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Freiwilligenarbeit in Europa – aktuelle Debatten und Beispiele guter Praxis

Freiwilligentätigkeiten bieten jungen Menschen eine einzigartige Gelegenheit, nicht nur ihre persönlichen und beruflichen Fähigkeiten zu entwickeln, sondern auch kulturelle Horizonte zu erweitern. Freiwilligendienste spielen eine entscheidende Rolle bei der Förderung des bürgerschaftlichen Engagements von Jugendlichen in Europa. Verschiedene Länder haben ihre eigenen Programme entwickelt, um jungen Menschen die Möglichkeit zu geben, sich für das Gemeinwohl einzusetzen.

29.01.2024

Die Freiwilligendienste stehen aktuell im Mittelpunkt lebhafter Debatten und Diskussionen, die eine Vielzahl von Themen umfassen. In den letzten Jahren hat sich eine breite Palette von Fragestellungen entwickelt. Die Diskussionen spiegeln die sich wandelnden Bedürfnisse und Erwartungen der Freiwilligen, Organisationen und Gesellschaft wider. Diese Debatte erforscht auch die Auswirkungen von Ereignissen wie globalen Krisen, Pandemien und gesellschaftlichen Veränderungen auf das freiwillige Engagement.

In diesem Artikel werfen wir einen Blick auf die aktuell relevanten Debatten in den YouthWiki-Ländern in Bezug auf Ehrenamt und Freiwilligentätigkeit. Beispiele guter Praxis bzw. Pilotprojekte werden herausgegriffen und näher erläutert. Dieser Artikel erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern greift verschiedene Debatten auf und stellt einzigartige Lösungsansätze aus verschiedenen Ländern dar.  

Veränderungen durch Krisen

Gegenstand von Debatten über alle Länder hinweg sind auch die Veränderungen der Freiwilligenarbeit durch Krisen. Als Krisen werden hier vor allem die Covid19-Pandemie sowie der russische Angriffskrieg auf die Ukraine genannt. Diese durch Krisen verursachte Veränderung im Bereich der Freiwilligenarbeit wird u.a. in Österreich, Tschechien, Frankreich, Deutschland, Litauen und Polen thematisiert.

In einigen Ländern wird von einem regelrechten Boom der Freiwilligenarbeit gesprochen, z.B. Tschechien, Österreich und Polen. In Tschechien erfreute sich die Freiwilligenarbeit gerade unter jungen Menschen nach der  Covid19-Pandemie und dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine einer großen Nachfrage. Viele Jugendorganisationen und NGOs bereiteten dort eine große Auswahl an Aktivitäten und Möglichkeiten vor, wie junge Menschen helfen konnten (Youth Wiki Tschechien, Kapitel 2). Die Sorge vor einem starken Rückgang von ehrenamtlichem Engagement durch eine Mitgefühlsmüdigkeit (compassions fatgiue) konnte laut dem Migrationsexperten Prof. Maciej Duszczyk in Polen nicht bestätigt werden. Die Unterstützung für die Akzeptanz von Geflüchteten verringerte sich zwar, aber weniger drastisch als von Expert*innen erwartet. Expert*innen gingen zuvor davon aus, dass die Mitgefühlsmüdigkeit schneller einsetzten würde (Gazeta Wyborcza, 2023; zit. n. YouthWiki Polen, Kapitel 2.10). Eine weitere durch die Krisen verursachte Änderung ist  die in mehreren Ländern gestiegene Vielfalt von Angeboten in der Freiwilligenarbeit, wie folgende Bespiele zeigen:

  • neue Plattformen zur Kontaktverknüpfung zwischen Freiwilligen und Organisationen (Österreich),
  • neue ehrenamtliche Aufgaben zur Unterstützung ukrainischer Geflüchteter auf der Plattform des Bürgerreservats (Réserve civique) (Frankreich)
  • Grassroots-Aktionen wie die Facebook-Gruppe „Sichtbare Hand“ (Widzialna Ręka), um Menschen in Quarantäne oder Isolation Hilfe anzubieten oder das Netzwerk „The Society of Help“ (Wspólnoty pomocy) (Polen)
  • die Plattform „Freiwillige helfen jetzt“ (Deutschland)

