Chancen-Check

Deutscher Kinder- und Jugendhilfetag (DJHT) fordert „Urlaub für alle Familien“

Anlässlich des 17. Deutschen Kinder- und Jugendhilfetags (DJHT) legt die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ den Deutschen Kinder- und Jugend(hilfe)MONITOR 2021 vor. Für diesen „Chancen-Check – Zukunft trotz(t) Corona“ hat sie hochaktuelle Daten zum Aufwachsen in Deutschland ausgewertet und zusammengeführt.

12.05.2021

Die Corona-Pandemie hat die soziale Schieflage bei Kindern, Jugendlichen und Familien in Deutschland drastisch verschlimmert. Sie hat zusätzliche Löcher ins soziale Netz gerissen. Wer in Armut oder mit einer Behinderung aufwächst, den treffen die Folgen der Pandemie besonders hart – so das Fazit einer Expertengruppe der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ. Sie hat in einem aktuellen „Chancen-Check“ für die „Generation U27“ die Chancen und die Risiken, mit denen junge Menschen in der Pandemie aufwachsen, untersucht und dazu den „Deutschen Kinder- und Jugend(hilfe)Monitor 2021“ vorgelegt.

Dessen Ergebnisse stellte die AGJ am Dienstag (11.05.2021) auf einer Pressekonferenz in Berlin vor. Anlass ist der 17. Deutsche Kinder- und Jugendhilfetag (DJHT), den die AGJ in der kommenden Woche (vom 18. bis 20. Mai) als bundesweit größten Branchen-Gipfel der Kinder- und Jugendhilfe von Essen aus organisiert – zum ersten Mal digital. Die Folgen der Pandemie für Kinder und Jugendliche werden ein Schwerpunkt des DJHT sein. Eine Forderung des DJHT: „Post-Corona-Sonderurlaub“ für Kinder, Jugendliche und deren Eltern.

DJHT-Monitor macht die Dimension von Armut deutlich

Jedes fünfte Kind wächst in Armut auf. Mehr als 1,77 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren leben in einer Hartz-IV-Familie. „Das Fatale ist, dass die soziale Karriereleiter unten keine Sprossen hat. Wer einmal in Armut – von Hartz IV – lebt, der wird das mit einer Wahrscheinlichkeit von 70 Prozent auch in den nächsten fünf Jahren noch tun“, sagte die Vorsitzende der AGJ und Leiterin der AGJ-Expertengruppe, Prof. Dr. Karin Böllert. Deutschland habe „ein massives Problem, Kindern und Jugendlichen gleiche Startchancen zu bieten“.

Dies habe sich in den vergangenen Monaten noch verschlimmert: „Die Corona-Pandemie hat Kinder und Jugendliche aus Elternhäusern mit niedrigen Einkommen deutlich stärker getroffen. Lockdown bedeutet für sie: Leben auf engem Raum, kein digitales Homeschooling, keine Eltern, die im Homeoffice das Lernen intensiv begleiten können“, so Böllert.

Im Fokus der DJHT-Expert/-innen

Die mehr als 320.000 Unter-25-Jährigen, die schwerbehindert sind werden hervorgehoben. Sie erlebten eine „Härtefall-Situation der Corona-Pandemie“. Ein Großteil von ihnen sei in den vergangenen Monaten von der Außenwelt quasi abgeschnitten. „Man kann auch sagen: weggeschlossen – Familien und Einrichtungen waren im Schutz-Modus. Und das ganz häufig ohne behindertengerechte IT-Technik. Damit waren oft nicht einmal digitale Kontakte mit anderen möglich“, kritisierte Prof. Karin Böllert.

