Sachsen-Anhalt

Viele sexuelle Übergriffe auf Jugendliche kommen nicht zur Anzeige

Die Hochschule Merseburg hat im Auftrag des Ministeriums für Inneres und Sport von Oktober 2020 bis März 2021 Jugendliche zwischen 16 und 18 Jahren zu Erfahrungen mit sexuellen Grenzverletzungen und Gewalt, zu ihrem Anzeigeverhalten sowie ihrem Umgang mit dem Erlebten befragt.

10.08.2021

Nur drei bis sechs Prozent der weiblichen Betroffenen und null bis vier Prozent der männlichen sowie divers-geschlechtlichen Jugendlichen haben einen sexuellen Übergriff, den sie im Alter von 14 bis 18 Jahren erfahren haben, zur Anzeige gebracht. Dies ist nur eines der alarmierenden Ergebnisse der Studie der Hochschule Merseburg. Der Kinder- und Jugendbeauftragte des Landes, Holger Paech, hat für Kinder und Jugendliche, die Opfer eines sexuellen Übergriffs geworden sind, verbesserte Beratungs- und Hilfsangebote angemahnt. Zugleich warb er für ein „unvermindert hohes Engagement aller Beteiligten“, um Kindern und Jugendlichen alters- und zielgruppengerecht Angebote der Sexualerziehung und Aufklärung sowie zum Schutz vor sexualisierter Gewalt zu unterbreiten.

Paech, der auch zentraler Ansprechpartner des Landes für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs ist, sagte bei der Vorstellung der Studie der Hochschule Merseburg am 30. Juli 2021:

„Wenn laut Studie nur drei bis sechs Prozent der weiblichen Betroffenen und null bis vier Prozent der männlichen sowie divers-geschlechtlichen Betroffenen den sexuellen Übergriff, den sie im Alter von 14 bis 18 Jahren erfahren haben, zur Anzeige bringen, dann wird deutlich, wieviel noch zu tun ist.“

Als ein positives Zeichen bezeichnete Paech den ermittelten Wert, dass in der Kindheit bis 13 Jahren erlittene Übergriffe zu mehr als 20 Prozent zur Anzeige gelangt sind. Eine Studie von Anfang der 1990er Jahre hatte ermittelt, dass damals lediglich vier Prozent der sexuellen Übergriffe auf Kinder bis 13 Jahren zur Anzeige gebracht worden waren.

Insgesamt äußerte sich der Beauftragte erschüttert: „Die registrierten Fälle in der polizeilichen Kriminalitätsstatistik sind wirklich nur eine äußerst kleine Spitze eines sehr großen Eisbergs. Alle staatlichen Institutionen und die Erwachsenengesellschaft insgesamt stehen vor der permanenten Frage, ob sie wirklich immer angemessen sensibel agieren, wenn sich ihnen Kinder und Jugendliche nach einem sexuellen Übergriff anvertrauen. Kinder und Jugendliche brauchen mehr vertrauensvolle Ansprechpersonen und mehr Sicherheit.“

Handlungsbedarf auf allen Ebenen

Paech sprach sich dafür aus, Sexualerziehung, Aufklärung und Präventionsprogramme zu verstetigen, auszubauen und zu qualifizieren. Neben alters- und zielgruppengerechten Angeboten für Kinder und Jugendliche in Kita, Schule und Ausbildung, sollte es immer auch offensiv angebotene Informationsmöglichkeiten für Erwachsene geben.

„Eltern sind nicht selten die erste Vertrauensperson, an die sich Kinder und junge Menschen wenden. Hier fällt meist auch die Entscheidung für oder gegen eine Anzeige. Wir müssen Eltern stark machen, damit sie ihrem Kind sicheren Halt geben können und genau wissen, was zu tun ist.“

Des Weiteren mahnte Paech, dass Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe sowie Lehrkräfte grenzverletzendes Verhalten besser erkennen und wissen, was bei einem sexuellen Übergriff konkret zu tun ist.

„Am besten stellen wir das sicher, indem Sexualerziehung und der Schutz vor sexueller Gewalt verpflichtend in die Curricula von grundständigen Ausbildungen und Studien für Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe sowie Schul-Lehrkräfte aufgenommen werden.“

Der Beauftragte sieht zudem Handlungsbedarf bei Beratungs- und Hilfsangeboten für Opfer von sexualisierter Gewalt:

„Ich sehe nicht, dass wir mit vier spezialisierten Vor-Ort-Beratungsstellen in den Städten Magdeburg, Halle, Stendal und Dessau-Roßlau für ein Flächenland wie Sachsen-Anhalt den Bedarfen entsprechend optimal aufgestellt sind. Unser Anspruch muss sein, dass Opfer von sexualisierter Gewalt umgehend nach einer Tat beste Unterstützung erhalten – und zwar adressatengerecht und zügig, das heißt auch ortsunabhängig mittels moderner Kommunikation. Spezialisierte Vor-Ort-Angebote sollte es perspektivisch in jedem der elf Landkreise und drei kreisfreien Städte geben.“

Ergebnisse der Studie

Die Studie hat Antworten von 861 Jugendlichen ausgewertet – 377 Teilnehmende wohnen in Sachsen-Anhalt, 471 in den neuen Bundesländern. Teilgenommen haben 522 weibliche Jugendliche, 297 männliche Jugendliche sowie 42 junge Menschen mit diverser Geschlechtsidentität.

Die Befragung ergab, dass fast alle weiblichen und divers-geschlechtlichen sowie die Hälfte der männlichen Jugendlichen mindestens einmal in ihrem Leben Formen sexueller Belästigung erlebt haben. Die Palette reicht von verbalen Übergriffen über körperliche Grenzverletzungen im öffentlichen Raum, in der Schule und im Internet, bis hin zur Vergewaltigung. Fast jede vierte weibliche Jugendliche (24 Prozent) berichtete von einem Vergewaltigungsversuch, 39 Prozent der Jugendlichen mit diverser Geschlechtsidentität und sieben Prozent der männlichen Jugendlichen. Eine Vergewaltigung gaben 14 Prozent der jungen Frauen, 21 Prozent der diversen und drei Prozent der männlichen Jugendlichen an. Diverse und weibliche Jugendliche leiden nach eigenem Bekunden deutlich stärker unter den Folgen des Geschehenen als die männlichen Befragten. Die Mehrheit der Betroffenen – und zwar 58 Prozent der weiblichen Opfer sowie 70 der männlichen Opfer – gab an, nach dem Übergriff keine professionelle Hilfe und Beratung nachgefragt zu haben. 

Die Studie ist auf den Internetseiten des Instituts für Angewandte Sexualwissenschaft der Hochschule Merseburg zu finden.

Quelle: Ministerium für Arbeit, Soziales und Integration vom 30.07.2021

Redaktion: Alena Franken

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