Im Gespräch

Schule und Corona – Wie Fachkräfte an Schulen die Coronapandemie erleben

Trotz verschiedener Lockerungen in der Schule und einer ersten, vorsichtigen Rückkehr zum Alltag bleiben corona-spezifische Herausforderungen noch eine Weile erhalten. Im Rahmen unserer Interviewreihe „Schule und Corona“ sind wir im Gespräch mit einer Schulsozialarbeiterin und einem Lehrer folgenden Fragen nachgegangen: Wie gehen Fachkräfte an Schulen mit der Situation um? Können sich Sozialarbeit und Lehrkräfte gewinnbringend unterstützen? Welche Bedarfe nehmen sie bei jungen Menschen wahr? Ist es ihnen möglich, Schülerinnen und Schüler so zu begleiten, dass sie ihren Schulalltag gut bewältigen können?

11.01.2022

Unter normalen Umständen verbringen junge Menschen den Großteil ihrer Zeit in der Schule. Neben der Aneignung von Inhalten und Sachkompetenzen können Schulen Orte der Lebensfreude, Persönlichkeitsentwicklung und Förderung von Lebenskompetenz sein. Insofern sind für Kinder und Jugendliche Einschränkungen im Schulbetrieb besonders dramatisch. 

Das aktuelle Schuljahr ist weiterhin von der Coronapandemie geprägt. Von einem Normalbetrieb scheinen die Schulen weit entfernt. Es fehlen einheitliche Regelungen, die Coronainfektionen steigen, der Beginn der Weihnachtsferien wurde teilweise vorgezogen – auch Ende 2021 sind scheinbar spontane Maßnahmen und Unsicherheiten an der Tagesordnung.

Um den Bedürfnissen von Lehrkräften, jungen Menschen sowie der Sozialarbeit am Ort Schule auf den Grund zu gehen, haben wir exemplarisch zwei Fachkräfte interviewt. Tomi Neckov, 47, leitet die Frieden-Mittelschule in Schweinfurt und ist Zweiter Vizepräsident des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV). Heike Witzemann, 51, ist seit 2007 in der Schulsozialarbeit Lauffen am Neckar an einer Realschule und einer Förderschule Schwerpunkt Lernen tätig. Sie ist seit 2015 Mitglied im Vorstand Netzwerk Schulsozialarbeit Baden-Württemberg e.V.
Anfang April 2020 legte das Netzwerk eine erste Dokumentation vor, die den Ist-Stand in Baden-Württemberg erfasste und herausarbeitete, welche Aufgaben nun dringend von der Schulsozialarbeit angegangen werden müssen und welche Ideen der Umsetzung es dazu gibt. Seitdem hat sich viel getan.

Das Problem: Nicht alle Schülerinnen und Schüler haben WLAN beziehungsweise ein mobiles Endgerät zuhause 

Wie haben Sie als Schulsozialarbeiterin und als Lehrer die letzten anderthalb Jahre während der Coronakrise erlebt? Welche Herausforderungen haben sich ergeben?

Neckov: Natürlich war der Distanzunterricht erst einmal die größte Herausforderung; die Lehrkräfte, die Schüler, die Eltern, alle Beteiligten mussten sich umstellen. Zudem hatten wir anfangs Kinder, die abgetaucht und nicht mehr erreichbar waren. Im Laufe der Zeit stellten wir fest, dass etliche Kinder mit den Schulschließungen nicht mehr klargekommen sind. Ihnen fehlte die Tagesstruktur, die Unterstützung durch die Lehrkraft, der persönliche Kontakt zu den anderen Kindern. 

Witzemann: Zu Beginn der Coronapandemie wurden wir von der neuen Situation überrascht. Zu meinem Glück arbeite ich an einer Realschule, die digital schon ganz gut aufgestellt war und so konnte ich den Kontakt zu Lehrkräften und Schüler(inne)n recht problemlos aufrechterhalten. Neben der praktischen Unterstützung von Familien beim Einstieg in den digitalen Unterricht konnte ich in Kooperation mit den Klassenlehrer(inne)n Kontakt zu online nicht anwesenden Kindern und Jugendlichen aufnehmen und Unterstützung beispielsweise durch die Notbetreuung an der Schule anbieten. Es war mir möglich, die dort anwesenden, oftmals benachteiligten Kinder und Jugendlichen eng zu begleiten und ihnen einen Schutzraum zum Durchatmen zu bieten.

Neckov: Wir als Lehrkräfte haben in der Zeit des Distanzunterrichts zunächst vor allem Arbeitsblätter ausgetragen und abholen lassen, so wie das viele andere Schulen auch gemacht haben. Dann konnten wir relativ schnell auf MS-Teams umstellen und haben mehrmals täglich Videokonferenzen mit den Schüler(inne)n gemacht. Das Problem dabei war, dass nicht alle Schülerinnen und Schüler WLAN beziehungsweise ein mobiles Endgerät zuhause hatten.

