Schulpolitik
SWK empfiehlt Notmaßnahmen zum Umgang mit dem Lehrkräftemangel und erntet Kritik
In ihrer Stellungnahme empfiehlt die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK) Maßnahmen zum Umgang mit dem akuten Lehrkräftemangel. Sie zielen darauf ab, den Einsatz qualifizierter Lehrkräfte zu verbessern und den Bedarf zu senken. Die GEW reagiert mit deutlicher Kritik und bezeichnet die Vorschläge als einen „Ausdruck der Hilfslosigkeit“. Auch der Verband Bildung und Erziehung gibt den Vorschlägen eine klare Absage.
03.02.2023
Die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK) hat gemeinsam mit der Kultusministerkonferenz (KMK) eine Stellungnahme zum Umgang mit dem akuten Lehrkräftemangel vorgestellt. Der Lehrkräftemangel habe in erheblichem Maße demografische Ursachen und sei Teil des allgemeinen Fachkräftemangels. Es werde künftig kaum möglich sein, genügend Lehrkräfte auszubilden. Die Empfehlungen konzentrieren sich deshalb einerseits darauf, das Potenzial qualifizierter Lehrkräfte auszuschöpfen, etwa Teilzeitarbeit befristet zu begrenzen, Lehrkräfte im Ruhestand einzusetzen und Lehrerinnen und Lehrer von Aufgaben jenseits des Unterrichts zu entlasten. Andererseits hält die SWK es für möglich, den Lehrkräftebedarf unter bestimmten Bedingungen zu senken.
Zentrale Notmaßnahmen zusammengefasst
Die Kommission empfiehlt unter anderem die Ausweitung von Hybridunterricht und Selbstlernzeiten in höheren Klassenstufen sowie den flexiblen Umgang mit Klassengrößen ab der Sekundarstufe I. Die Kommission betont, dass es sich hierbei um Notmaßnahmen handelt, die zeitlich befristet sein müssen. Langfristig seien neue Formen der Unterrichtsorganisation und der Ausbildung sowie Gewinnung von Lehrkräften notwendig.
Teilzeitarbeit begrenzen, Einsatz von Lehrkräften im Ruhestand
Studien zeigen, dass qualifizierte Lehrkräfte für den Lernerfolg unverzichtbar sind. Die SWK empfiehlt daher, dass sich Maßnahmen gegen den Lehrkräftemangel vor allem darauf konzentrieren sollten, die vorhandenen Lehrkräfte bestmöglich einzusetzen. 49 Prozent der Lehrkräfte arbeiten in Teilzeit, hier liegt das größte Potenzial, Ressourcen zu erschließen. Die SWK spricht sich dafür aus, die Möglichkeit zur Teilzeitarbeit zu begrenzen, die Reduktion auf unter 50 Prozent der Arbeitszeit etwa sollte nur aus besonderen Gründen möglich sein, ebenso sollten Sabbaticals befristet eingeschränkt werden. „Selbstverständlich sollte jede Lehrkraft die Möglichkeit haben, ihre Arbeitszeit zu reduzieren, etwa, wenn sie kleine Kinder betreut oder Angehörige pflegt. Eine maßvolle Erhöhung der Arbeitszeit, die vereinbar ist mit Familienverantwortung, hätte jedoch erhebliche Effekte. Viele Bundesländer bemühen sich außerdem darum, Lehrkräfte aus dem Ruhestand in den Schuldienst zurückzuholen. Auch aus Sicht der SWK ist dieser Ansatz lohnenswert und könnte verstärkt werden“, erläutert Prof. Dr. Olaf Köller, wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaft und Mathematik (IPN) und Co-Vorsitzender der SWK.
Lehrkräfte entlasten
Auch die Entlastung der Lehrkräfte von Aufgaben, die nicht direkt mit dem Unterricht zusammenhängen, wie die Betreuung von Fachräumen oder der IT-Infrastruktur, kann dazu beitragen, dem Lehrkräftemangel zu begegnen. Diese Aufgaben kann nicht-pädagogisches Personal übernehmen. Zum anderen können Lehramtsstudierende und weitere Vertretungslehrkräfte in begrenztem Umfang und unter Anleitung Unterrichtsstunden und pädagogische Tätigkeiten wie die Korrektur von Klassenarbeiten übernehmen. „Bei allen Maßnahmen gilt: Die Unterrichtsqualität ist entscheidend für den Lernerfolg der Kinder, daher muss die Verantwortung für den Unterricht bei einer qualifizierten Lehrkraft liegen, die ein Universitätsstudium abgeschlossen und ein Referendariat durchlaufen hat“, so Felicitas Thiel, Professorin für Schulpädagogik und Schulentwicklungsforschung an der Freien Universität Berlin und Co-Vorsitzende der SWK.
