Im Gespräch

Jugend und Corona – Wie geht es Jugendlichen in betreuten Wohngruppen?

In unserer Gesprächsreihe über die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf junge Lebenswelten ist das Fachkräfteportal der Kinder- und Jugendhilfe mit Fachkräften aus der stationären Erziehungshilfe im Dialog. Sie berichten uns, wie die momentane Situation in Jugendwohngruppen aussieht. Wie gehen die Jugendlichen mit den Veränderungen um und welche Chancen können sich daraus ergeben?

08.12.2020

Jährlich werden mehr als 140.000 Hilfen nach § 34 SGB VIII in Anspruch genommen. Fast 37.000 Einrichtungen der stationären Jugendhilfe geben auch während der Corona-Pandemie Kindern und Jugendlichen ein Zuhause und schaffen Zukunftsperspektiven. Fachkräfte betreuen die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen rund um die Uhr. Es zeigt sich: alle Berufsfelder der Kinder- und Jugendhilfe leisten wichtige Corona-Unterstützung. Die stationäre Jugendhilfe ist ein sozial- und systemrelevanter Bereich, der besonderer Aufmerksamkeit bedarf.

Angesichts der Corona-spezifischen Veränderungen im Alltag stellen sich einige Fragen: Wie lassen sich in einer Wohngruppe Abstands- und Hygieneregeln einhalten? Ist ein „normaler“ Alltag möglich? Verlässliche Beziehungen geben Sicherheit und Selbstvertrauen. Aber wie lassen sich konstruktive Beziehungen unter Corona-Bedingungen in einer Wohngruppe gestalten?  

Anna Geschwinder und Alena Piero, Mitarbeiterinnen der Diakonie Michaelshoven, sind mit uns im Gespräch. Die beiden Pädagoginnen begleiten junge Menschen mit erhöhtem Förderbedarf auf dem Weg in die Selbstständigkeit. Sie berichten aus dem Alltag der stationären Jugendhilfe, aus Wohngruppen mit Jugendlichen im Alter von 14 bis 21 Jahren. Wie sich diese Arbeit gestaltet und wie die jungen Menschen aus ihrer Sicht mit Corona-bedingten Veränderungen umgehen, schildern die beiden Fachkräfte im folgenden Interview.  

Es entwickelt sich ein anderes Verantwortungsgefühl in der Gruppe

Frau Geschwinder, Frau Piero, Sie haben mit jungen Menschen zu tun, die nicht in ihren Familien untergebracht sind. Was denken Sie, wie unterscheidet sich ihre Situation zurzeit von der Situation anderer junger Menschen? 
 

Piero: Gruppen können ein sicherer Ort sein, Stabilität bieten, jedoch auch die nicht „normalen“ Umstände verdeutlichen. Durch Corona-Abstandsregelungen wird ein Lebensraum auf Distanz geschaffen, das familiäre Setting entfällt. Bei uns ist es ganz anders als im Familienkontext, bei dem Schule, Beruf, Familienalltag kollidieren und zu einem erhöhten Stress- und Streitpotential führen. Das Gruppensetting wirkt entlastend, da die Jugendlichen unterschiedliche Ansprechpartner haben und sich im Zweifelsfall auf ihre Zimmer zurückziehen können. Schon vor der Corona-Krise war das ein Vorteil. Darüber hinaus entwickelt sich durch die dauerhafte Anwesenheit aller ein anderes Verantwortungsgefühl innerhalb der Gruppe. Die Jugendlichen unterstützen sich beim Einkaufen und Kochen; sie verbringen – wenn auch auf Abstand – viel Zeit in der Gruppe. Vor Corona war das Zusammenleben eher geprägt von Individualismus und es gab kaum Teilnahme am gemeinsamen Leben. 

Geschwinder: Ich kann Frau Piero nur zustimmen. Ergänzen möchte ich, dass bei uns in den Wohngruppen Corona Dauerthema ist. Die Diakonie hat sehr viele Beschäftigte und Gruppen – bei uns gibt es strenge Auflagen in Sachen Hygiene und Abstand. Es wird alles vorschriftsmäßig gehandhabt und die Jugendlichen halten sich grundsätzlich auch an die Vorschriften. 

Homeschooling: Die Taschengelder reichen für einen eigenen Laptop meist nicht aus

Was hat sich für ihre Klient*innen im Alltag verändert?
 

Geschwinder: Konkret verändert hat sich in der Gruppe natürlich, dass die Jugendlichen sehr viel zuhause sind. Wir machen Homeschooling in verschiedenen Räumen mit Abstand. Abstandhalten in einer Wohngruppe mit neun Plätzen beeinflusst den Alltag natürlich. Es gibt keinen Körperkontakt mehr, kein Umarmen bei Geburtstagen. Die Jugendlichen müssen Masken tragen. Es braucht ständige Disziplin und Kontrolle. Die Jugendlichen disziplinieren sich auch untereinander. 

Piero: Hobbies, Treffen mit Freunden, sozialer Austausch, aber auch Nähe fehlen, entfallen oder sind auf ein Minimum reduziert. Typische Erfahrungen des Jugendalters – wie regelmäßige Treffen mit Freunden – müssen derzeit hintenangestellt werden. Darüber hinaus ist beispielsweise die digitale Umsetzung der Schulaufgaben leider nur begrenzt möglich. Die Taschengelder reichen meist nicht aus, um sich einen eigenen Laptop leisten zu können. Der eine Gruppenlaptop muss somit von allen geteilt werden. Und in Sachen Homeschooling fordern die Jugendlichen nun wesentlich mehr Unterstützung ein. 