Auch viele Behinderteneinrichtungen und Therapieangebote seien geschlossen oder stark eingeschränkt worden. „Dann waren die Eltern mit ihren behinderten Kindern zu Hause – oftmals isoliert, um das Risiko einer Corona-Infektion zu vermeiden“, sagte DJHT-Chefin Böllert. Sie kritisiert in diesem Zusammenhang eine „falsche Impfpriorität“: „Es wird höchste Zeit, dass wir Eltern von behinderten Kindern ein schnelles Impfangebot machen.“

Die Pandemie habe ihre Spuren aber auch in der Mitte der Gesellschaft hinterlassen

Junge Menschen seien verunsichert – 45 Prozent haben Angst vor der Zukunft, so die AGJ. Ein Drittel aller Familien beklagten mittlerweile Geldsorgen – insbesondere Alleinerziehende. Zudem mache es jungen Menschen enorm zu schaffen, quasi „zwangskaserniert“ zu sein: „Keine Klubs, keine Sporthallen, keine Übungsräume für Bandproben… – Die Corona-Pandemie hat gerade Jugendlichen die Orte weggenommen, an denen sie ihr Leben sonst selbst in die Hand genommen haben“, so Karin Böllert. Als Hochschullehrerin am Institut für Erziehungswissenschaft der Westfälischen Friedrich-Wilhelms-Universität Münster warnte sie: „Digital ist nicht sozial.“ Mehr Handy, mehr Tablet, mehr Laptop und PC: „Es gibt immer mehr ‚kalte Kontakte‘. Aber die warmen Begegnungen fehlen“. Ein Drittel der Jugendlichen fühle sich einsam.

Die AGJ spricht sich dafür aus, Kindern, Jugendlichen und Eltern den Ausstieg aus dem Corona-Modus zu erleichtern, sobald dies mit Blick auf das Infektionsgeschehen möglich sei. „Wir brauchen ein ‚Durchatmen für alle‘, ein ‚Kräftetanken für alle‘. Konkret: einen Post-Corona-Sonderurlaub“, so Karin Böllert. Die DJHT-Chefin forderte Urlaubstage und Urlaubsgutscheine als „Dankeschön für das, was Familien in der Pandemie geleistet haben“. Es sei an der Zeit, „Familien für das Durchstehen der Corona-Pandemie jetzt auch ‚seelisch zu impfen‘“. Es geht um zusätzliche Urlaubstage für alle Familien und Urlaubsgutscheine für Familien mit niedrigem Einkommen – für Familien- und Jugendbildungsstätten in Deutschland. Jugendliche sollen dabei auch Gelegenheit bekommen, in Jugendfreizeiten eine „Erwachsenen-freie Zone“ zu erleben. Zur Finanzierung fordert die AGJ einen staatlichen Sonderfonds.

Aufwachsen in Deutschland und Europa

Für den „Chancen-Check – Zukunft trotz(t) Corona“ hat die AGJ hochaktuelle Daten zum Aufwachsen in Deutschland ausgewertet und zusammengeführt. Grundlagen bilden die jüngsten Berichte der Sozial- und Bildungsberichterstattung, Studien zu den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf junge Menschen sowie eine Sonderauswertung des Projektes SozArbTRANSFER (Prof. Dr. Meyer/Dr. Elke Alsago). Die fachpolitische Basis des Kinder- und Jugend(hilfe)MONITORs ist das kinder- und jugendpolitische Leitpapier zum 17. DJHT.

Im Monitor werden zunächst Zahlen zum Aufwachsen in Deutschland in einem Überblick genannt, gefolgt von Orten, Chancen und Risiken des Aufwachsens. Benannt und im Papier ausgeführt werden dabei folgende Punkte:

  1. Startchancen bleiben ungleich verteilt!
  2. Kitas: viel mehr als nur ein Betreuungsangebot!
  3. Schule schafft Zukunft nur mit vielen gemeinsam!
  4. Jungsein - Verlängerte Gegenwart oder Sprung ins kalte Wasser!
  5. Ausbildung und Berufsleben: Gewollt, aber nicht immer gekonnt!
  6. Junge Menschen mit Behinderungen sind Viele!

Außerdem nimmt der Monitor unter dem Punkt „Zukunft ist europäisch“ die europäische Dimension in den Blick und beschreibt die Top-Themen junger Menschen in der EU sowie den Wert offener Grenzen. Auch Digitalität, Vielfalt und die Einstellungen junger Menschen werden thematisiert. Unter Punkt 4 „Junge Menschen sind politisch!“ geht es schließlich um Mitbestimmung und Engagement, insbesondere bezogen auf die Klimapolitik.

