Bildungsforschung
Studie: Ausbau von gemeinsamem Unterricht kommt nicht voran
Gemeinsamer Unterricht von Kindern und Jugendlichen mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf ist in Deutschland noch oft die Ausnahme, vor allem an weiterführenden Schulen. Dies zeigt aktuell eine Studie der Bertelsmann Stiftung in Zusammenarbeit mit Bildungsforscher Klaus Klemm. Ergebnis ist, dass der Ausbau des sogenannten inklusiven Unterrichts, zu dem sich Deutschland in internationalen Abkommen verpflichtet hat, insbesondere an weiterführenden Schulen nur langsam voran kommt.
01.12.2010
Im Bundesdurchschnitt gehen nur knapp 15 Prozent der Schüler mit Förderbedarf (ohne Schwerpunkt geistige Entwicklung) in der Sekundarstufe I auf eine Regelschule - die große Mehrheit besucht separate Förderschulen.
Klemm kommt zu folgendem Fazit: Der Ausbau des so genannten inklusiven Unterrichts, zu dem sich Deutschland in internationalen Abkommen verpflichtet hat, kommt insbesondere an weiterführenden Schulen nur langsam voran.
Der Untersuchung zufolge hatten 480.000 Schüler im Jahr 2009 einen sonderpädagogischen Förderbedarf - das sind sechs Prozent aller Schüler in Deutschland. Hinzu kamen rund 85.000 Kinder in Kindertageseinrichtungen. In den einzelnen Bundesländern fällt der Anteil der Kinder und Jugendlichen mit einem bescheinigten Förderbedarf allerdings bemerkenswert unterschiedlich aus - die Spannweite reicht von 4,5 Prozent in Rheinland-Pfalz bis hin zu 11,7 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern.
Die inklusive Bildung der Kinder endet meist nach der Kita: Während in Kindertageseinrichtungen 60 Prozent der Kinder mit Förderbedarf gemeinsam mit anderen spielen und lernen, sind es in der Grundschule nur noch 34 Prozent. Beim Übergang in die weiterführende Schule müssen dann viele weitere Kinder aus Mangel an inklusiven Bildungsangeboten an eine Förderschule wechseln. Dr. Jörg Dräger, für Bildung zuständiges Vorstandsmitglied der Bertelsmann Stiftung, fordert daher: "Deutlich mehr weiterführende Schulen müssen inklusiv unterrichten - es kann nicht sein, dass Kinder mit Förderbedarf bis zum Ende der Grundschule gemeinsam mit anderen lernen, dann aber auf getrennte Förderschulen gehen müssen."
Dass der Ausbau des gemeinsamen Unterrichts auch an Schulen der Sekundarstufe sehr wohl möglich ist, aber regional sehr unterschiedlich voran kommt, zeigt der Bundesländervergleich: In Schleswig-Holstein können immerhin über 40 Prozent der Schüler mit Förderbedarf weiterführende Regelschulen besuchen, in Sachsen-Anhalt, Nordrhein-Westfalen und Hessen sind es dagegen weniger als zehn Prozent. Im Grundschulbereich erhalten in Bremen bereits 90 Prozent aller Kinder inklusiven Unterricht, in Hamburg nur 13 Prozent. Betrachtet man einzelne Förderschwerpunkte, verstärkt sich dieses Bild noch. So besuchen in Bremen über 60 Prozent der Schüler mit Förderschwerpunkt Lernen inklusiven Unterricht, in Hamburg, Niedersachsen, Sachsen und Sachsen-Anhalt liegt der Inklusionsanteil bei unter fünf Prozent.
Dabei sind die Lernerfolge im getrennten Unterricht offenbar nur unzureichend: Über 76 Prozent der Förderschüler erreichen keinen Hauptschulabschluss, mehr als zwei Drittel von ihnen stammen aus dem Förderschwerpunkt Lernen. Zwar können die Jugendlichen spezielle Förderschulabschlüsse erwerben. Ob ihnen das bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz weiterhilft, ist aber fraglich. Dräger fordert daher: "Notwendig ist der konsequente Umbau in Richtung inklusive Schule." Vom gemeinsamen Unterricht profitierten nicht nur die schwächeren Schüler: "Wissenschaftliche Untersuchungen zum Förderschwerpunkt Lernen zeigen, dass gute Schüler in der Leistung nicht abfallen, aber ihre sozialen Kompetenzen stärken."
Dräger mahnt, den Ausbau inklusiver Bildungsangebote jetzt in allen Bundesländern entschieden voran zu treiben: "Politisches Ziel in Deutschland ist es, die Zahl der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss zu halbieren. Das geht nur, wenn wir das Förderschulsystem reformieren, denn über die Hälfte dieser Jugendlichen kommt aus Förderschulen. Der nötige Umbau zieht für alle Schulen Veränderungen nach sich und kostet Geld, er wird sich für unsere Gesellschaft aber schnell auszahlen."
Mehr Informationen unter:
http://www.bertelsmann-stiftung.de/bst/de/media/xcms_bst_dms_32811_32812_2.pdf
Herausgeber: Bertelsmann Stiftung
Termine zum Thema
-
08.07.2024
Qualifizierung "Inklusion in der Jugendarbeit"
-
12.09.2024
Kinder und Jugendliche mit Behinderung in der Kinder- und Jugendhilfe – Herausforderungen an einen inklusiven Kinderschutz
-
16.10.2024
Inklusive Organisationsentwicklung in der stationären Erziehungshilfe Impulse zur inklusiven Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe
-
24.10.2024
Die Perspektive eines öffentlichen Trägers Impulse zur inklusiven Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe
-
29.10.2024
„Mir fehlen die Worte“ – Schwierige Sachverhalte mit Kindern in der Kinder- und Jugendhilfe thematisieren
Materialien zum Thema
-
Stellungnahme / Diskussionspapier
Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Strukturen gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen - Stellungnahme zum Referent*innenentwurf des BMFSFJ vom 28. März 2024
-
Broschüre
Listen to us! Einblicke in die „Pflegekinderhilfe“ Hearing mit jungen Menschen, Eltern, Pflegeeltern und Fachpolitiker*innen im Deutschen Bundestag
-
Anleitung / Arbeitshilfe
Seminarkonzept – Kinderrechtebasierte Demokratiebildung Konzept, Unterrichtsimpulse und Materialien zur Verankerung kinderrechtebasierter Demokratiebildung in der fachschulischen Ausbildung pädagogischer Fachkräfte
-
Expertise / Gutachten
JAdigital-Expertise: Stand und Entwicklung der Digitalisierung in der Kinder- und Jugendarbeit/ Kinder- und Jugendbildung
-
Bericht / Dokumentation
Videos mit Vorträgen zur Thematik "Digitalisierung und Inklusion in der Kinder- und Jugendhilfe"
Projekte zum Thema
-
Türkische Gemeinde in Baden-Württemberg e. V.
Fugees-Akademie
-
Inklusion jetzt! Entwicklung von Konzepten für die Praxis
-
Forschungsverbund Freizeitenevaluation (EH Ludwigsburg / TH Köln)
Panelstudie zu Freizeiten und Jugendbegegnungen
-
Landesverband der Schulfördervereine in Hessen e.V.
Chancenpatenschaften - LSFV Hessen e.V.
-
JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis
PADIGI – Partizipative Medienbildung für Menschen mit geistiger Behinderung