Ausschöpfung und Flexibilisierung der Klassengrößen an weiterführenden Schulen
Die Maßnahmen zur Ausschöpfung des Potenzials qualifizierter Lehrkräfte werden allerdings nicht ausreichen. Daher wird es außerdem nötig sein, den Bedarf zu senken. Die Erhöhung von Klassengrößen ist in Deutschland umstritten. Lehrkräfte nehmen große Klassen als Belastung wahr. Gleichzeitig zeigt die Forschung, dass Effekte der Klassengröße auf die Leistungen der Schülerinnen und Schüler eher gering sind. Zudem variieren die Klassengrößen innerhalb von Schulen und Ländern. Vor diesem Hintergrund empfiehlt die SWK, zunächst die definierten Obergrenzen auszuschöpfen. Wenn andere Maßnahmen ausgereizt sind, darf in der Sekundarstufe I auch eine befristete Erhöhung der maximalen Klassenfrequenz nicht ausgeschlossen werden. Grundschulen und Schulen in besonderen Lagen sollten davon ausgenommen sein. Gleichzeitig fordert die SWK mehr Angebote der Gesundheitsförderung für Lehrkräfte, um mit der Belastung im Schulalltag besser umzugehen.
Hybridunterricht und Selbstlernzeiten in der Oberstufe ausweiten
Für die Oberstufe schlägt die SWK vor, hybride Unterrichtsformate und Selbstlernzeiten systematisch einzuführen. „Diese Formen des Unterrichts sollten in einer digitalisierten Welt unabhängig von Mangelsituationen eine zentrale Rolle spielen. Sie setzen allerdings voraus, dass die Schüler:innen vorher Kompetenzen zum Selbstlernen erworben haben und auf hochwertiges Material zurückgreifen können. Beides ist Aufgabe einer qualifizierten Lehrkraft“, führt Olaf Köller aus.
Über diese Stellungnahme mit kurzfristigen Maßnahmen hinaus arbeitet die SWK aktuell an einem Gutachten zur Lehrkräftegewinnung und -qualifizierung. Weitere Informationen zur Ausrichtung des Gutachtens sowie weitere Themen der SWK enthält das Arbeitsprogramm der SWK für die Jahre 2023 und 2024, das im vergangenen Dezember beschlossen wurde.
Die Empfehlungen auf einen Blick
- Erschließung von Beschäftigungsreserven bei qualifizierten Lehrkräften
- Weiterqualifizierung von Gymnasiallehrkräften für andere Schulformen sowie Nachqualifizierung in Mangelfächern
- Entlastung und Unterstützung qualifizierter Lehrkräfte durch Studierende und andere, formal nicht (vollständig) qualifizierte Personen
- Flexibilisierung durch Hybridunterricht in höheren Jahrgangsstufen, Erhöhung der Selbstlernzeiten sowie Anpassung der Klassenfrequenz
- Vorbeugende Maßnahmen zur Gesundheitsförderung
- Bestandsaufnahme, Bewertung und Weiterentwicklung von Modellen des Quer- und Seiteneinstiegs
Die Stellungnahme „Empfehlungen zum Umgang mit dem akuten Lehrkräftemangel“ steht zum Download auf der Webseite der KMK (PDF; 715 KB) bereit.
Deutliche Kritik an den Empfehlungen
In einer Pressemeldung reagiert die Bildungsgewerkschaft GEW auf die „Empfehlungen zum Umgang mit dem akuten Lehrkräftemangel“ mit deutlichen Worten: „Die Kultusministerinnen und -minister haben den Lehrkräftemangel jahrelang kleingerechnet. Die jetzt vorgelegten Maßnahmen sind ein Ausdruck der Hilfslosigkeit“, sagte GEW-Vorsitzende Maike Finnern.
Der Lehrkräftemangel sei dramatisch und Zeugnis systemischen Versagens. „Bildungsforschende, Verbände und auch die GEW weisen seit Jahren auf die Schönrechnerei der KMK hin. Passiert ist: nichts. Jetzt werden Empfehlungen präsentiert, die überwiegend viel zu kurz greifen.“ Dabei brauche es jetzt eine grundsätzliche Debatte darüber, wie Lehrkräfte ausgebildet werden müssen und wie kurz- und langfristig Menschen für den Beruf begeistert werden können. Hier verweise die SWK weitgehend auf ihr demnächst vorzulegendes Gutachten zur Lehrkräftebildung, obwohl die SWK selbst davon ausgeht, dass der Lehrkräftemangel die nächsten 20 Jahre anhalten werde, erklärte Finnern.