Kinder- und Jugendhilfe ist wertvoll

Wie wertvoll Kinder- und Jugendhilfe für das Aufwachsen junger Menschen ist, wird in einem eigenen Abschnitt „Die Kinder- und Jugendhilfe macht ZUkunft - Jetzt!“ beschreiben. Die Stichpunkte sind im Monitor ausformuliert, die Überschriften lauten:

  • Mit der Kinder- und Jugendhilfe groß werden!
  • Kinder- und Jugendhilfe ist wertvoll!
  • Kinder- und Jugendhilfe - ein wachsender Arbeitsmarkt mit Zukunft!
  • Kinder- und Jugendhilfe stärker gefragt denn je!

Forderungen des Kinder- und Jugend(hilfe)Monitor

Abschließend benennt der Kinder- und Jugend(hilfe)Monitor 2021 fünf Forderungen für eine kind- und jugendgerechte Gesellschaft. Diese lauten wir folgt:

1. Zukunft first – während und nach Corona

  • Öffnung aller Angebote der Kinder- und Jugendhilfe auf der Basis einer umfassenden Test- und Impfstrategie und unter Einhaltung der Hygienebedingungen! Jugendämter, Kitas, Wohneinrichtungen, aber auch die ambulanten Angebote und die Jugendarbeit sind offen und zugänglich zu halten. Sie sind unbedingt als Kontakt- und Anlaufstellen für junge Menschen und Familien erforderlich.
  • Es braucht nicht nur 1 Milliarde für den Abbau erstmals nur unterstellter Leistungsdefizite, sondern auch Gelegenheiten für ein Wiedererleben der sozialen und psychischen „Freiheiten“. Dafür braucht es z.B. ein Ferienangebot für alle jungen Menschen und ihre Familien im Herbst, damit sich alle Familien von den Corona-Strapazen erholen und junge Menschen ihre Freizeit wieder mit Gleichaltrigen erleben können.
  • Kein Schuldenabbau durch Kürzungen in der Kinder- und Jugendhilfe! Die jungen Generationen werden die coronabedingten Schulden abbezahlen müssen. Wer in dieser Situation an der sozialen Infrastruktur des Aufwachsens spart, gefährdet die eigene Zukunft und zerstört den sozialen Zusammenhalt.
  • Familien mit Kindern im Transferleistungsbezug müssen finanziell besser unterstützt werden, insbesondere auch um die finanziellen Belastungen durch die Pandemie besser abzufangen.

2. Jungen Menschen gehört ein Platz am Tisch und an der Wahlurne

  • Kinder- und Jugendpolitik braucht Krisenfestigkeit. Dabei geht es um mehr als eine formalisierte Anhörung junger Menschen. Ihnen muss schon zu Beginn der Krise zugehört werden und sie sind an allen sie betreffenden Entscheidungen wirksam zu beteiligen.
  • Mehr Mitbestimmungsrechte für Kinder gehören ins Grundgesetz.
  • Jugendpolitik ist in Deutschland und Europa als Ressort- und Querschnittspolitik zu verankern. Sie muss zum Gestaltungsmerkmal eines gemeinsamen, solidarischen und sozialen Europas werden und ist auch z. B. bei Stadtentwicklungsplänen oder Klimakonzepten zu berücksichtigen.
  • Das Recht junger Menschen auf politische Bildung muss konkret verankert werden z. B. in Landesverfassungen und indem das Wahlalter auf 16 Jahre abgesenkt wird – auch für Europawahlen.
  • Es braucht einen Rechtsanspruch auf Freiwilligendienste, damit sich alle, die wollen, auch tatsächlich engagieren können.