Qualifizierung von Freiwilligenarbeit

Für einen Großteil der Länder ist die Qualifizierung von Freiwilligenarbeit bzw. die fehlende Qualifizierung ein wichtiger Punkt und Gegenstand aktueller Debatten, die u.a. in Österreich, Bosnien, Kroatien, Tschechien, Deutschland, Estland, Finnland, Litauen, Serbien, Slowenien und Spanien geführt werden. In vielen YouthWiki-Ländern ist die Anerkennung der im Ehrenamt oder Freiwilligendienst erworbenen Kompetenzen z.B. durch die Zertifikate Youthpass, Europass oder auch länderspezifische Anerkennungsinstrumente oder -zertifikate möglich.

Nur in wenigen Ländern besteht auch die Option der Anerkennung dieser Kompetenzen an Universitäten im Rahmen des European Credit Transfer and Accumulation System (ECTS). Dabei gibt es allerdings oft keine nationalen oder einheitlichen Systeme zur Anerkennung – sowohl zwischen Universitäten als auch zwischen Komponenten innerhalb einer bestimmten Universität. Die Akkreditierung der Kompetenzen ist meist nur an bestimmen Universitäten möglich. Es bleibt ihnen überlassen, die ehrenamtliche Arbeit der Studierenden im Sinne der Vergabe von ECTS unabhängig zu bewerten. Die Anerkennung ist oft von bestimmen Universitätsverfahren/Hochschulverfahren abhängig (siehe Kroatien, Serbien, Portugal an der Universidade Nova oder FCUL, Spanien). Oft ist dies auch nur auf Antrag möglich (z.B. in Deutschland an der Universität Bonn, der Europa-Universität Viadrina und der Hochschule Mittweida).

In Ungarn haben Studierende die Möglichkeit, bis zu fünf Prozent der für den Erwerb eines Diploms erforderlichen Gesamtpunktzahl durch die Teilnahme an Wahlveranstaltungen oder durch die Teilnahme an ehrenamtlichen Tätigkeiten als Ersatz für diese Lehrveranstaltungen zu erwerben. Durch das Lehr- Lernkonzept Service Learning (Lernen durch Engagment) haben Studierende in Österreich die Möglichkeit, Studium und Freiwilligenarbeit zu verbinden und dieses Engagement durch ECTS-Punkte anerkennen zu lassen. Der Begriff Service Learning besteht aus den Begriffen „Community Service“ und „Learning“ – also gesellschaftliches Engagement und Lernen. Service Learning ist kein Zusaztangebot, das junge Menschen in ihrer Freizeit absolvieren. Sie können „Gutes tun und (idealerweise) damit ECTS-Punkte sammeln“. Im Unterschied zu einem Praktikum ist dies nicht verpflichtend, der Zeitaufwand geringer und der Bereich frei wählbar (Füruns - Zentrum für Zivilgesellschaft, o.J.). In Frankreich mussten seit Beginn des Studienjahres 2017/2018 alle Hochschulen ein System zur Anerkennung der durch ehrenamtliches Engagement in einem Verein erworbenen Kompetenzen und Fähigkeiten einrichten. Solche Systeme gibt es bereits an 70 Prozent der Universitäten, insbesondere durch die Vergabe von ECTS oder Bonuspunkten (YouthWiki Frankreich, Kapitel 2). In Finnland folgt die Einrichtung des Validierungsmodells nach ECTS. Ein Praxisbeispiel aus Finnland zeigt, wie Kompetenzen aus Freiwilligenarbeit und Hobbys mit Universitäten abgeglichen und dort akkreditiert werden können:

Fallbeispiel Finnland: „Studifizierung“ von außeruniversitär erworbenen Kompetenzen

In Finnland wird bei der Lehrplanentwicklung das Konzept der „Studifizierung“ („studification“) angewandt. „Studifizierung“ ist ein neuer Weg, wie in Praktika oder der Arbeit erworbene Kompetenzen mit Leistungspunkten im Studium angerechnet werden können (Martin, 2022, S. 12). „Studifizierung“ ist damit eine Methode (oder ein Prozess), um informelles Lernen, welches Studierende bei ihren außeruniversitären Aktivitäten, ihrer Arbeit oder zivilgesellschaftlichen Tätigkeiten erwerben, zu formalisieren. Die erworbenen Lernergebnisse müssen mit dem Lehrplan oder dem Abschluss des*der Studierenden übereinstimmen (Tiili, J., Tapani, A. & Ruokolainen, J., 2021, S. 3).

