Interviewreihe Fachkräftemangel

Im Gespräch – Mitarbeiterin in einer Wohngruppe

M. arbeitet in der stationären Jugendhilfe in Niedersachsen. Sie erzählt von dem täglichen Frust durch den Fachkräftemangel und wie sie es schafft, dennoch eine Balance für sich herzustellen. Ein Interview über die ursprünglichen Wünsche und Hoffnungen zu Beginn ihrer Ausbildung und das Gefühl, den eigenen pädagogischen Ansprüchen aufgrund von Mangel an Personal nicht mehr gerecht werden zu können.

31.01.2024

Interview 3/5 – Mitarbeiterin in einer Wohngruppe (24 Jahre) aus Niedersachsen

Im Gespräch

Erzählen Sie doch mal…

„Ich bin weiblich, 24 Jahre alt und habe eine praxisintegrierte Ausbildung zur Erzieherin absolviert. Mein Anerkennungsjahr habe ich in einer Tagesgruppe nach
§32 SGB VIII gemacht. Ich arbeite in der stationären Jugendhilfe in einer Regelwohngruppe für Mädchen im Alter von 12 bis 18 Jahren. Im Moment betreuen wir aber eher ältere Mädchen im Alter bis 21 Jahren. Mein Arbeitgeber ist ein kleinerer, freier Träger, und ich arbeite dort mit einem Stellenanteil von 30 Stunden, dazu kommen die Nachtbereitschaften.“

Mit welchem Wunsch, welchem Ziel und welchen Zukunftsträumen haben Sie sich für diesen Weg entschieden?

„Den Beruf der Erzieherin habe ich gewählt, da mir die Arbeit mit Menschen bereits in meinem freiwilligen sozialen Jahr durchaus sehr gut gefallen hat. Zudem war es mir wichtig, zukünftig einen Beruf zu finden, bei welchem ich im Alltag aktiv werden kann und nicht ausschließlich im Büro sitze. Soziale Ungleichheiten habe ich bereits während meiner Schulzeit zum Teil als sehr ungerecht empfunden. Meine Wünsche waren es, Kinder, Erwachsene und Eltern in ihrem Alltag zu unterstützen und das Gefühl zu haben, „eine gute Tat“ zu vollbringen. Zu Beginn meiner Ausbildung war es mein Ziel, bei einem öffentlichen Träger und im Jugendamt mitzuwirken.“

Was hat sich davon jetzt schon erfüllt? Wo sind Sie enttäuscht/frustriert worden? Welche Hoffnungen haben Sie weiterhin?

„Es war mein Wunsch, Kinder, Jugendliche und ihre Eltern in ihren Lebens- und Problemlagen zu beraten und begleiten. Dieser hat sich erfüllt. Im Laufe der Zeit habe ich bemerkt, dass ich als Fachkraft auf soziale Ungleichheiten eher wenig Einfluss habe, das empfinde ich als total ernüchternd. Meiner Erfahrung nach hat eine Fachkraft in der stationären Jugendhilfe nicht besonders viel Handlungsspielraum, sondern sie hat ausschließlich die Vorgaben und Anfragen der Jugendämter zu erfüllen. Auch das enttäuscht mich gelegentlich. Frustrierend ist in erster Linie der Fachkräftemangel. Dazu kommt, dass Erzieher*innen nicht an allen Schulen gleich ausgebildet werden, sodass es hier zu wirklich massiven fachlichen Unterschieden kommt. Mein Eindruck ist, dass gut ausgebildetes Personal mittlerweile sehr schwer zu finden ist und ich habe erlebt, dass Kolleg*innen aufgrund der Missstände oder aus Überlastungsgründen selbst kündigen. Ich habe nach wie vor die Hoffnung, dass es wieder ausreichend Fachkräfte geben wird und sich die Lage somit wieder etwas entspannt, in erster Linie für die auf die Hilfe angewiesenen Kinder und Jugendlichen.“

Was sind besondere Stressfaktoren in Ihrer täglichen Arbeit? Spüren Sie den Fachkräftemangel? Wie wirkt er sich auf das Arbeitsklima aus?

„Der größte Stressfaktor ist für mich tatsächlich der Fachkräftemangel. Ich kann meiner eigentlichen pädagogischen Aufgabe nicht wirklich nachkommen, da Personal fehlt. Es werden entweder keine neuen Stellen geschaffen oder vakante Stellen können nicht besetzt werden, somit fangen wir alles mit einem relativ kleinen Team auf. Um eine Auszahlung der Überstunden wird sich seitens des Trägers nicht gekümmert. Die Fälle werden schwieriger und die Bedarfe der Mädchen in unserer Wohngruppe größer, es gibt immer häufiger Anfragen für Bewohnerinnen, die eigentlich einen intensivpädagogischen Bedarf haben. Wir stehen unter Druck, diese Mädchen aufzunehmen, da wir immer weniger Anfragen für unser eigentliches Konzept haben. Mein Team ist sehr gewillt, unser Konzept umzuschreiben, Personal und Geld fehlen jedoch leider. Ich merke in meiner täglichen Arbeit, dass ich dem Bedarf der Klient*innen nicht gerecht werden kann, um zum Beispiel auf traumatische Beziehungserlebnisse einzugehen, da allein der Alltag viel Zeit in Anspruch nimmt. Das frustriert mich sehr, da mein eigener Anspruch ein anderer ist. Die Stimmung in unserem Team ist nach wie vor sehr harmonisch, wir verstehen uns gut und wir sind stets gewillt, uns gegenseitig zu entlasten. Seitens der Leitungsebene fühlen wir uns allerdings etwas im Stich gelassen, da wir auch auf Nachfragen keine Entlastung erhalten.“

Wie erfahren Sie Wertschätzung, Anerkennung und Entlastung durch Ihren Arbeitgeber?