3. Qualitätsstandards in Kita und Ganztag festlegen und umsetzen

  • Qualitätsstandards müssen endlich bundeseinheitlich geregelt werden, damit der Flickenteppich der Angebote ein Ende hat. Die Fachkräfteoffensive und eine Aufwertung sozialer Berufe u.a. durch adäquate Entlohnung ist unverzichtbar. Die durchgängig systemrelevanten Tätigkeiten der Kinder- und Jugendhilfe sind ohne diese Menschen schlicht nicht möglich.
  • Aufnahmekriterien in den Kitas sollten nicht vorrangig die Berufstätigkeit von Müttern berücksichtigen. Jedem Kind soll der Kita-Besuch ermöglicht werden. Dafür müssen die Platzkapazitäten weiter ausgebaut werden.
  • Der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter muss mit der Qualität der Kinder- und Jugendhilfe verbunden werden Er ist als multiprofessionelles pädagogisches Konzept anzulegen, das über Hausaufgabenbetreuung hinausgeht und Raum und Flexibilität für außerunterrichtliche Aktivitäten bietet.
  • Der Ganztag muss einen Beitrag zur Umsetzung der Kinderrechte leisten, d. h. es braucht eine nachhaltige Beteiligung von Kindern bei der Planung und der lokalen Umsetzung und umfassende Schutzkonzepte. Eine gleichberechtigte Teilhabe von Kindern mit Förderbedarf und mit körperlicher oder geistiger Behinderung muss selbstverständlich sein.

4. Diskriminierung beenden, Inklusion verwirklichen

  • Die Kinder- und Jugendhilfe ist Ort für alle. Sie tritt für eine offene Gesellschaft ein und fördert die zivilgesellschaftliche, an den Grund- und Menschenrechten ausgerichtete, Debatte. Sie lässt sich nicht einem missbräuchlich und fälschlich behaupteten Neutralitätsgebot unterwerfen oder dadurch einschüchtern.
  • Das neue Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes ist Ausgangspunkt für eine stärker inklusive Lebenswelt. Sowohl durch den Bundesgesetzgeber wie auf der Umsetzungsebene sind weitere Schritte notwendig, um wirklich inklusiv zu werden.
  • Die gesetzlichen Barrieren, die zu Verschiebepraktiken zwischen den Sozialsystemen führen, sind abzuschaffen! Die Kinder- und Jugendhilfe muss endlich zuständig werden, für alle junge Menschen mit und ohne Behinderungen und ihren Familien Teilhabeleistungen zu erbringen.
  • Niedrigschwellige Infrastrukturangebote sind aus- statt abzubauen, der Zugang zu bedarfsgerechten Einzelfallhilfen zu vereinfachen. Die Pflicht hierzu ergibt sich auf dem verfassungsrechtlichen Auftrag, Familien bei ihrer Erziehungsarbeit zu unterstützen und die Kinder in ihrer Entwicklung und Bildung zu fördern.
  • In Ländern und Kommunen sind sozialraumbezogene Jugendhilfeplanungen unter Einbeziehung der Adressat/-innen vorzunehmen und die Jugendhilfe zu stärken. Ressortübergreifende Verknüpfungen zu weiteren Kommunalplanungsprozessen sind vorzunehmen.
  • Keine Entlassung von Care Leavern in die Wohnungslosigkeit! Das Recht auf Jugendhilfe über das 18. Lebensjahr hinaus ist zu respektieren.

5. Ein Digitalpakt für die Kinder- und Jugendhilfe

  • Was von Corona bleibt, ist in jedem Fall ein Digitalisierungsschub und das nicht nur in der Schule. Auch die Kinder- und Jugendhilfe muss im Interesse ihrer Adressat/-innen dazu in die Lage versetzt werden, sich da, wo es Sinn macht, digitalisieren zu können und einen Beitrag zum Abbau digitaler Benachteiligungen leisten zu können. Hierzu braucht es Hard- und Software, Qualifikationen für die Mitarbeiter/-innen und den Willen die digitale Weiterentwicklung der Angebote zu verstetigen.

Download des Monitors

Quelle: Arbeitsgemeinschat für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ vom 11.05.2021

Redaktion: Pia Kamratzki

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