Interviewreihe Kinder- und Jugendhilfe im Kontext Rechtsextremismus
Im Gespräch – Schulsozialarbeiter*innen an einer weiterführenden Schule
Frau P. und Herr F. arbeiten in der Schulsozialarbeit an einer weiterführenden Schule im ländlichen Raum Thüringens. Alltäglich erleben sie ein „Grundrauschen“ aus Rassismen und kleinen Beleidigungen der Schüler*innen untereinander. Im Interview berichten Sie vom Schulalltag und ihrer Haltung, den Schwerpunkt auf Prävention zu setzen. Ein Gespräch über das Sich-Zeit-nehmen und Aufklären und das Fördern der Resilienz durch Selbstwirksamkeitserfahrungen.
06.11.2024
Interview 4/4 – Schulsozialarbeiter*innen an einer weiterführenden Schule in Thüringen
Im Gespräch
Erzählen Sie doch mal…
Frau P.: „Ich bin 56 Jahre alt, habe in Erfurt Soziale Arbeit studiert, bin Dipl.-Sozialpädagogin und seit zwölf Jahren an dieser Schule tätig.“
Herr F.: „Ich bin 32 Jahre alt, habe in Jena Soziale Arbeit studiert, bin Sozialarbeiter und hier an der Schule in der Projektsozialarbeit tätig.“
Wie ist der tägliche Arbeitsablauf, welches sind Ihre Aufgaben?
Herr F.: „Meine Aufgaben sind vielfältig, diese beinhalten z. B. individuelle Förderung von Schüler*innen, die besondere Bedarfe hinsichtlich der Begleitung im Unterricht haben. Ich biete Unterstützung in Form von gezielter Einzelförderung im Unterricht. Die Elternarbeit gehört ebenfalls zu meinen Aufgaben, genauso wie die Zusammenarbeit mit der Beratungslehrerin, Sonderpädagogin und auch der Schulsozialarbeiterin. Ich begleite aktuell neun Schüler*innen während des Schulalltags.“
Frau P.: „Mein Arbeitsalltag ist extrem bunt und jeder Tag ist unterschiedlich. Als Sozialpädagogin berate und unterstütze ich Lehrer*innen sowie Eltern insbesondere in erzieherischen Fragen und bin Teil eines multiprofessionellen Unterstützerteams in der Schule. Unsere Tür ist eigentlich immer offen und die Schwelle uns zu kontaktieren ist sehr niedrig. Konflikte, Sorgen, Ängste… die alltäglichen großen und kleinen Probleme, die Schüler*innen und Lehrer*innen haben, sind unter anderem meine Aufgabe.“
Sind Sie in Ihrer Arbeit an der Schule mit den Themen Rassismus, Homophobie, Sexismus, Queerfeindlichkeit, Antisemitismus oder Demokratiefeindlichkeit konfrontiert?
Frau P.: „Der Themenkomplex ist für mich fast zum Grundrauschen geworden und ich erschrecke darüber nicht mehr. Ich kann mir vorstellen, dass jemand Fremdes hier hereinkommt und die Hände über dem Kopf zusammenschlägt. Meine Schwelle ist über die Jahre recht hoch geworden, weil ich im Gespräch mit den Schüler*innen oft erlebe, dass die rüde Wortwahl nicht persönlich so gemeint ist und man den Anderen nicht verletzen will.“
Herr F.: „Alltäglich bekommen wir diese Dinge hier mit. Was Homophobie und Queerfeindlichkeit angeht, spielt Unwissenheit eine große Rolle. Das betrifft sowohl das Kollegium als auch die Schülerschaft und die Schüler*innen benutzen täglich Schimpfwörter aus diesem Themenkomplex. Häufig merke ich, dass den Schüler*innen die Bedeutung dessen, was sie da gerade sagen, gar nicht bewusst ist. Als ich das erste Mal ein Schimpfwort in der Richtung hörte, bin ich zusammengezuckt, mittlerweile überlege ich schon, wo es sich überhaupt lohnt, einzugreifen. Ich differenziere da situativ.“
Welche Rolle spielen soziale Netzwerke in Ihrer Arbeit?
