden z. B., mit der zu beratenden Person Ziele festzulegen oder auch, wie mit Methoden der systemischen Beratung Situationen reflektiert und Handlungsmöglichkeiten erweitert werden können. Das Erlernen der Methode der Sozialraumanalyse lehrt den Studierenden, zu schauen, welche Akteur*innen es in dem Sozialraum der Klient*innen gibt und welche Milieus z. B. im persönlichen Arbeitsbereich anzutreffen sind, um darauf basierend den richtigen Beratungsansatz finden zu können. Des Weiteren werden auch Elemente der Recherche vermittelt.“

Sind die Inhalte des Studiengangs hinsichtlich der aktuellen politischen Dynamik stets „up to date“?

„In der Tat. Aktuelle Themen werden immer in der Lehre behandelt. Vor zwei Jahren wurde beispielsweise das Thema Antisemitismus auch am Beispiel der Documenta behandelt, da es aktuell war. Für das kommende Semester wird die Literatur an aktuelle Entwicklungen angepasst.“

Die erste Kohorte des Studiengangs schließt bald ab, wie sind die Erfahrungen? Gibt es Erkenntnisse? Änderungen? Weiterentwicklungen des Lehrplans?

„Der Studiengang wurde durch die Universität selber evaluiert und auch ich habe immer wieder das Gespräch gesucht, nachgefragt und mir die Rückmeldung der Studierenden eingeholt. Die Rückmeldungen sind durchweg gut, die Studierenden sind zufrieden mit den Dozent*innen, mit der Literatur und den Inhalten. Eine Rückmeldung die häufig kam, war, dass das Studium gut studierbar ist. Durch die berufsbegleitende Form des Studiums wissen wir um die Mehrfachbelastung der Studierenden und somit ist es z. B. möglich, Prüfungen in ein Folgesemester zu schieben. Die Nachfragen für den Start des neuen Semesters zeigen uns, dass unser Plan aufgeht. Wir legten den Studiengang auf, um die Mitarbeitenden der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus zu erreichen und haben festgestellt, dass allerdings die meisten Bewerber*innen aus der Kinder- und Jugendhilfe oder z. B. der politischen Bildung kommen. An den Zulassungsvoraussetzungen hat das nichts geändert, es führte uns aber vor Augen, dass wir mir dem Studiengang eine viel größere Zielgruppe erreichen.“

Gibt es weitere Fortbildungen oder Fachtage für Fachkräfte der Jugendarbeit hinsichtlich des Themas?

„Am 28. November 2024 veranstalten wir den Fachtag „Rechtsextremismus und Demokratiegefährdung – Herausforderungen für Arbeitsfelder der Pädagogik, Beratung und Sozialen Arbeit“. Wir möchten hier Menschen aus der Praxis und der Wissenschaft zusammenbringen und wissenschaftlich beleuchten, wo Bedarfe für eine Weiterqualifizierung bestehen, um sich mit den aktuellen Geschehnissen im Feld auseinandersetzen zu können. Wir greifen hier das Thema der Lehrkräfteweiterbildung und die Weiterbildung der Fachkräfte aus der Kinder- und Jugendhilfe auf, denn dort sehen wir einen großen Bedarf, sich stärker mit demokratiegefährdenden, rechtsextremen, rechtspopulistischen Phänomenen zu beschäftigen.“

Wo sehen Sie kritische Angriffspunkte für rechtsextreme Einflussnahme auf die Arbeit der Kinder- und Jugendhilfe?

„Ich denke, dass rechtsextreme Akteur*innen immer wieder versuchen werden, Mitarbeitende in dem Bereich der sozialen Arbeit zu irritieren und ein Angriffspunkt ist auf jeden Fall die Verunsicherung, die z. B. die AfD in bestimmte Fachkreise hineinbringt, indem sie von „Neutralität“ spricht. Dadurch werden pädagogisch arbeitende Menschen massiv verunsichert, z.B. durch das Portal „Neutrale Schule“ der AfD, auf dem Lehrkräfte denunziert werden sollten. Fachkräfte fragen sich immer häufiger „Was kann ich? Was darf ich? Und wo mache ich mich angreifbar?“. Und das in Zeiten, wo es so wichtig ist, jungen Menschen eine starke, menschenrechtsbasierte Orientierung zu bieten. Eine Gefahr, die ich hinsichtlich neuer Regierungsbildungen sehe, ist, dass Versuche gestartet werden, Projekte und Vereine, die sich explizit für Demokratiebildung und gegen Rechtsextremismus einsetzen, nicht mehr in dem Maße gefördert werden, wie es momentan der Fall ist. Ich sehe die Gefahr, dass Gelder wegfallen, die nötig sind. Projekte müssen sich immer häufiger und stärker rechtfertigen, ausgerechnet in Zeiten, in denen unsere Arbeit dringend notwendig ist. Dies sind Kraftanstrengungen die Energie rauben, die eigentlich für die tägliche Arbeit gebraucht wird.“

Gibt es Versuche der Einflussnahme rechter Akteur*innen auf Ihre Arbeit oder den Studiengang?

„Es gibt immer mal wieder Versuche der Einflussnahme. In diesem Sommer hatten wir mehrere Anfragen sowohl zum Studiengang, zum Beratungsnetzwerk in Hessen, als auch zum Landesprogramm „Hessen aktiv gegen Extremismus“. Diese Anfragen sind absolut zulässig, da unsere Förderung transparent nachvollziehbar ist. Dennoch wissen wir, dass häufig nicht das öffentliche Interesse, sondern der Versuch unsere Arbeit zu diffamieren und als überflüssig darzustellen, Ziel der Anfragen ist. Als ich 2022 den Studiengang im Hessischen Rundfunk vorstellte, wurde uns vorgehalten, wir würden zukünftige „Linksextremisten“ ausbilden, es sei ein „Antifa-Studiengang“ auf Staatskosten. Durch diesen kleinen Shitstorm haben die einschlägigen Kanäle dem Studiengang jedoch zu einer gewissen Aufmerksamkeit verholfen – auch bei unserer Zielgruppe, die ja auch rechtsextreme Medien studiert.“

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Sophie Westerheide (freie Journalistin).

Link zu unserer fünfteiligen Interviewreihe

In den kommenden Wochen widmen wir uns intensiv den Herausforderungen, denen die Kinder- und Jugendhilfe angesichts des wachsenden Rechtsextremismus in Deutschland und Europa – sowohl innerhalb als auch außerhalb der Parlamente – gegenübersteht. Wir beleuchten nicht nur die Probleme, sondern diskutieren auch konkrete Strategien im Umgang mit Rechtsextremis-mus sowie wertvolle Praxiserfahrungen aus dem Feld.

Link zur Magazinseite „Kinder- und Jugendhilfe im Kontext Rechtsextremismus“

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Redaktion: Sofia Sandmann

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