Wie die in der Freizeit oder bei der Freiwilligenarbeit erworbenen Kompetenzen „studifiziert“ werden können, zeigt das vom Kompetenzzentrum Kentauri entwickelte Werkzeug „Digitale Kompetenzscheibe“. Das Tool kann die erworbenen Kompetenzen in Credits konvertieren und schlägt vor, wie das Gelernte im Studium genutzt werden kann. Die Anerkennung des Gelernten hilft, unnötige Überschneidungen zu vermeiden.

Mithilfe einer Suchmaschine, die auf künstlicher Intelligenz basiert, können Kompetenzen verglichen werden, um herauszufinden, wie bei Hobbys oder im Ehrenamt erworbene Fähigkeiten im Studium genutzt werden können (Competence Disk, o.J.). So kann beispielsweise die Grundausbildung für Pfadfinder*innen- und Pfadfinderleiter*innen als Teil eines Bachelor-Studiengangs für Geisteswissenschaften mit Schwerpunkt Gemeindebildung an der Häme University of Applied Sciences (HAMK) und an der Humak University of Applied Sciences anerkannt werden (YouthWiki Finnland, Kapitel 2).

Abbau von Bürokratie

Der Abbau von Bürokratie spielt für einige Länder auch eine große Rolle, wie beispielsweise in Belgien (Flämischer Teil), Dänemark und Norwegen. Hierbei ist eine Erleichterung sowohl für die Freiwilligen als auch für die Organisationen von Bedeutung. Mithilfe des Abbaus von Bürokratie soll das Freiwillige Engagement gestärkt werden.

Fallbeispiel Belgien: „Regulitis“

Das belgische Ministerium für Kultur, Jugend und Medien hat eine Studie zur „Regulitis“ im Zusammenhang mit dem ehrenamtlichen Engagement junger Menschen in Auftrag gegeben. Untrennbar mit dem Begriff „Regulitis“ verbunden, sind die Adjektive nutzlos, lästig, komplex und langweilig. Die Befragung ergab eine sehr breite Bedeutung für den Begriff „Regulitis“. Im engeren Sinne handelt es sich um Regelungen, das Beantragen von Subventionen, das Einholen von Genehmigungen, was oft mit Kontakt zu Regierungsbehörden verbunden wird. Im weiteren Sinne bezieht sich „Regulitis“ auch auf organisationsinterne Angelegenheiten wie die Erstellung eines Putzplans.

Innerhalb dieses Forschungsprojekts lag der Fokus nicht nur auf den Erfahrungen im Zusammenhang mit der „Regulitis" unter jungen Freiwilligen und den eventuellen Barrieren, die sich für die Übernahme ehrenamtlicher Verpflichtungen ergeben können, sondern auch darauf, was aus lokalen bewährten Praktiken gelernt werden kann. In der Studie werden mehrere Wege aufgezeigt, wie der „Regulitis“ begegnet werden kann.