Geschwinder: Ich würde sagen, das ist nicht nur in unseren Wohngruppen so. Die Digitalisierung ist generell in Deutschland eher vorsintflutlich.    

Die Jugendlichen vermissen die alten Zeiten vor Corona 

Wie gehen die jungen Menschen in ihrer Wohngruppe mit den Corona-bedingten Veränderungen um? 
 

Geschwinder: Die Jugendlichen nutzen die Zeit im Lockdown sehr kreativ. Das möchte ich hervorheben. Unsere Mitarbeiter*innen haben alle besondere Fähigkeiten und bieten vielfältige Angebote an. Bei uns haben beispielsweise ein Kunstprojekt und ein digitaler Marathon stattgefunden. Alle Bewohner*innen haben teilgenommen. Über diese Angebote ist die Gruppe richtig zusammengewachsen. Die Jugendlichen bezeichnen ihre Wohngruppe als ihr Zuhause. Und jede Person, die neu reinkommt, kommt schnell in der Gruppe an.  

Piero: Bei unseren Jugendlichen zeigen sich auch Unsicherheiten. Sie verhalten sich eher ambivalent. Sie vermissen die alten Zeiten vor Corona, lehnen sich teilweise gegen die Auflagen auf, testen die Grenzen und ignorieren manchmal bewusst die Abstände – vor allem untereinander. Dennoch nehmen sie auch Rücksicht und haben Verständnis für die aktuelle Situation. Sozialängstliche, traumatisierte Bewohner*innen nutzen Homeschooling zur Entlastung für sich. Sie geben an, dass es ihnen hilft, zuhause zu lernen, weil sie sich so besser konzentrieren und nach ihrem Tempo lernen können. Allerdings ist die Rückkehr zum normalen Schulalltag für eben diese Jugendlichen eine große Hürde. 

Haben Sie das Gefühl, dass junge Menschen momentan in der Öffentlichkeit anders wahrgenommen werden?
 

Piero: Jugendliche stehen zurzeit im Fokus, sie werden kritischer beobachtet und das Verhalten wird schärfer kritisiert als bei Erwachsenen, was zum Teil jedoch unangebracht ist. 

Geschwinder: Ich würde sagen, Jugendliche stehen – einfach weil sie jung sind – immer im Fokus. Aktuell werden oft Jugendliche für die steigenden Corona-Zahlen verantwortlich gemacht. Dies kann ich nicht bestätigen. Bei den Jugendlichen gibt es eher eine hohe Sensibilität im Umgang mit dem Thema. Mit ihren echten Herausforderungen, mit ihren erschwerten Zukunftsperspektiven zurzeit werden junge Menschen häufig nicht gesehen. Besonders zukünftige Careleaver, die eigentlich bald aus unseren Hilfen ausscheiden wollen, können ihr kommendes Leben mit Studium, Job, Wohnungssuche oder Ähnlichem kaum vorbereiten. 

Sie machen sich Gedanken darüber, wie es wohl weitergeht und wie sich die Welt verändern wird 

Viele sehen Krisen als Chance für Weiterentwicklung. Nehmen Sie einen Entwicklungsprozess wahr, der bei den Jugendlichen stattgefunden hat und spezifisch auf die Corona-Krise zurückzuführen ist? 
 

Piero: Derzeit ist in der Gruppe nicht abzusehen, wie sich die Corona-Pandemie auf die Weiterentwicklung der Jugendlichen auswirkt. Gewisse möglicherweise dauerhafte Veränderungen lassen sich allerdings jetzt schon beobachten. Hierzu gehört zum Beispiel das intensivere Nutzen von Medien – für private und schulische Zwecke. Aber ich merke auch, dass gesellschaftliche Themen, Freundschaften und Beziehungen und das Jugendlich-sein anders betrachtet werden als vorher.

Geschwinder: Unsere Jugendlichen kommunizieren zurzeit sehr intensiv miteinander, vor allem über die Pandemie und allgemein gesellschaftspolitische Fragen. Sie diskutieren über Zukunftsperspektiven und machen sich Gedanken darüber, wie es wohl weitergeht und wie sich die Welt verändern wird.  Mir ist wichtig, zu betonen, dass es keine „armen Heimkinder“ sind, die in unseren Wohngruppen leben. Ich habe das Gefühl, dass unsere Jugendlichen die Zeit während der Corona-Krise teilweise sogar besser nutzen als in den Familien. Das Heim ist nicht mehr das Heim, das es vor 30 Jahren war. Partizipation ist ein großes und wichtiges Thema in der Diakonie Michaelshoven. In den Wohngruppen haben wir Kinder- und Jugendparlamente, die mitbestimmen können. Das spiegelt sich auch im Alltag mit allen Jugendlichen wider – es wird viel gesprochen. Alles wird in Absprache mit Jugendlichen gemacht, sie werden immer mitgenommen. Das wirkt sich auch in dieser Krise sehr positiv aus.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Nadine Salihi 

Gesprächsreihe vom Fachkräfteportal der Kinder- und Jugendhilfe

In unserer Gesprächsreihe "Jugend und Corona" fragen wir Schüler/-innen, Studierende, Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe, Vertreter/-innen aus dem Bundesfamilienministerium sowie junge Menschen mit Fluchterfahrung, wie sie derzeit ihren Alltag erleben, welche Eindrücke und Wünsche sie haben. 

Das nächste Gespräch in unserer Reihe ist mit drei jungen syrischen Männern, die seit einiger Zeit in Potsdam leben. 

Lesen Sie auch: Jugend und Corona – Wie gehen junge Menschen mit der Krise um?
 

Redaktion: Iva Wagner

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