„Eltern meldeten sich vermehrt wegen Rückzugstendenzen ihrer Kinder bei mir“

Frau Witzemann, wie war es dann, als die Schulen wieder öffneten?

Es war trotzdem nicht wie vorher. Keine AG, keine Sport- oder Projektwoche, kein Sommerfest, eine kurze Verabschiedung anstatt einer großen Abschlussfeier der Schulabgänger/-innen, dafür haufenweise Regeln, deren Sinn sich nicht immer erschließen ließ – das alles hat uns alle frustriert und immer wieder vor die Herausforderung gestellt, wie man wenigstens ein wenig Schulleben gestalten kann.

Und wie haben die Schüler/-innen und ihre Familien die Zeit bewältigt?

Eine überwiegende Mehrheit der Familien hat die neue Lebenssituation gut bewältigt. Vielfach wurde mir berichtet, dass es durch das Homeoffice und die Einschränkung der sozialen Kontakte zu einem engeren Familienzusammenhalt und einem neuen guten Miteinander gekommen sei. Aber einkommensschwache Familien mit beengtem Wohnraum, nicht ausreichend vorhandenen digitalen Endgeräten, häufig verunsicherten Eltern und ständigen Konflikten waren hoch belastet. Die Situation wurde von vielen als zunehmend belastend empfunden. Bei den Schüler(inne)n sank die Motivation nicht nur für Schule, sondern oft auch für jegliche andere Aktivitäten. Eltern meldeten sich vermehrt wegen Rückzugstendenzen ihrer Kinder bei mir. Ich stellte fest, dass in jeder Klasse Schüler/-innen sind, die sich sichtbar verändert haben und belastet wirkten. Sichtbar durch häufige Verweigerung, geringe Frustrationstoleranz, Ängstlichkeit, motorische Unruhe, sorgenvolle Blicke und Gespräche. 

Wie sind Sie persönlich in dieser herausfordernden Zeit zurechtgekommen?

Witzemann: Meine drei Kinder sind junge Erwachsene. Sie brauchen nicht so viel Unterstützung. So hatte ich Kraft und Zeit für meine berufliche Arbeit. Zudem hat mir der Austausch mit anderen Fachkräften immer wieder neue Ideen für die Arbeit mit den Schüler(inne)n geliefert und ich hatte Freude daran, Neues auszuprobieren. Um einige Beispiele zu nennen: So habe ich mit den Schüler(inne)n der Klassenstufe 5 ein vielfältiges Padlet über ihre Coronazeit gestaltet, dessen Inhalt nun auch teilweise ins Jahrbuch der Schule übernommen wird. Auf der Plattform wonder.me habe ich einen virtuellen Schulhof eingerichtet, auf dem sich die Schüler/-innen jederzeit online treffen können. Und damit die Schüler/-innen – und auch ich – rauskommen, habe ich „walk & talk“ angeboten, spazieren und reden.

Neckov: Trotz vielfältiger Angebote konnte ich meine 39-Stunden-Woche meist nicht ganz füllen. So bekam ich von meinem Anstellungsträger immer wieder verschiedene Optionen angeboten, nach meinen Möglichkeiten in anderen Bereichen zusätzlich zu arbeiten. So habe ich beispielsweise die Corona-Regel-Aufsicht im Freibad übernommen – auch da trifft man dann seine Schüler/-innen. Oder ich habe im Kreisimpfzentrum an der Anmeldung gearbeitet und die Durchführung von Coronatests bei allen Mitarbeiter(inne)n begleitet. 

Wie lief die Zusammenarbeit mit Sozialarbeit, Lehrkräften und Eltern?

Witzemann: Die Zusammenarbeit mit den Lehrkräften an beiden Schulen lief immer sehr gut – wie auch schon vor der Coronapandemie. Lediglich im Frühjahr 2020 brach die Kommunikation die ersten zwei bis drei Wochen regelrecht ab. Dies lag aber daran, dass alle sich erstmal orientieren mussten, auf Anweisungen und neue Regelungen warteten und ihren digitalen Unterricht erarbeiten mussten.
Die Kontakte zu Eltern waren allerdings deutlich geringer als in normalen Jahren. Lediglich bei akuten Schwierigkeiten kamen Anfragen von Eltern.

Neckov: Auch bei uns lief es zwischen Sozialarbeiter(inne)n und Lehrkräften sehr gut, unsere beiden Jugendsozialarbeiterinnen haben die Lehrer/-innen so gut wie möglich unterstützt. Sie sind zu den Schüler(inne)n nach Hause gefahren, haben Videosprechstunden gemacht und sind mit den Kindern auch einfach spazieren gegangen, um sich die Probleme und Sorgen der Kinder und Jugendlichen anzuhören.