Die Verbesserungsvorschläge richten sich sowohl an Jugendorganisationen als auch an Behören. Eine Möglichkeit Jugendliche zu unterstützen, ist die Formulierung eines separaten und vereinfachten Subventionsreglements sowie die Begleitung der Jugendlichen in informellen Momenten (in Präsenz), um Subventionsanträge rechtzeitig und korrekt ausfüllen zu können. Der Fokus liegt auf Vereinfachung und Digitalisierung. Ein wichtiger Grundpfeiler dabei ist Vertrauen: Vertrauen zwischen Kindern, Jugendlichen und Betreuer*innen sowie Eltern, Vertrauen zwischen Jugendorganisationen untereinander, zwischen Behörden und Jugendorganisationen. Dieses Vertrauen sollte gestärkt werden durch Transparenz in der Kommunikation und durch den Dialog zwischen Regierung und Freiwilligen in Jugendorganisationen (Bert Hauspie, Dr. Nele Cox, Dr. Hans Vermeersch, 2023). Jugendorganisationen, die eine gute Beziehung zu ihrer Stadt oder Gemeinde haben, leiden weniger unter dem Gefühl von „Regulitis" (De Pauw et al., 2014, zit. nach Bert Hauspie, Dr. Nele Cox, Dr. Hans Vermeersch, 2023).

Weiterhin können Regierungsstellen persönliche Unterstützung anbieten. Die mögliche Zeitersparnis für Beamt*innen aufgrund einer schnelleren Bearbeitung eines vereinfachten Subventionsantrags sollte idealerweise genutzt werden, um zusätzliche Unterstützung zu leisten. Außerdem sollten Jugendliche und Jugendorganisationen vollständig in einen partizipativen Prozess einbezogen werden, um sicherzustellen, dass die Überarbeitung, Vereinfachung und Digitalisierung der Verfahren auch von ihnen getragen werden (Bert Hauspie, Dr. Nele Cox, Dr. Hans Vermeersch, 2023).

Fazit

Der Artikel beleuchtet die aktuellen Diskussionen zur Freiwilligenarbeit in Europa. Besonders interessant sind die Auswirkungen von Krisen, wobei einige Länder einen erheblichen Anstieg der Freiwilligenarbeit verzeichnen. Hervorgehoben wird auch die Debatte über die Qualifizierung von Freiwilligenarbeit, wobei innovative Ansätze wie die „Studifizierung" oder die Akkreditierung an Universitäten aufgezeigt werden.

Der Artikel versteht sich als Anregung für Diskussion sowie als Pool zur Ideenfindung von Beispielen guter Praxis aus anderen Ländern. Falls Sie noch Anregungen für aktuelle Debatten oder Beispiele guter Praxis haben, könnten Sie uns diese gerne zukommen lassen.


Kontakt unter: kaiser(at)ijab.de

 

Hinweis: Die Inhalte stammen aus einer Recherche im YouthWiki in mehreren Ländern (Kapitel 2: Freiwilliges Engagement).

Literaturverzeichnis:

Competence Disk (o. J.). Home. Abgerufen am 29.01.2024. Verfügbar unter: https://www.osaamiskiekko.fi/en/.

Füruns – Zentrum für Zivilgesellschaft (o. J.). Service Learning: Dein Engagement in Schule oder Studium. Abgerufen am 29.01.2024. Verfügbar unter: https://www.freiwillig-engagiert.at/wissen/detail/service-learning

Hauspie, B., Cox N. & Vermeersch H. (2023). De aanpak van ‘regulitis’ bij vrijwillig engagement van jongeren, wat kan het lokale (jeugd)beleid betekenen? Departement Cultuur, Jeugd en Media: Brüssel.

Martin, M. (2023). Flexible Lernwege in der Hochschulbildung. Bewährte Praktiken anhand internationaler Beispiele. Hochschulrektorenkonferenz.  https://www.hrk-modus.de/media/redaktion/Downloads/Publikationen/MODUS/Impuls_Martin_WEB.pdf.

Tiili, J., Tapani, A. & Ruokolainen, J. (2021). Studification – procedures to formalize outside campus informal learning. In H.-U. Heiß, H.-M. Järvinen, A. Mayer & A. Schulz  (Hrsg.), Blended Learning in Engineering Education: challenging, enlightening – and lasting? Proceedings of the SEFI 49th Annual Conference (S. 1348-1355). Technische Universität Berlin.

YouthWiki (o. J.). Kapitel 2: Freiwilliges Engagement (alle Länder). Abgerufen am 25.01.2024. Verfügbar unter: https://jugendhilfeportal.de/magazine/youth-wiki/freiwilliges-engagement.

 

 

Redaktion: Leonie Kaiser

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