Inklusive Bildung
Bundesländer verstoßen gegen UN-Behindertenrechtskonvention

Das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) kommt in einer Studie zum Thema „Inklusive Bildung“ zu dem Schluss, dass mehrere Bundesländer bei der Umsetzung gegen die Anforderungen der UN-Behindertenrechtskonvention zur Schaffung eines inklusiven Bildungssystems verstoßen.
13.09.2021
Die UN-Behindertenrechtskonvention (PDF) verpflichtet Deutschland, ein inklusives Regelschulsystem und die bildungspolitischen Voraussetzungen dafür zu schaffen. Dieser Verpflichtung kämen eine Reihe von Bundesländern nicht ausreichend nach. Auch die Pflicht, relevante Daten systematisch zu erheben, würde von der Bundesrepublik Deutschland nicht umgesetzt. Zu diesem Schluss kommt das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Für ihre Studie (PDF) wertete das Forschungsteam relevante Vorschriften und Umsetzungsmaßnahmen sowie verfügbare Daten über den gemeinsamen Unterricht in den Bundesländern aus. Während Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein bei der Umsetzung der Inklusion in den Schulen deutlich vorangekommen seien, fände diese in den meisten anderen Bundesländern nur unzureichend statt. Baden-Württemberg, Bayern und Rheinland-Pfalz seien weitgehend untätig geblieben oder würden seit Geltung der UN-Konvention 2009 sogar Rückschritte verzeichnen.
„Solange die Politik nicht die notwendigen Voraussetzungen an den Schulen schafft, kann Inklusion nicht gelingen“, resümiert Studienautor Sebastian Steinmetz. „Das Versäumnis liegt bei der Politik und kann nicht am gemeinsamen Unterricht festgemacht werden, der in vielen anderen Staaten ja schon heute die Regel ist.“
Zentrale Anforderungen an die Bundesländer
Aus Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention leitete das Forschungsteam vier zentrale Anforderungen ab, die für die Erfüllung des Rechts auf inklusive Bildung gegeben sein müssen und untersuchte deren Umsetzung in den 16 Bundesländern:
1. Verfügbarkeit inklusiver Bildung
Schüler/-innen mit Behinderungen haben Anspruch, in einer nahegelegenen Schule gemeinsam mit Mitschüler(inne)n ohne Behinderung unterrichtet zu werden. In der Mehrheit der Bundesländer würden bereits die überwiegende Zahl aller Schulen Kinder mit Förderbedarf unterrichten. Weit unterdurchschnittliche Quoten von inklusiv arbeitenden Schulen fänden sich hingegen in Baden-Württemberg, Bayern und Rheinland-Pfalz. Hier sei inklusive Bildung nicht flächendeckend verfügbar.
2. Diskriminierungsfreier Zugang zu inklusiven Schulen
Zentral fordert die UN-Konvention einen gleichberechtigten und diskriminierungsfreien Zugang zum allgemeinen Bildungssystem. Ein vorbehaltloser Zugang zu inklusiver Bildung für Kinder mit Förderbedarf würde gegenwärtig jedoch nur in Bremen und Hamburg gewährleistet, während Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz, Sachsen und Sachsen-Anhalt diesen Anspruch nicht erfüllen. In diesen Ländern gäbe es auch mehr als zehn Jahre nach Ratifikation der UN-Konvention keinen klaren Vorrang der gemeinsamen Beschulung. Die Mehrheit der Bundesländer schreibe zwar einen Vorrang des gemeinsamen Unterrichts im Schulgesetz fest, schränke diesen aber durch einen Ressourcenvorbehalt und/oder sonstige Vorbehalte ein.
3. Angemessenheit des Schulangebots
Die Ressourcenausstattung für den gemeinsamen Unterricht ist in vielen Bundesländern mangelhaft. In einer Reihe von Ländern (Baden-Württemberg, Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz und Saarland) ist die Finanzierung inklusiver Beschulung nicht ausreichend im Schulrecht konkretisiert. Für die einzelnen Förderschwerpunkte fehlen konkrete Richtwerte, an denen sich die Zuweisung sonderpädagogischer Förderung zu orientieren hat. Aus diesem Grund kann nur schwer bewertet werden, ob in der Praxis ausreichende pädagogische Unterstützung im inklusiven Lernumfeld vorhanden ist. Allerdings weisen Daten aus mehreren Bundesländern auf eine systematische Unterausstattung der allgemeinen Schulen gegenüber Förderschulen hin.
4. Anpassungsfähigkeit des Schulsystems
Eine tatsächliche Transformation bestehender Förderschulsysteme in inklusive Regelschulangebote sei bislang nur in Bremen, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein zu beobachten. Die anderen elf Länder würden das im internationalen Vergleich weit ausgebaute Förderschulsystem (bisher) nicht zur Disposition stellen. Gerechtfertigt würde dieses Vorgehen durch einen Verweis auf das „Elternwahlrecht“: Solange Erziehungsberechtige die Förderschule für ihr Kind wählen, sollen Sonderstrukturen weiterexistieren. Damit würde eine zentrale Steuerungsleistung für das Gelingen der schulischen Inklusion formal auf die Erziehungsberechtigten abgewälzt. Diese „passive Steuerung“ sei aber mit der schrittweisen Implementierung der UN-Konvention unvereinbar, stellt der Jurist und WZB-Forscher Michael Wrase fest. Außerdem sei bei der Ausübung des Elternwahlrechts eine starke soziale Schieflage zu vermuten. Kinder aus sozial benachteiligten oder migrantischen Elternhäusern seien an Förderschulen weit überproportional vertreten.
Quelle: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung vom 08.09.2021
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