Praktikable Lösungen sind wünschenswert, die einerseits der Lebensrealität als auch andererseits dem Datenschutz Rechnung tragen

Durch die Umstellung auf digitale Orte und Wege hat sich einiges in den Schulen verändert. Was brauchen Fachkräfte vor Ort, um die digitalen Möglichkeiten gut nutzen zu können?

Witzemann: Datenschutz in Zeiten der Coronakrise war und ist eine besondere Herausforderung. Kontakt halten, Angebote machen und das alles digital – aber vielfach darf man quasi kein Medium nutzen, da es nicht den Regelungen des Datenschutzes entspricht. Hier wünschen wir uns praktikable Lösungen, die einerseits der Lebensrealität als auch andererseits dem Datenschutz Rechnung tragen.

Welches sind zurzeit die dringendsten Bedarfe bei Ihren Schüler(inne)n? 

Neckov: Jetzt gilt es dringend, die Lernlücken und die sozialen Defizite auszugleichen. Die Kinder hatten in den letzten eineinhalb Jahren einfach wenige soziale Kontakte, das geht auf die Psyche. Den jungen Menschen fehlte aber auch der Kontakt zu den Lehrkräften. Vor allem bei den ganzheitlichen Bildungsangeboten, wie Sport, Musik oder Kunst ist ein immens hoher Nachholbedarf.

Witzemann: Ich denke auch, das Fehlen von Angeboten wie Musik, Kunst oder Sport hat möglicherweise vor allem auf jüngere Kinder und Kinder aus einkommensschwachen Familien spürbare negative Auswirkungen. Viele Kinder und Jugendliche haben Sorgen und Ängste, sind verunsichert. Eine wohlwollende, zugewandte, freundliche Atmosphäre vermittelt Sicherheit und lässt zumindest kurzzeitig Probleme vergessen. Die Heterogenität der jungen Menschen muss bewusst wahrgenommen und passende Hilfen für einzelne Schüler/-innen angeboten werden. Schulsozialarbeit muss also intensiv mit den Lehrkräften in den Austausch gehen und diese sensibilisieren und, wenn möglich, selbst Angebote in der Klasse machen.

Wie gehen Sie damit um, wenn Eltern, die Coronamaßnahmen ablehnen, ihre Kinder beeinflussen? Ist das spürbar?

Witzemann: Auch Eltern haben Sorgen. In fast jeder Klasse haben wir Kinder und Jugendliche, deren Eltern Masken oder Tests für ihre Kinder ablehnen oder Verschwörungstheorien Glauben schenken. Teilweise sind diese Eltern massiv verärgert und gehen auf Konfrontationskurs mit der Schule. Schulsozialarbeit kann versuchen, Ängste zu nehmen und das Augenmerk wieder mehr auf das Wohl des Kindes zu lenken. 

Gibt es noch einen Aspekt, der aus Ihrer Sicht im Diskurs der letzten anderthalb Jahre deutlich unterbelichtet war? 

Witzemann: Kinder und Jugendliche wurden während der Coronakrise in keiner Weise in Entscheidungsprozesse einbezogen. Weder von der Politik noch in der Schule und auch nicht in Bezug auf ihre Freizeit. Sie brauchen aber Entwicklungsräume und Gestaltungsmöglichkeiten, damit soziales und demokratisches Lernen möglich ist. Schulen sind bezüglich Demokratiebildung essenzielle Erlebnisorte. 

Für Schulsozialarbeit ist die Qualität der Kooperation der beiden Systeme Jugendhilfe und Schule zentral. Aktuell gibt es jedoch in Baden-Württemberg noch nicht einmal eine Kommunikation der beiden Systeme in Bezug auf Schulsozialarbeit. Diese führte während der Coronakrise zu einigen Schwierigkeiten – zum Beispiel dem faktischen Schulbetretungsverbot für Schulsozialarbeiter/-innen im April 2020 und zu Missklängen in der Kommunikation, wenn Schulsozialarbeiter/-innen  als „nicht-pädagogische Mitarbeiter“ benannt werden. Wir fordern eine Verankerung der Schulsozialarbeit in der Jugendhilfe und im Schulgesetz von Baden-Württemberg. Im Gesetz muss die Kooperation festgeschrieben werden.

Neckov: Das Kernproblem für die Schulen sind die unterschiedlichen Ansprechpartner/-innen und der Datenschutz. Hier müssen dringend Erleichterungen geschaffen werden. An wen wende ich mich, wenn ich eine/-n Schulbegleiter/-in benötige? Wie komme ich als Jugendsozialarbeiter/-in an die für mich notwendigen Daten? Hier muss die Bundesregierung Erleichterungen schaffen und die unterschiedlichen Ministerien und Ebenen sollten besser und enger zusammenarbeiten. 

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Nadine Salihi.
 

Redaktion: Iva Wagner

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