Bildungstrend
„Politik lässt Grundschulen im Stich!“
Nach der Veröffentlichung des IQB-Bildungstrends 2021 meldet sich die Bildungsgewerkschaft zu den Ergebnissen im Primarbereich und reagiert mit einer klaren Forderung: ein Entlastungsprogramm für Grundschulen.
31.10.2022
Anja Bensinger-Stolze, Vorstandsmitglied Schule der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), stellte mit Blick auf die veröffentlichte Studie des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) in Frankfurt a.M. fest:
„Die Befunde zu den Leistungen der Kinder und der sozialen Schere an den Grundschulen in Deutschland sind ernüchternd und skandalös. (...) Jetzt rächt sich, dass der Primarbereich in den vergangenen Jahren vernachlässigt wurde: der immer größer werdende Lehrkräftemangel, die ungleiche Bezahlung in den Bundesländern, große Klassen, fehlende Unterstützungssysteme, eine unzureichende Ausbildung – so legt man nicht die notwendigen Grundlagen für das zukünftige Leben der Kinder. (...) Grundschulen brauchen jetzt Unterstützung, um soziale Ungleichheit abzubauen – flankiert von Schulsozialarbeit und Schulpsychologischem Dienst. Sie brauchen dringend gut ausgebildete und gut bezahlte Pädagoginnen und Pädagogen“.
Es sei verantwortungslos, das von der Bundesregierung angekündigte „Startchancenprogramm“ für benachteiligte Schulen unter Haushaltsvorbehalt zu stellen und auf das Schuljahr 2024/25 zu verschieben. Die Schulen würden schnell ein nachhaltiges Entlastungspaket für die Lehrenden und Lernenden sowie eine Unterstützung benötigen, die nicht überwiegend auf das ‚Aufholen‘ ziele, sondern die das ‚Aufrichten‘ in den Mittelpunkt stelle, unterstrich die GEW-Schulexpertin.
Die negative Entwicklung sei teilweise bereits seit 2011 zu erkennen, falle aber besonders seit 2016 ins Auge. „Sowohl die Kinder mit Flucht- und Migrationshintergrund als auch die Corona-Pandemie können nur zum Teil als Erklärung herhalten“, sagte Bensinger-Stolze. Dennoch habe sich in der Pandemie deutlich gezeigt, wie sich soziale Unterschiede verstärken. Die Grundschule seizu Zeiten der internationalen Vergleichsstudien in den ersten 2000er-Jahren sowohl fachlich als auch sozial noch ein gewisser Lichtblick im Schulsystem gewesen. Die soziale Spaltung, die sich kontinuierlich vergrößere, sei ein Skandal, hob die Gewerkschafterin hervor.
Die Bildungspolitik müsse ihr Augenmerk auf die besonderen Aufgaben und Herausforderungen der Grundschule richten. Bensinger-Stolze sagte:
„Die Grundschule nimmt prinzipiell alle Kinder auf und hat es – mehr als andere Schulen – mit großen sozialen Unterschieden zwischen den Familien und einer großen Vielfalt der Kinder zu tun. Sie hat die Aufgabe, alle Kinder in der Entwicklung ihrer Potenziale und in ihren individuellen Entwicklungsbedürfnissen zu fördern. Das wird bei einer steigenden Kinderarmutsquote und einer wachsenden Zahl zugewanderter Kinder immer schwieriger. Andererseits müssen die Grundschulen den Weg zur weiterführenden Schule weisen, kurz gesagt: selektieren.“
Das sei eine sehr anspruchsvolle und widersprüchliche Aufgabe, die ein Maß an Unterstützung, Anleitung und Zeit braucht, das in großen Klassen nicht möglich ist. „Wer sich über den Output sorgt, darf über den Prozess und den Input nicht schweigen“, mahnte das GEW-Vorstandsmitglied. Eine regelmäßige Kontrolle der Kompetenzen mache noch lange keine Schulqualität aus. Auch müsse klar sein, dass gute Bildung und gute Arbeit zwei Seiten einer Medaille seien. Nötig seien eine niedrigere Unterrichtsverpflichtung, eine deutlich bessere personelle Ausstattung mit Lehrkräften und multiprofessionellen Teams.
Erfreulich sei jedoch, dass die Viertklässler:innen 2021 – trotz pandemiebedingter Einschränkungen und unabhängig vom Zuwanderungshintergrund – mit ihrer Schule großenteils zufrieden sind und sich gut in ihrer Klasse integriert fühlen. Zu denken gebe aber der Befund, dass sich Motivation und Interesse an den Fächern signifikant verschlechtert haben und die Angst vor dem Fachunterricht gestiegen ist.
Weitere Informationen
Der IQB-Bildungstrend 2021 nimmt die vergangenen zehn Jahre in den Blick und beleuchtet insbesondere den Zeitraum ab 2016. Diesmal standen die Kompetenzen der Schüler:innen am Ende der Jahrgangsstufe 4 in den Fächern Deutsch und Mathematik im Fokus. Die Studie zeigt, dass sich der Anteil der Kinder, der den Mindeststandard beim Lesen, Zuhören und Rechnen sowie in der Rechtschreibung nicht erreicht, signifikant steigt. Beim Lesen trifft das beispielsweise mittlerweile auf 42 Prozent der Kinder zu. Ein gutes Fünftel erreicht nicht einmal die Mindeststandards. Besonders ungünstig fallen die Ergebnisse für Kinder mit Zuwanderungshintergrund oder aus benachteiligten Familien aus. Allerdings werden die Ergebnisse auch bei anderen Kindern schlechter. Gleichzeitig wird der Anteil der Schüler:innen, der über dem Regelstandard liegt, kleiner. Die Studie analysiert zudem die unterschiedlichen Entwicklungen in den Bundesländern.
Quelle: Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft vom 17.10.2022
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