Frau P.: „Wir bekommen in der Richtung nicht viel mit, an der gesamten Schule gilt Handyverbot. Bekommen wir etwas mit, was im privaten Umfeld passiert, wenden wir uns an die Eltern und verweisen dann weiter. Bekommen wir hier in der Schule etwas in der Hinsicht mit, wenden wir uns sofort an die Polizei.“
Wird das Thema Diskriminierung oder Rechtsextremismus im schulischen Kontext oder im Unterricht bearbeitet?
Herr F.: „Natürlich wird im Geschichtsunterricht einiges behandelt, KZ-Besuche in Buchenwald gehören z. B. auch dazu. Inwieweit die Lehrer*innen den Themenkomplex ansonsten einbinden, können wir nicht beurteilen.“
Sind die Landtagswahlen Thema gewesen?
Frau P.: „Definitiv. Unsere Sozialkundelehrerin hat im zehnten Jahrgang die Juniorwahl im Vorfeld durchgeführt. Die Juniorwahl ist ein Konzept zur politischen Bildung an weiterführenden Schulen und wurde hier gut angenommen. Soweit ich weiß, soll es im Oktober ein „Speed-Dating“ mit den Kandidat*innen, die sich haben wählen lassen, geben. Es sind alle Vertreter*innen aller Parteien eingeladen, sich den Fragen der Schüler*innen zu stellen.“
Wie arbeiten Sie mit Kindern- und Jugendlichen hinsichtlich des Themas Rechtsextremismus?
Frau P.: „Ich habe mich dazu entschieden, im fünften, sechsten und auch siebten Jahrgang eine Arbeitsweise zu entwickeln, die ich persönlich „Graswurzelarbeit“ nenne. Mir kommt es darauf an, dass die Kinder lernen, miteinander zu reden, Konflikte zu klären, ein Klassenteam zu werden und dass Schüler*innen lernen, selbstwirksam zu werden. Ich weiß, dass ich damit nicht nur Präventionsarbeit hinsichtlich des Themas Rechtsextremismus mache, sondern auch andere Themen wie z. B. Suchtprävention abdecke. Ich fördere quasi die Resilienz. Ich habe festgestellt, dass ich mit dieser Haltung etwas breiter greifen kann und deshalb unterstütze ich Lehrkräfte dabei, in dieser Richtung mit Klassen zu arbeiten. Im Grunde ist diese Form der Arbeit ja auch eine Demokratiestärkung.“
Herr F.: „In meiner Berufsbiographie habe ich beobachtet, dass ich selber, das Thema betreffend, immer sensibler geworden bin. Ich reagiere sehr viel sensibler in entsprechenden Situationen, wenn es um Ausgrenzung, Diskriminierung usw. geht. Ich habe ein Beispiel aus dem Geschichtsunterricht in der sechsten Klasse, den ich begleitet habe. Das Thema war „Demokratie“ und zum Thema „Antike Demokratie“ haben zwei Schüler als Vorteil herausgearbeitet, dass Frauen nicht wählen durften. Daraus wurde natürlich ein längeres Gespräch, welches ich mit beiden führte. Meine Erfahrung ist, dass wenn man nachhaltig etwas erreichen möchte, es viel Zeit und Aufklärung bedarf. Ich mache aufgrund der verschiedenen Nationalitäten, die wie hier in der Schülerschaft haben, häufig eine Art „Abholarbeit“, jede*r Schüler*in muss an einer anderen Stelle abgeholt werden. Ich schaue sehr individuell, differenziert und sensibel, wo welche Bedarfe bestehen und wo ich welche Veränderungen anstoßen kann.“
Haben rechtspopulistische Parteien versucht Einfluss auf Schüler*innen zu nehmen? Wenn ja, inwiefern?