„Wertschätzung und Anerkennung gibt es leider sehr wenig. Es gibt eigentlich das System der Einsatzbereitschaft, sodass wir eine andere Wohngruppe des Trägers erreichen können, um bei Unterbesetzung Verstärkung anzufordern. Die Einsatzbereitschaften fallen jedoch regelmäßig aus, sodass es darauf kein Verlass ist. In meinen Jahren der Mitarbeit habe ich nicht das Gefühl, richtige Anerkennung erfahren zu haben. Selbst in Krisensituationen oder bei persönlichen Belangen fühlte ich mich bisher nicht ernst genommen und habe kein entsprechendes Angebot bekommen. Dennoch bekommt man zwischen Tür und Angel immer mal wieder ein „Danke“, auch in Mitarbeitergesprächen. Von meiner internen Gruppenleitung erfahre ich Lob, diese ist jedoch auch täglich mit mir im Dienst und sieht, was wir leisten.“

Können die Bewohnerinnen mit denen Sie arbeiten mit dem Begriff „Fachkräftemangel“ etwas anfangen? Wenn ja, wie erleben sie die Situation?

„Unsere Klientinnen können mit dem Begriff und der Tatsache des Fachkräftemangels etwas anfangen, da wir sehr transparent damit umgehen. Da einige Dienste nicht aus unserem eigentlichen Team abgedeckt werden können und die Wohngruppe somit auch schon tageweise geschlossen werden musste, wissen die Mädchen über den Personalmangel Bescheid. Die Bewohnerinnen haben Verständnis. Sie merken jedoch zu Recht an, dass die Wohngruppe ihr Zuhause sei. Mit Schließungen entreißen wir den Mädchen ihr Zimmer zeitweise und sie können dagegen nichts tun, das verärgert sie. Dadurch, dass wir häufig alleine im Dienst sind, ist die Hürde, uns bei einer Krise aufzusuchen, sehr hoch. Einige Mädchen berichteten mir, dass sie uns mit ihren persönlichen Krisen nicht noch zusätzlich zu dem täglichen Berg an Arbeit belasten möchten. Ich finde diese Entwicklung dramatisch.“

Welche Strategien verfolgt Ihr Arbeitgeber um dem Fachkräftemangel entgegen zu wirken?

„Mir sind keine wirklichen Strategien bekannt. Stellenausschreibungen laufen ausschließlich über die Homepage und werden wenig gestreut. Neue Fachkräfte werden gewonnen, indem Anerkennungspraktikant*innen eingestellt bzw. übernommen werden. Für neue Mitarbeiter gibt es einen Einstiegsbonus.“

Wie schaffen Sie es für sich eine Work/Life Balance herzustellen?

„Meinen Ausgleich habe ich durch sehr viel Selbstreflexion gefunden. Mittlerweile ist mir bewusst, dass es „nur“ ein Job ist und ich in die Einrichtung fahre, um mein Geld zu verdienen. Ich finde einen guten Ausgleich, indem ich mit meinen Mitmenschen und meiner Familie über erlebte Momente spreche und ich somit für mich eine stabile emotionale Basis gefunden habe. Natürlich unter Wahrung der Anonymität. Es tut mir gut, nicht im gleichen Ort zu leben, in der die Wohngruppe angesiedelt ist, somit habe ich auch in meiner Freizeit einen Abstand zur Arbeit. Der Kontakt zu Freunden und meiner Familie ist ein sehr enger, ich fühle mich dort immer gut aufgehoben.“

Was würde Sie in Ihrer täglichen Arbeit langfristig entlasten? Sie entspannen? Haben Sie Lösungsvorschläge für die Zukunft?

„Für die Zukunft wünsche ich mir, dass die Arbeit im sozialen Bereich mehr Anerkennung bekommt, als in einer Pandemie beklatscht zu werden. Sie sollte in jedem Fall besser vergütet werden. Eine angemessene Entlohnung würde die Soziale Arbeit auch für nachwachsende Generationen in jedem Fall attraktiver machen. Mein Team ist überlastet, weil höhere Systeme überlastet sind usw. Von politischer Seite müssten Entscheidungen getroffen werden, damit mehr Geld fließen kann, dadurch mehr Einrichtungen geschaffen werden können, gerade für Kinder, die man als „Systemsprenger“ bezeichnet. Diese sollten in passenden Einrichtungen mit dafür ausgebildetem Personal untergebracht werden können, um ihren hohen Bedarfen gerecht zu werden. Kurzfristig sollte sich das Thema „Wertschätzung“ seitens des Arbeitgebers deutlich ändern. Würden von Seiten des Arbeitgebers mehr Angebote kommen, hätte das große Auswirkungen auf die Zufriedenheit der Mitarbeiter und diese würden dem Träger treu bleiben. Zufriedene Mitarbeiter*innen kann in Zeiten des Fachkräftemangels doch schließlich jedes Unternehmen gebrauchen!“

Das Interview führte Sophie Westerheide (freie Journalistin).

Unsere fünfteilige Interviewreihe

In den kommenden Wochen werden wir weitere spannende Einblicke in die Herausforderungen von Fachkräften in der Kinder- und Jugendhilfe bieten. Die Interviews werden verschiedene Perspektiven umfassen. Abonnieren Sie unseren Newsletter und folgen Sie uns auf Instagram und verpassen Sie keine Nachrichten zu Entwicklungen und Aktivitäten im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe.

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Redaktion: Sofia Sandmann

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