Yoga und Achtsamkeit als Ausgleich
Die Lehrerinnen und Lehrer hätten in Krisenzeiten gezeigt, wozu sie fähig sind, fuhr Finnern fort. „Trotz erschwerter Bedingungen durch die Pandemie, trotz Personalmangel haben die Lehrkräfte stets alles getan, um den Kindern und Jugendlichen das Recht auf Bildung zu ermöglichen. Teilweise unter Einsatz ihrer eigenen Gesundheit.“ Nun empfehle die SWK unter anderem die Erhöhung der Unterrichtsverpflichtung, Einschränkungen bei Teilzeitmöglichkeiten und höhere Klassenfrequenzen. Als Ausgleich würden Achtsamkeitstraining und Yoga empfohlen. „Das ist blanker Hohn! Diese Empfehlungen der SWK werden die ohnehin überlasteten Lehrkräfte nur zusätzlich belasten“, so Finnern. Es drohe eine Spirale aus Überlastung durch Lehrkräftemangel und Lehrkräftemangel durch Überlastung, die zu Abwanderung aus dem Beruf führen werde. „Die Politik darf nicht den Fehler machen, den dramatischen Lehrkräftemangel auf dem Rücken der Lehrkräfte und letztlich der Kinder, Jugendlichen und auch der Eltern auszutragen“, forderte die GEW-Chefin. Ohnehin benachteiligte Kinder und Jugendliche würden so nur weiter abgehängt.
Finnern forderte die KMK dazu auf, Verantwortung zu übernehmen: „Die Kultusministerinnen und -minister müssen mit Gewerkschaften und Verbänden an einen Tisch kommen und gemeinsam Kompromisse finden, wie der eklatante Lehrkräftemangel jetzt und in Zukunft bekämpft werden kann.“
Empfehlungen der GEW
Die GEW habe in ihrem 15-Punkte-Programm gegen den Lehrkräftemangel bereits einige kurz- und langfristig wirkende Maßnahmen vorgestellt. Es sei zu begrüßen, dass einige davon von der SWK übernommen worden seien, so Finnern. So zum Beispiel der Vorschlag zur erleichterten Anerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüssen. Die GEW unterstütze auch den Vorschlag, weiteres Personal zur Entlastung und Unterstützung von Lehrkräften einzusetzen. „Zudem ist es wichtig, Seiten- und Quereinsteiger gut und nachhaltig zu qualifizieren“, forderte die GEW-Chefin. „Wir sind gerne dazu bereit, unsere Vorschläge zu diskutieren und miteinander Lösungen gegen den dramatischen Lehrkräftemangel zu finden“, schloss die GEW-Chefin.
Empörung in den Klassenzimmern
Nicht nur die GEW geht auf die Barrikaden: Auch im Netz ist die Verärgerung groß. Einen Einblick gewährt der GEW-Artikel „Die Empörung in den Lehrerzimmern ist riesig“ vom 31. Januar.
Ebenfalls eine Absage erteilt der Verband Bildung und Erziehung (VBE). Der Bundesvorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung, Gerhard Brand, kommentiert:
„Das ist ein Offenbarungseid der Bildungspolitik. Allen, die mit in der Hoffnung auf Besserung seit Monaten und Jahren bis an die Grenzen der Belastbarkeit und darüber hinaus arbeiten, wird jede Vision geraubt. Es wird nicht besser, es wird nur immer schlimmer. Größere Klassen, mehr unterrichten, länger unterrichten, an andere Orte abgeordnet werden: So stellt sich die KMK die Lösung des Lehrkräftemangels vor. Mit diesen Maßnahmen wird das Versagen der Politik auf dem Rücken der Lehrkräfte ausgetragen. Dem erteilen wir eine klare Absage!“
Das komplette Statement steht auf der Webseite des VBE zum Nachlesen bereit. Das Fazit zu den Maßnahmen lautet:
„Die Politik muss sich entscheiden: Soll der Lehrkräftemangel ernsthaft angegangen werden? Dann braucht es eine deutliche Verbesserung der Arbeitsbedingungen, die Möglichkeit, an Fortbildungen teilzunehmen und eine spürbare Entlastung von Verwaltungsaufgaben. Oder die Politik setzt weiter auf das Kaschieren ihrer Fehlleistungen, indem die sowieso schon am Limit gehenden Kollegien jetzt auch noch mehr und länger arbeiten gehen sollen. Das wird wie ein Katalysator für eine weitere Verschlechterung der Personaldecke sorgen.“
Quelle: Sekretariat der Kultusministerkonferenz vom 27.01.2023 und Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) vom 27.01.2023
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