Frau P.: „Ja, den Einfluss gibt es. Allerdings nicht im schulischen Kontext. Zum Landtagswahlkampf gab es ein Sommerfest der AfD vor Ort und dort wurden z. B. reichlich Bleistifte, Radiergummis etc. verteilt.“
Herr F.: „Meine Arbeit läuft über Beziehungsarbeit und in klassischen Einzelgesprächen bekomme ich schon mit, dass die Schüler*innen von rechten Akteur*innen erreicht werden. Das läuft zum Großteil über die sozialen Medien und über Werbebanner. Solche Sprüche wie „Sommer. Sonne. Remigration.“ fanden einige Schüler*innen ganz witzig und Gespräche darüber gehören hier zu dem Grundrauschen, welches meine Kollegin am Anfang beschrieb. Die Schülerschaft wird definitiv erreicht und einige Schüler*innen haben jetzt gut ausgestattete hellblaue Federmappen.“
Können Sie externe Beratung diesbezüglich wahrnehmen? Wie ist Ihre Vernetzung?
Frau P.: „Ja, wir verfügen über einen ganzen Katalog von externen Angeboten und Einrichtungen, die wir hinzuziehen können. Allerdings sind die Angebote örtlich relativ weit weg, da wir hier sehr ländlich gelegen sind, so dass es finanzielle und logistische Hürden gibt. Sollte es aber dringlich werden, würde ich selbstverständlich Fachkräfte bündeln und schauen, welche Hilfsangebote wir in Anspruch nehmen können.“
Herr F.: „Die Organisation und die Inanspruchnahme dieser Hilfsangebote ist für uns mit enormem Aufwand verbunden. Zusätzlich gab es hier noch niemanden, der so auffällig gewesen wäre, dass wir das Gefühl hatten, tätig werden zu müssen. Sollte das aber der Fall sein, würden wir natürlich eingreifen und uns an entsprechende Stellen wenden.“
Wie findet Erziehungspartnerschaft/Elternarbeit zu dem Thema statt? Ist sie erschwert?
Frau P.: „Es gibt hier in der Schule Mechanismen, die greifen, wenn in der Schülerschaft jemand besonders auffällt. Die Schulleitung muss ein besonderes Vorkommnis melden, das bedeutet, dass die Sorgeberechtigten zum Elterngespräch geladen werden, dann wird eine Sanktion ausgesprochen. Ansonsten ist es Aufgabe der Klassenlehrer*innen, Elterngespräche zu führen. Allerdings scheuen sich manche davor, diese Gespräche zu führen, weil sie genau wissen, dass die Eltern das gleiche Gedankengut hegen wie das Kind. Sie fühlen sich der Auseinandersetzung nicht gewachsen und auf Anfrage unterstützte ich auch in diesen Fällen die Klassenlehrer*innen im Elterngespräch. Im Übrigen gilt in unserer Schule schon lange der Grundsatz: Jedes Kind, jede*r Jugendliche, die*der unsere Schule besucht, ist ein Teil unserer Schulgemeinde, egal woher sie*er kommt. Das Wissen auch die Eltern.“
Gibt es (erfolgreiche) Aktionen, Projekte oder AG´s, die das Thema aufgreifen? Wird das Thema der politischen Bildung aufgegriffen?
Frau P.: „AG´s werden hier nicht sehr gut angenommen. Das, was ich persönlich hinsichtlich des Themas Demokratiestärkung mache, ist, dass ich die Klassensprecher eng begleite. In regelmäßigen Abständen lade ich alle Klassensprecher*innen ein und es findet eine Versammlung statt, in welcher jede*r mit seinen Vorschlägen zu Wort kommt. Im ersten Treffen des Schuljahres nehmen wir Vorschläge für die Wahl der Vertrauenslehrperson an und wählen diese dann demokratisch. Ich versuche die Schülerschaft durch verschiedene kleine und große Angebote in ihrer Selbstwirksamkeit zu stärken und erhoffe mir davon, dass meine Arbeit Früchte tragen wird.“
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Sophie Westerheide (freie Journalistin).
Link zu unserer InterviewreiheIn den kommenden Wochen widmen wir uns intensiv den Herausforderungen, denen die Kinder- und Jugendhilfe angesichts des wachsenden Rechtsextremismus in Deutschland und Europa – sowohl innerhalb als auch außerhalb der Parlamente – gegenübersteht. Wir beleuchten nicht nur die Probleme, sondern diskutieren auch konkrete Strategien im Umgang mit Rechtsextremis-mus sowie wertvolle Praxiserfahrungen aus dem Feld. Link zur Magazinseite „Kinder- und Jugendhilfe im Kontext Rechtsextremismus“
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