Jugendforschung
Sturm und Drang ‒ hauptsächlich in den Augen der Eltern
Tiefgreifende Veränderungen in der Persönlichkeit von Heranwachsenden sehen vor allem die Eltern. Die Jugendlichen selbst empfinden weitaus mehr Stabilität und erleben die Veränderungen weniger problematisch, haben Wissenschaftler herausgefunden.
07.07.2016
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Hector-Instituts für Empirische Bildungsforschung an der Universität Tübingen untersuchten, wie sich die "Big Five", die fünf Faktoren, die eine Persönlichkeit beschreiben, in der Phase der frühen Adoleszenz verändern: emotionale Stabilität, Verträglichkeit, Extraversion, Offenheit und Gewissenhaftigkeit. Dabei befragten sie die Jugendlichen selbst sowie deren Eltern. Die Ergebnisse zeigen, dass vor allem Eltern tiefgreifende Veränderungen in der Persönlichkeit von Heranwachsenden sehen. Die Jugendlichen erleben sich selbst weitaus stabiler. Während Eltern ihre Kinder zunehmend kritischer, weniger offen und zurückgezogener beschreiben, zeigen die Selbstberichte von Heranwachsenden keine dramatischen Veränderungen.
Studien der vergangenen Jahre konnten zeigen, dass die Persönlichkeitsentwicklung im Laufe des Lebens einem Reifungsprinzip folgt; wir werden gewissenhafter, verträglicher, emotional stabiler und weitgehend auch geselliger und offener für neue Erfahrungen. Die Tübinger Wissenschaftler wollten nun herausfinden, ob dieses Reifungsprinzip für alle Lebensphasen gilt, im Besonderen für die Zeit der Pubertät. In einem Zeitraum über drei Jahre befragten sie deshalb knapp 2.800 Schülerinnen und Schüler im Alter zwischen 10 und 14 Jahren sowie deren Eltern jeweils einmal pro Jahr. Sie wollten wissen, wie die Heranwachsenden sich anhand der Persönlichkeitsmerkmale selbst einschätzen und wie Eltern ihre Kinder einschätzen. Um die Verträglichkeit zu messen, mussten die Jugendlichen beispielsweise Fragen beantworten wie "Ich bin jemand, der andere schnell kritisiert", zur Gewissenhaftigkeit "Ich erledige meine Aufgaben sofort" oder zur Extraversion "Ich bin jemand, der gerne mit anderen zusammen ist".
Neben den Unterschieden zwischen Eltern und Kindern fanden die Forscher heraus, dass die Persönlichkeitsentwicklung im Jugendalter nicht dem typischen Bild der Reifung folgt: Die Verträglichkeit und Offenheit verringerten sich in dieser Phase. "Überrascht hat uns, dass beim Punkt Gewissenhaftigkeit die Schüler sich selbst kritischer sehen als die Eltern das tun", sagt Richard Göllner, Erstautor der Studie. Sie waren der Meinung, weniger leistungsbereit, diszipliniert und zuverlässig geworden zu sein. Die Eltern haben in diesem Punkt jedoch fast keine Veränderung ihrer Kinder feststellen können. Bei der Extraversion war es umgekehrt: Die Eltern erlebten ihre Kinder zunehmend weniger kontaktfreudig als diese sich selbst beurteilten. "Möglicherweise rührt das daher, dass die Eltern ihre Kinder zum größten Teil zu Hause erleben, die Jugendlichen aber ihr Verhalten in ihrem Freundeskreis im Blick haben", erklärt Göllner.
Die Mädchen waren im beobachteten Zeitraum übrigens insgesamt verträglicher, gewissenhafter und offener als die Jungen und die Extravertiertheit stieg bei ihnen schneller an. "Das könnte daran liegen, dass typische, auch biologische Reifungsprozesse bei Mädchen früher einsetzen als bei gleichaltrigen Jungen", mutmaßt Göllner.
Originalpublikation
Göllner, R., Roberts B. W., Damian, R. I., Lüdtke, O., Jonkmann, K., Trautwein, U., (2016) “Whose ‘Storm and Stress’ Is It? Parent and Child Reports of Personality Development in the Transition to Early Adolescence”, Journal of Personality.
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Quelle: Eberhard Karls Universität Tübingen vom 05.07.2016
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